4.Kapitel

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•L A S S E•

Abends sitze ich wieder alleine an meinem Schreibtisch und zeichne.
Über meine Kopfhörer dringt melodisch, aber mit hoher Lautstärke, Klaviermusik in meine Gehörgänge und versucht vergeblich das schreien meiner Eltern zu übertönen.

Sie streiten sich wieder, oder immernoch.
Ich glaube sie brauchen mittlerweile keine neuen Gründe mehr um sauer aufeinander zu sein.
Im einen Moment sind sie wieder dieses erschreckend normal wirkende, süße Ehepaar und im nächsten Moment schreien sie sich wieder grundlos an.
Es kann jede Kleinigkeit sein.
Man könnte fast ein Schleudertrauma bekommen, von ihrem dauernden hin und her.

Am schlimmsten ist es, wenn ich daran Schuld bin, dass sie streiten. Wenn ich ausversehen etwas falsches sage. Es ist, als würde man auf einem Mienenfeld treten, wenn man versucht zu dritt eine Konversation zu führen.
Der Hauptgrund ihrer Streitereien ist Geld.
Mein Vater hat seinen Job verloren, als seine Firma Bankrott gegangen ist und er hat seitdem nichts neues gefunden. Meine Mutter, hat nie einen Abschluss gemacht und kann nicht gut Deutsch sprechen und versucht jetzt mit ihrem Job als Kantinenarbeiterin in der Grundschule unsere gesamte Familie zu ernähren.
Mein Vater ist frustriert und meine Mutter erschöpft und das Ergebnis daraus ist ständiger Streit um alles und nichts.

Ich versuche meistens dem zu entfliehen, in dem ich wie jetzt in meinem Zimmer sitze und mit Musik ihre Stimmen übertöne.

Eigentlich wollte ich nur ein wenig vor mich hin kritzeln, aber irgendwie ist aus dem Bild Valentin geworden.
Und jetzt schaut er mich von dem Blatt aus erwartungsvoll an.
Ich muss mir selber eingestehen, dass er mich heute total geflasht hat.
Er ist mir ja schon an der Pipe besonders aufgefallen, aber später beim Eis essen war dieses Gefühl noch viel intensiver.
Er ist irgendwie auf seine Weise sehr ruhig und zurückhaltend, aber in den Momenten wo man am wenigsten damit rechnet macht er unglaublich süße oder lustige Kommentare.

Man merkt, dass er schnell durch meine offensichtlichen Flirtversuche verunsichert wird, daran das er dann immer auf seine Finger schaut und mit seinen Ringen spielt, während er ganz leicht und schüchtern lächelt.
Es ist einfach ein extrem süßes Lächeln.

Ich weiß nur, dass ich ihn unbedingt weiter kennenlernen möchte.

Mir fällt wieder dein T-Shirt von KUMMER-Kiox ein und ich gebe den Namen bei YouTube ein und erhalte eine Playlist mit allen Liedern von Kummer als Antwort.
Ich tippe auf eins mit dem Titel „Bei dir" und versinke in der Musik und Gedanken an Valentin.

Fast schon automatisch wandern meine Finger in meine Hosentasche und ziehen einen Zettel hervor, auf dem seine Adresse steht.
Den Zettel hat er mir zugesteckt, als wir uns zum Abschied umarmt haben.

Es ist garnicht so weit weg. Kurz überlege ich, aber dann  schnappe ich mir schnell meine Jacke, die ich achtlos auf mein Bett geworfen habe und mein Portemonee und mache mich auf den Weg ins Wohnzimmer, welches gleichzeitig als Küche fungiert, wo meine Eltern sich mittlerweile beruhigt haben und in den Armen liegen.
Man fragt sich nur wie lange es dauert bis sie wieder streiten.

Auf Zehenspitzen schleiche ich an der Wand entlang und in den Flur, wobei ich zum Glück nicht gesehen werde.
Hastig ziehe ich meine Schuhe an und schlüpfe aus der Tür, bevor ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg durch die Milde Abendluft zu Valentin mache.

Auf dem Weg halte ich schnell noch bei einem Kiosk und kaufe zwei Flaschen Weißwein.
Ich hoffe er mag Weißwein.

...

Ich überprüfe mit einem letzten Blick noch einmal die Hausnummer und Straße, bevor ich auf das Klingelschild mit dem Namen Nitschke drücke.
Ein leicht müde wirkender Valentin öffnet mir die Tür. Er trägt eine weite Jogginghose und ein großes T-Shirt was aussieht, als wäre es selber gebatikt worden.
Seine Haare sind durcheinander und stehen in alle Richtungen ab, was nicht besser dadurch wird, das er mit der Hand durch sie fährt und sie noch mehr verwuschelt.

Auf einmal überkommen mich tausend Gedanken wie unangebracht es ist vor seiner Tür zu stehen.
Ich kenne ihn erst seit heute und nicht mal richtig. Ich stehe einfach so und 22:13 Uhr vor seiner Tür, ohne mich vorher anzumelden oder ihn zu fragen ob er überhaupt Lust hat mich zu sehen.
Wie verzweifelt muss ich bitte wirken, da wir uns erst vor wenigen Stunden voneinander verabschiedet haben.

Doch dann lächelt er, als er mich sieht und das lässt mich wieder alles vergessen.

„Hey", murmelt er mit leicht kratziger Stimme, die aber irgendwie extrem sexy klingt.
„Magst du rein kommen?"

„Hey", erwidere ich und lächle ebenfalls.
„Sorry, dass ich einfach so unangekündigt vorbeischaue, aber irgendwie musste ich die ganze Zeit an dich denken."

Da ist es wieder. Das süße, schüchterne Lächeln während er verlegen auf seine Hände schaut.

„Jedenfalls wollte ich dich fragen ob du Bock hättest mit mir ein bisschen rumzulaufen oder so. Ich hab uns ein wenig Weißwein gekauft. Ich hoffe du magst lieblich und weiß."

„Wein klingt gut, aber eigentlich trinke ich eher trocken und rot."

Verdammt. Warum habe ich keinen Rotwein gekauft?

„Oh", sage ich einfach nur.

„Ich trinke aber trotzdem gerne einen Weißwein mit dir.", sagt er und grinst. „Ich hol mir nur schnell einen Pulli."

Er geht kurz rein und ich habe einen Moment um Luft zu holen.
Schnell schiebe ich mein Fahrrad, welches noch auf dem Gehweg steht zu einem nahegelegenen Fahrradständer und schließe es ab.
Kurz hört man wie Valentin jemandem, vermutlich seinen Eltern, etwas zuruft.
Ich komme nicht drumherum zu bemerken, wie wunderschön und vorallem teuer diese Wohnung aussieht.
Meine Familie könnte nicht einmal davon träumen in soetwas zu leben.

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann steht Valentin auch schon wieder in der Tür.
Er trägt jetzt einen großen blauen Nike Pullover und ist wohl kurz mit einer Bürste durch seine Haare gegangen.

Er tritt einen Schritt nach vorne um die Tür hinter sich zu schließen und steht plötzlich nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, so dass ich seinen Atem spüren kann.
Erst blicke ich ihm direkt in seine intensiv blauen Augen, dann wandert mein Blick zu seinen Lippen.

„Also dann", murmelt er und wendet sein Gesicht von mir ab.
„Lass uns gehen."

Er nimmt meine Hand und zieht mich die Stufen runter zur Straße und plötzlich wirkt er überhaupt nicht mehr so schüchtern und verunsichert, wie ich eigentlich dachte.

paper lover (boyxboy)Where stories live. Discover now