»Sie haben meine Mutter getötet!«, schrie er auf einmal zurück. Seine Worte hallten laut von den kahlen Blöcken wider, verdoppelten und verdreifachten sich, bis sie irgendwann verklungen waren.

Die Stille, die sich über uns legte, war erdrückend.

Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mich damit erschreckt hatte. Stattdessen versuchte ich mich zu beruhigen und auf andere Art und Weise zu ihm vorzudringen.

»Ich weiß und das tut mir unglaublich leid«, brachte ich schließlich ruhiger hervor. Ich lief zu ihm und nahm seine Hände in meine. Mit meinen Fingerspitzen fuhr ich über die Innenflächen, an denen ich immer noch die Schwielen der harten Arbeit spüren konnte, die er in Zone Drei jahrelang verrichtet hatte, um das Geld für die Eignungsprüfung zusammenzukratzen. »Aber diejenigen, die für den Tod deiner Familie verantwortlich sind, haben schon längst ihre Strafe erhalten. Die meisten Rebellen sind damals umgekommen, nur wenigen gelang die Flucht.«

Niks Miene war noch immer distanziert. »Vielleicht. Vielleicht sind sie schon tot. Aber ihre Ansichten leben in den anderen weiter. Dort draußen sind hunderttausende, die nicht zögern würden, uns umzubringen! Jedenfalls haben sie nicht gezögert, als sie auf meine Mutter gezielt haben.«

Die Erinnerungen daran trieb Nik den Schmerz des Verlustes ins Gesicht. Das erste Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, sah ich mit an, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.
Kein Anflug des typischen Grinsens, kein Funken Wärme in seinem Blick. Von einem Moment auf den anderen hatte er sich völlig verändert.

Es wäre wohl das richtige gewesen, ihn in die Arme zu schließen und ihm zuzustimmen. Dennoch konnte ich die Worte nicht zurückhalten.

»Ich weiß, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert und ich habe auch jahrelang geglaubt, dass die Rebellen für den Tod meines Vaters verantwortlich waren. Und dennoch habe ich dort unten ein Mädchen sterben sehen.« Diesmal war ich diejenige, die ihn bei den Schultern packte, um sicherzugehen, dass er auch verstand, was ich sagte. »Sie sah mir so ähnlich, dass es war, als hätte ich in einen Spiegel geschaut, Nik. Sie hat mich angefleht, ihr zu helfen und ich konnte es nicht. Ich konnte überhaupt nichts dagegen ausrichten, was ihr widerfuhr. Sie hat geschrien, mit den Händen an das Glas getrommelt, nach Sauerstoff geschnappt. Ich habe sie sterben sehen und ich konnte den Tod nicht aufhalten. Du kannst mir nicht erzählen, dass ein Mensch – egal wer er ist – es verdient hat, so zu sterben! Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn sich das Gift in deinem Körper festsetzt wie ein widerlicher Parasit; wie die Luft aus deiner Lunge gezogen wird, sobald du einatmest, und sich stattdessen mit dichtem Nebel füllt. Es tut weh und du wirst dieses Gefühl nicht mehr ganz los! Ich kenne dich Nik, so bist du nicht. Dich beschäftigt es, wenn andere leiden ...«

Eindringlich sah ich ihn an, meine Finger krallten sich an dem Stoff seiner Jacke fest und zogen leicht daran.

Als Nik mich anstarrte, glaubte ich, einen Funken Verständnis aufblitzen zu sehen, doch er war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Er hob die Hände, umfasste ohne Mühe meine Handgelenke und zog meine verkrampften Finger von sich.

»Dann kennst du mich wohl nicht gut genug«, sagte er tonlos und ließ meine Arme los, die schwach zurück an meine Seite fielen. Dann entfernte er sich rückwärts einige Schritte von mir und ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur einen körperlichen Abstand zwischen uns brachte. »Ich hoffe, du kommst zur Vernunft, Clove.«

Seine Worte trafen mich direkt ins Herz, sein Verhalten brachte es beinahe zum Bersten.

Ich kämpfte tapfer die Tränen zurück und presste meine Lippen aufeinander, damit er das Beben nicht sehen konnte – ihm entging schließlich nichts. »Ich kann es nicht ändern, Nik. Ich kann das Gesehene nicht einfach wie einen Film zurückspulen und ihn löschen. Ich hätte nur erwartet, dass du es verstehen würdest.«

Captured | Band 1Where stories live. Discover now