Kapitel 12

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Die ganze Zeit während Toya versuchte Aika vom Sprechen abzuhalten, spürte er den schon schmerzhaften Sog der Magie in seinem Körper. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen, versuchte das Unvermeidliche zu verhindern, obwohl er wusste, dass es hoffnungslos war.

Schon seit etwa zwei Monaten spürte Toya die stetige Veränderung in Aikas Herzen. Und er hatte gewusst, was das für ihn bedeutete, hatte es lange kommen sehen und hätte eigentlich darauf vorbereitet sein müssen. Er hätte es ihr sagen, sich von ihr verabschieden können. Stattdessen hatte er es einfach verdrängt und nun die Quittung dafür bekommen.

Selbst wenn sie es ihm nicht so offen gesagt hätte, wäre er über Kurz oder Lang wieder in seiner eigenen trostlosen Dimension gelandet, denn ohne einen Herzenswunsch wurde er eben nicht gebraucht. Das dachte er zumindest. Bis ihm die letzten Worte, die er von Aika hatte hören können wieder ins Gedächtnis kamen, als hätte man sie ihm eingeprügelt.

Ich liebe dich! Das hatte sie zu ihm gesagt. Oder? Doch, ganz sicher! Sie hatte es sogar wiederholt, weil er nicht dazu in der Lage gewesen war zu reagieren. Und dann hatte er sich vor ihren Augen einfach in Luft aufgelöst. Nach diesen Worten, nach denen er sich schon so lange gesehnt hatte und auf die er nicht einmal die Chance gehabt hatte ihr zu antworten.

Er konnte sich ihren Schmerz, den sie empfinden musste gar nicht vorstellen! Und zum ersten Mal wünschte er sich inständig, Aika hätte ihm die menschliche Gefühlswelt nicht so ausführlich erklärt. Hätte sie ihm nicht beigebracht, dass man sich nicht darüber freute, wenn ein geliebter Mensch litt, dann wäre er jetzt bei dem Gedanken an ihren seelischen Schmerz bloß froh gewesen, überhaupt eine emotionale Regung von ihr zu bekommen, so wie früher, als er sie immer von Weitem beobachtet hatte.

Aber gerade in diesem Moment musste er plötzlich am eigenen Leib erfahren, was Schmerz überhaupt bedeutete, wie es sich anfühlte, kaum atmen zu können, weil einem das Herz in tausend Scherben zerbrach und man etwas hinterhertrauerte, das man niemals wieder würde haben können.

Eigentlich hätte er sich über die gemeinsam verbrachte Zeit mit ihr freuen müssen, hätte die Erinnerungen daran schön und in der Einsamkeit seiner magischen Behausung tröstlich finden sollen. Stattdessen empfand er bloß Verlust. Kummer. Qual. Und darüber hinaus spürte er ebenso deutlich, was ihn der lange Aufenthalt in der Menschenwelt noch alles gekostet hatte. Der Zauberer, denn er war nun nicht mehr Toya und würde es auch niemals wieder sein, fühlte sich extrem geschwächt. Zu lange hatte er sich von keinen starken Erinnerungen mehr genährt und seine Magie schwand. Er selbst würde bald verblassen und in Nichts aufgehen.

Aber das war ihm nur recht so! Nach all der Zeit mit seiner Heldin würde er bestimmt nie wieder einem anderen Wesen die Erinnerungen nehmen. Zum einen hatte sie diesen Gedanken schon von Anfang an abscheulich gefunden und zum anderen hatte er selbst seine eigenen Erinnerungen zu schätzen gelernt und ihre Kraft begriffen. Er schwor sich, selbst wenn er vergehen würde, so würden es seine Erinnerungen an seine starke Kämpferin niemals.

Alleine die Tatsache, dass sie ihn wirklich liebte hätte er sich selbst in seinen kühnsten Träumen niemals ausgemalt. Und nun hatte sie es ganz klar und deutlich ausgesprochen, ihm ihr Herz offengelegt. Um nichts in dieser oder auch in jener Welt hätte der Zauberer das verpassen mögen.

Plötzlich durchströmte ihn Angst. Er erinnerte sich daran, was sie ihm offenbart hatte. Ihren sehnlichsten Wunsch. Ich wollte geliebt werden. Das hatte sie gesagt. Ich war einsam, aber jetzt habe ich dich! Eiskalt lief es ihm den Rücken herunter. Ich liebe dich! Immer wieder hallte das Geständnis durch seinen Kopf.

Was wenn Aikas Herzenswunsch sich wieder verzweifelt erneuern würde, weil er verschwunden war? Was wenn sie ihn ohne über die Konsequenzen nachzudenken zu sich zurück wünschte? Denn das war es, was sie ihm hatte klar machen wollen. Er war ihr Wunsch. Und dieser war schließlich nur dann erfüllt, wenn er selbst auch anwesend war. Der Zauberer geriet zunehmend in Panik.

Dieses Mal würde sie sich ganz sicher nicht weigern, ihm ihren Wunsch preiszugeben. Genau genommen hatte sie das ja sogar schon. Sie würde ihn bitten bei ihr zu bleiben und das würde natürlich auch in ihm ein heftiges Verlangen auslösen. Aber er würde ihre Erinnerungen dafür nehmen müssen. Die Erinnerungen, die er immer am meisten begehrt hatte, noch während er seine Heldin beobachtet hatte, würden endlich ihm gehören. Obwohl er sie jetzt überhaupt nicht mehr wollte. Es würde ihn umbringen mit ansehen zu müssen, wie seine Kämpferin ihn vergaß, auch wenn er durch ihren Wunsch dann an ihrer Seite wäre, so wäre das doch nicht mehr dasselbe. Und er wollte sie.

Der Magier wollte seine Aika zurück, wollte wieder mit ihr ausgehen und sie dabei vielleicht auch endlich küssen können, wenn er für andere nicht mehr unsichtbar war. Aber das war ihm unmöglich. Sein Schicksal war vorherbestimmt. Seine Magie war für ihn selbst noch nie besonders nützlich gewesen.

Er konnte sich an ein Gespräch erinnern, das er diesbezüglich mal mit Aika geführt hatte. Damals am Strand bei ihrem allerersten Date bei dem er sie den ganzen Tag nicht hatte aus den Augen lassen können. Er musste lächeln, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. Und ganz plötzlich durchzuckte es ihn wie ein Blitz.

Woher willst du das denn wissen, wenn du es nicht probierst?

Das hatte sie ihn gefragt. Und gerade fragte er sich selbst genau dasselbe. Die Wahrheit war, er wusste es nicht. Er hatte es nie versucht, nie auch nur in Erwägung gezogen. Naja, er hatte auch nie einen echten Anreiz gehabt. Jetzt hatte er einen. Und alles was passieren könnte, berührte ihn nicht mehr und ließ ihn auch nicht mehr unsicher werden. Auch wenn er es nicht versuchte, würde er sterben, also war das Risiko bei dem Versuch draufzugehen sogar noch ungefährlicher für ihn, als der selbst bestimmte Selbstmord durch die Entscheidung keine Erinnerungen mehr in sich aufzunehmen.

Der Zauberer bündelte all seine verbleibenden magischen Kräfte und fokussierte sie auf seine eigenen Erinnerungen. Danach konzentrierte er sich nur noch auf seinen Wunsch: Er wollte als normaler Mensch in ihre Welt, um bis zu seinem Tod an ihrer Seite zu sein.

Sein Mädchen liebte ihn und sie brauchte ihn, denn er war ihr Wunsch. Und ihre Erinnerungen waren die einzigen, die er jemals für beschützenswert gehalten hatte. Ganz sicher würde er nicht zulassen, dass Aika sie für ihn opferte.

Ein helles Licht erstrahlte und umhüllte gleißend seinen gesamten Körper. Es strahlte so hell, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Vor seinem inneren Auge sah er dann alle seine Erinnerungen wie im Film im Schnelldurchlauf an ihm vorüberziehen. Bedeutete das etwa, dass er doch sterben würde? Er begann sich schwach zu fühlen, ausgelaugt und bewegungsunfähig. Und dann fiel er.

Der Magier fiel in einen bodenlosen Abgrund, eine hell leuchtende Leere, immer weiter, immer weiter, bis er schließlich unvermittelt und ohne Vorwarnung hart aufschlug und das Bewusstsein verlor. 

Another Nameless Dandelion StoryWhere stories live. Discover now