Kapitel 44 - Erfüllung

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Vereint lehnten Oscar und ich mich auf sie, drückten sie auf den Boden, hinderten sie daran, sich zu bewegen. Dabei konzentrierte ich mich auf die Magie, die in den Stein floss und ihn ausfüllte.

»NEEEIIIIINNNNNNN!« Ihr Kreischen schrillte in meinen Ohren. Plötzlich teilte es sich in mehrere Stimmen auf, und ein ganzer Chor dröhnte durch die Grotte. Die Felswände erzitterten unter dem Lärm. Kleine Steinchen lösten sich von der Decke, die von Staub begleitet zu Boden und ins Wasser rieselten.

Ein letztes Flackern bäumte sich in mir auf. Ich schickte es zusammen mit Mackenzies nach draußen, bis es erlosch und die Stimmen endlich zum Verstummen brachte. Die gequälten Laute hallten noch lange zwischen den Wänden nach.

Ein Knirschen. Dann explodierte der blau glimmende Stein. Er sandte ein grelles Licht in seine Umgebung aus, blendete uns. Winzige abertausende Splitter stoben durch die Luft und prasselten auf uns herab. Schützend hielt ich mir die Arme vor die Augen.

Als sich alles gelegt hatte, war es auf einmal gespenstisch still. Die altbekannten Lichtpartikel stiegen vom See auf. Sie schienen mit dem Mond zu verschmelzen, der seinen höchsten Punkt erreicht hatte und sich vom Krater entfernte. Er zog seine Bahn weiter, wie schon Jahrhunderte zuvor. Der Zauber war endgültig vorbei.

Neben mir regte sich etwas. Ich riss meinen Blick vom Mond los und beobachtete wie Zoey langsam zu sich kam. Sie blinzelte in Oscars und mein Gesicht. »Ist es vorbei?« Träge wischte sie sich den Staub und die winzigen Steinsplitter aus den Haaren und von der Kleidung.

Erleichtert holte ich Luft, die ich unbewusst angehalten hatte. Ich musste lachen, Freudentränen traten mir aus den Augenwinkeln. Überschwänglich zerrte ich Zoey in eine Umarmung. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle, vermischte sich mit meinem Lachen.

Auch Oscar stimmte in den Freudenausbruch ein. Er legte seine starken Arme um Zoey und mich. »Du hast es geschafft!«, stieß er heiser in meine Haare.

»Wirklich?« Zoey befreite sich aus der Umklammerung und sah mich überrascht aber auch bewundernd an. Ihr war die Verblüffung deutlich anzusehen.

»Wir haben es geschafft. Zusammen«, sagte ich. »Der Stein ist ein für alle Mal zerstört. Mackenzie kann uns nichts mehr anhaben.«

Zoey rieb sich die Augen. »Oh, Mann ... Ich hab gar nichts davon mitbekommen! Das Letzte, woran ich mich noch erinnere ist, dass wir unsere Kräfte heraufbeschworen haben, und ihr mich dann so komisch angestarrt habt«, murmelte sie peinlich berührt.

»Du konntest nichts dafür. Mackenzie hatte die Kontrolle über deinen Körper«, erwiderte ich.

Oscar drängte sich zwischen uns. »Leute, spürt ihr das auch?« Er klang ziemlich beunruhigt, sich hektisch umblickend stand er vor uns.

»Was denn?«, fragte ich besorgt.

»Es fühlt sich an, als ob die Erde bebt.«

Da nahm ich es auch wahr. Der Boden zu unseren Füßen erzitterte, schwankte sogar leicht. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, und kribbelte bis in meine Glieder. Erschrocken sahen wir uns an, Zoey hatte es ebenfalls bemerkt. »Raus hier!«, brüllte ich gegen den Lärm an, der das Herabstürzen der ersten Bruchstücke begleitete.

Wir schnappten unsere Rucksäcke und eilten auf den Ausgang der Grotte zu. Wenn der Krater über uns einbrach und uns unter sich begrub, war es zu spät. Immer wieder rieselten Steine und zunehmend auch größere Brocken zu Boden. Es krachte und donnerte ohrenbetäubend.

Das Herz klopfte mir rasend in der Brust, ich atmete in kurzen Stößen, hielt aber nicht an. Im Gegenteil, ich zwang meine Beine zur Höchstleistung, und obwohl sie brennend protestierten, trugen sie mich aus der Höhle. Zoey und Oscar folgten mir dicht auf den Fersen.

»Wir müssen es bis zum Boot schaffen!«, rief Oscar, der das Schlusslicht bildete.

Wir schlugen uns durch das dicht bewachsene Unterholz. Äste peitschten gegen mein Gesicht oder verfingen sich in meiner Kleidung. Zoey und Oscar schien es nicht besser zu ergehen. Zischend und fluchend bahnten wir uns eine Schneise, kämpften verbissen mit den langen, knorrigen Zweigen und Wurzeln, die nach uns greifen und aufhalten wollten. Auf unserem Weg zum Strand war der Mond unsere einzige Lichtquelle. Er ließ die Umgebung in einem weißen, mysteriösen Schein erstrahlen. Schließlich hörte ich unter dem Ächzen und Schnaufen, das wir ausstießen, das Rauschen der Wellen, die gegen das Ufer brandeten. Oscar erreichte zuerst das Boot. Ohne zu zögern oder auch nur innezuhalten, schob er es ins Wasser.

Hinter mir ertönte ein lauter Knall, der mich zusammenzucken ließ. Ich drehte mich nach der Geräuschquelle um und musste mit ansehen, wie der Vulkan gerade in sich zusammenstürzte. Mir wurde schwer ums Herz. Die Grotte war damit zerstört, unter Geröll begraben. Ich hatte sie heute zum letzten Mal betreten. Für immer.

»Kaycie!«, schrie Zoey. Sie war hinter Oscar in das Boot gesprungen und wartete nur darauf, dass ich es ihnen gleichtat, während ich mich wie versteinert nicht vom Fleck rühren konnte. Das Boot trieb bereits einige Meter entfernt im Wasser.

»Ich kann nicht ... Ich verwandle mich doch, sobald ich das Wasser berühre!«

Oscar verdrehte die Augen. »Kaycie, du kannst dich gar nicht mehr verwandeln. Du hast doch den Stein zerstört, und damit den Fluch gebrochen.«

Obwohl seine Worte natürlich Sinn ergaben, ich selbst in meiner Meerjungfrauengestalt das Festland schneller als das Boot erreichen würde, hatte ich plötzlich Hemmungen. Langsam trat ich in das Wasser. Die Wellen schwappten über meine Haut, doch mehr passierte nicht. Insgeheim hatte ich es gehofft, doch enttäuscht stellte ich fest, dass meine Beine immer noch da waren statt des Fischschwanzes. Ich hatte mich nicht verwandelt. Ich schluckte das bittere Gefühl hinunter, das diese Erkenntnis begleitete.

»Komm schon!«, rief Zoey. »Siehst du denn nicht, wie die ganze Insel in sich zusammenbricht?«

Mit einem letzten Blick zurück watete ich zum Boot und schwang mich über den Rand ins Innere. Kurz darauf startete Oscar den Motor, und wir entfernten uns von der Insel. Grollend versank sie hinter uns Stück für Stück in den Tiefen des Ozeans.

»Ich werde den Mondsee schrecklich vermissen«, flüsterte ich bedrückt.

Sanft strich Zoey über meinen Rücken. »Das werden wir alle.«

Mondsüchtig | VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt