Mehr tot als lebendig

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Mutter stand, die Hand auf meiner Schulter, schweigend da, unfähig, sich zu bewegen. Die Männer waren bewaffnet und hätten sich den Eintritt erzwingen können, aber sie rührten sich nicht und baten nur mit den Augen. Der Verwundete schien mehr tot als lebendig. „Kommt rein", sagte Mutter schließlich. Die Soldaten trugen ihren Kameraden ins Haus und legten ihn auf mein Bett.

Keiner von ihnen sprach Deutsch. Mutter versuchte es mit Französisch, und in dieser Sprache konnte sich einer der Männer einigermaßen verständigen. Bevor Mutter sich des Verwundeten annahm, sagte sie zu mir: „Die Finger der beiden sind ganz steif. Zieh ihnen die Jacken und die Stiefel aus und bring einen Eimer Schnee herein." Kurz darauf rieb ich ihnen die blau gefrorenen Füße mit Schnee ab.

Der Untersetzte, Dunkelhaarige, erfuhren wir, war Jim. Sein Freund, groß und schlank, hieß Robin. Harry, der Verwundete, schlief jetzt auf meinem Bett, mit einem Gesicht so weiß wie draußen der Schnee. Sie hatten ihre Einheit verloren und irrten seit drei Tagen im Wald umher, auf der Suche nach den Amerikanern, auf der Hut vor den Deutschen. Sie waren unrasiert, sahen aber, ohne ihre schweren Mäntel, trotzdem aus wie große Jungen. Und so behandelte Mutter sie auch.

„Geh, hol Hermann!", sagte Mutter zu mir. „Und bring Kartoffeln mit." Das war eine einschneidende Änderung in unserem Weihnachtsprogramm. Hermann war ein fetter Hahn (benannt nach Hermann Göring, für den Mutter nicht viel übrig hatte), den wir seit Wochen mästeten, in der Hoffnung, Vater werde Weihnachten zu Hause sein. Und als uns vor einigen Stunden klar geworden war, dass er nicht kommen würde, hatte Mutter gemeint, Hermann solle noch ein paar Tage am Leben bleiben – für den Fall, dass Vater zu Neujahr kam. Nun hatte sie sich anders besonnen. Hermann sollte eine dringende Aufgabe erfüllen.

Während Jim und ich in der Küche halfen, kümmerte sich Robin um Harry, der einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen hatte und fast verblutet war. Mutter riss zum Verbinden der Wunde ein Laken in Streifen.

Bald zog der verlockende Duft von gebratenem Hahn durch das Zimmer. Ich deckte gerade den Tisch, als es wieder klopfte. In der Erwartung, noch mehr verirrte Amerikaner zu sehen, öffnete ich ohne Zögern die Tür. Draußen standen vier Männer in Uniformen, die mir nach fünf Jahren Krieg wohlvertraut waren: deutsche Soldaten – unsere!

Eine Nacht des Friedens mitten im KriegWhere stories live. Discover now