Kapitel 29 - Nur ein Kuss

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Kaycie

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Ich wusste nicht, was mich mehr aus der Fassung brachte. Dass Zoey wieder aufgetaucht war, und dass, obwohl es eigentlich unmöglich war: Sie hatte kein Boot, das sie zurück aufs Festland gebracht hätte. Oder dass sie Oscar in unserer Einfahrt direkt vor meinen Augen küsste. Und dass in meiner Gestalt. Sie hatte sich als mich ausgegeben – und Oscar war darauf auch noch hereingefallen. Mein Hirn setzte einfach aus und schaltete in den Abwehr- und Heulmodus.

Ich warf die Tür hinter mir zu und verschanzte mich in meinem Zimmer. Mit der Decke über dem Kopf lag ich eingerollt auf dem Bett, die Knie an den Oberkörper gepresst und weinte. Wenig später vernahm ich ein leises, vorsichtiges Klopfen an der Tür, reagierte jedoch nicht darauf. Auch nicht, als jemand ins Zimmer kam und zu mir ans Bett trat. Ich wollte niemanden sehen. Egal, wer es war. Als ich mich nach längerer Zeit nicht regte, setzte sich die Person wieder in Bewegung. Die Schritte entfernten sich, bis ich sie nicht mehr hören konnte.

Die ganze Nacht saß ich an meinem Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Irgendwann erlosch das Licht der Straßenlaternen, sodass nur noch der Mond das Viertel erhellte. Alles war in einen weißen Schimmer gehüllt, was die Umgebung unwirklich und wie in einem Traum erscheinen ließ. Und dabei war ich vollkommen wach. Mein Kopf war wie leergefegt. Ich wollte an nichts denken, so kam mir das gerade recht.

Gegen fünf Uhr bereitete ich mir eine große Tasse heißen Kakaos zu. Das Getränk, das mir bei allen Problemen half. Eigentlich wollte ich den Sonnenaufgang genießen, die schönen Pastellfarben bestaunen, aber der Himmel zog sich rasch zu. Große, hoch aufgetürmte Wolken verdunkelten die Gegend. Tiefes Donnergrollen kündigte ein Gewitter an, und die ersten Blitze zuckten zwischen den bedrohlichen Formationen hervor. Kurz darauf schüttete es wie aus Eimern. Zwei Stunden später hatte es kein Stück nachgelassen. Das schlechte Wetter passte gut zu meiner Stimmung: mir war zum Heulen zumute. Mein Vorrat an Tränen schien allerdings aufgebraucht zu sein.

»Kaycie! Willst du dich nicht für die Schule fertig machen?«, rief Mom von der Küche aus.

Ich schlurfte an meine Türschwelle. »Mom, kannst du mich nicht entschuldigen? Es hört nicht zu regnen auf.«

Mom kam die Treppen nach oben. »Hey, Liebling, du warst gestern ja völlig durch den Wind. Willst du mir nicht erzählen, was vorgefallen ist?« Sie strich mir sanft über die Haare. Das, was ich über Nacht versucht hatte zu verdrängen, bahnte sich auf einmal einen Weg nach draußen. Wieder sah ich, wie Zoey Oscar küsste. Wie sie sich als mich ausgab und ihn um den Finger wickelte ...

Ich schüttelte den Kopf, vertrieb ein aufkommendes Wimmern. »Ich möchte heute nicht in die Schule. Den Test schreibe ich nach«, erklärte ich und biss ich mir auf die verräterisch bebende Unterlippe.

»Ach, Schätzchen.« Mom drückte mich an sich. Ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten und schluchzte drauflos. Zärtlich fuhr Mom über meinen Rücken, redete sanft und beruhigend auf mich ein. Alles würde gut werden, der Schmerz ginge vorüber. Nach einer kleinen Ewigkeit schob sie mich zaghaft von sich und musterte mich ernst. Erneut stellte sie mir die Frage: »Was ist passiert?«

Wir nahmen auf meinem zerknautschten Bett Platz. Ich holte tief Luft und erzählte ihr in allen Einzelheiten, was Zoey mir angetan hatte. Aufmerksam hörte sie zu, nickte und hielt meine Hand – genau das, was ich jetzt brauchte.

Zoey war den Vormittag über nicht Zuhause, was ich sehr begrüßte. Als es auf den Nachmittag zuging, regnete es noch immer. Dieser Zustand fesselte mich ans Haus. Ich konnte nicht rausgehen, ohne mich sofort in eine Meerjungfrau zu verwandeln. Irgendwann kam ich auf die Idee, mein Zimmer aufzuräumen. Nur um nicht die Gedanken an Oscar und Zoey heraufzubeschwören, machte ich sauber und las sogar in einem Buch. Am liebsten wollte ich den gestrigen Tag aus meinem Gedächtnis löschen. Es sollte nie passiert sein.

Gegen frühen Abend meinte Mom, dass ich zum Essen runterkommen sollte. Ich hätte lange genug geschmollt. Eigentlich verspürte ich keinen Appetit, aber Mom zuliebe und weil sie recht hatte und ich irgendwann etwas zu mir nehmen musste, fand ich mich schließlich doch in der Küche ein.

Zoey war ebenfalls anwesend. Mom behandelte sie ganz normal. Und Zoey schien sich ausnahmsweise wirklich normal zu verhalten. Als ob nichts gewesen wäre. Als hätte sie sich nicht auf der Insel herumgedrückt, weil sie angeblich nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Und als hätte sie Oscar nicht unmittelbar vor meinen Augen geküsst. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Mom warf mir einen warnenden Blick zu. Sie wusste, wie mir zumute war. Mühevoll brachte ich meine Gefühle unter Kontrolle und nahm schließlich Zoey gegenüber Platz.

»Du warst heute ja gar nicht in der Schule. Hattest du etwa Angst vor dem Mathetest?«, fragte Zoey zwischen zwei Bissen. Ich spießte mit meiner Gabel etwas von dem Gemüse auf und stellte mir vor, es wäre Zoeys Herz. »Oder bist du etwa wasserscheu? Ach ja, du verwandelst dich beim kleinsten Wassertropfen gleich in einen Fisch. Muss echt lästig sein.« Sie grinste mich höhnisch an.

Meine Mundwinkel zuckten, meine Finger zitterten, ich spürte Wärme in der Magengegend aufsteigen. Es fühlte sich an, als würde sie jeden Moment aus mir hervorbrechen. Da legte mir Mom beruhigend eine Hand auf den Arm und sah mich besänftigend an. Sofort ließ das Gefühl nach und ich konnte wieder etwas klarer denken. »Woher willst du das denn wissen?« Ich bemühte mich um einen freundlichen Ton, es klang eher nach einem Zischen.

Zoey störte sich nicht daran, sie zwinkerte mir lediglich zu, bevor sie ohne Vorwarnung ihr Glas über meinen Kopf entleerte. Kaltes Wasser tropfte über meine Haare und durchtränkte mein Shirt.

Erschrocken keuchte ich auf. »Bist du wahnsinnig?« Mit einem nassen Klatschen landete ich auf dem Boden. Vor den Augen meiner Mutter und Zoey hatte ich mich gerade in eine Meerjungfrau verwandelt.

»Daher weiß ich es ... und weil Oscar es mir netterweise gesagt hat. Bereitwillig hat er mir all eure Geheimnisse verraten«, meinte Zoey schulterzuckend.

Empört schnaubte ich auf, unfähig etwas zu erwidern. Ihre Dreistigkeit machte mich sprachlos.

»Zoey, hol bitte ein Handtuch und trockene Klamotten«, fuhr Mom dazwischen. Sie versuchte bereits den Tisch und die Fliesen mit einem Lappen trocken zu wischen. Ich konnte ihr nur untätig dabei zusehen.

Gemächlich trottete Zoey aus dem Raum. Offenbar konnte sie sich das süffisante Grinsen nicht verkneifen, welches ihre Lippen zierte.

»Was sollte das?« Mom funkelte meine Schwester streng an, die Hände in die Hüften gestemmt, als diese zurückkam und mir ein Handtuch sowie frische Kleidung auf den Bauch warf.

»Ich wollte nur meine Bestätigung. Ist das jetzt so schlimm?«, fragte Zoey unschuldig.

Moms Miene sprach Bände. »Ja, wir wollten in Ruhe essen«, brummte sie gefährlich leise.

Wir starteten in die zweite Runde, ein normales Abendessen abzuhalten, nachdem ich wieder trocken und angezogen war. Doch der vorübergehende Waffenstillstand währte nicht lange. Zoey konnte es einfach nicht lassen. Aufs Neue musste sie Salz in die Wunde streuen. »Was ist eigentlich dein Problem, dass du mich so giftig anstarrst?«

Ich schnaufte gereizt. Merkte sie nicht, wie sie mich provozierte? »Das musst du wirklich nachfragen? Reicht es nicht, dass du meinen Freund küsst? Musst du mich auch noch beim Essen mit Wasser vollschütten?«, knurrte ich.

Zoey stieß ein genervtes Zungenschnalzen aus. »Ach, komm schon ... es war nur ein Kuss. Was ist schon dabei?« Ihre Schultern hoben sich träge, was mich endgültig aus der Fassung brachte.

Ehe Mom etwas sagen oder reagieren konnte, packte ich Zoey über dem Tisch am Kragen. »Nur ein Kuss? Wie kannst du nur!« Das Gefühl von vorhin keimte erneut in mir auf. Diesmal hielt ich es nicht zurück.

Mondsüchtig | VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt