Kapitel 16 - Erinnerungsfetzen

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Ich beeilte mich nach Hause zu kommen. Während ich fast durch die Straßen rannte, die in unserer kleinen Stadt ziemlich breit waren und auch sonst recht idyllisch wirkten, überlegte ich, ob ich Mom den Anhänger zeigen sollte und sie so nach ihrer Vergangenheit ausquetschen konnte oder doch lieber Oscar eine Nachricht schrieb.

Hin und hergerissen war ich mir nicht sicher, was ich letztendlich tun sollte. Mom wusste etwas, das ließ sich nicht verleugnen. Sie könnte mir vielleicht weiterhelfen. Aber Oscar hatte mit eigenen Augen gesehen, zu was ich wurde, wenn mich auch nur ein Wassertropfen traf ...

Ja, ich sollte zuerst mit Oscar reden. Vielleicht konnte er mir bei der Entscheidung weiterhelfen, und mir sagen, ob ich das Richtige tat, wenn ich Mom in mein Geheimnis einweihte. Zufrieden mit dem Verlauf meiner Gedanken ging ich nach Hause und lief dort die Treppen nach oben. Mom war nicht da. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen Termin bei ihrer Therapeutin. Und Zoey saß bei offener Tür an ihrem Schreibtisch. Beim Vorbeigehen musterte sie mich misstrauisch.

»Auch einen schönen Tag«, murmelte ich und schloss mich in mein Zimmer ein. Immerhin hatte sie sich unter Kontrolle und griff mich diesmal nicht wie ein wildes Tier an.

»Hey, ich bin es«, meldete ich mich, nachdem Oscar den Anruf endlich entgegennahm.

»Lass mich raten: es ist irgendwas passiert. Und du brauchst jetzt meine Hilfe«, sagte er, sein Tonfall klang resigniert. Er wusste schon, dass das hier mal wieder etwas länger dauern würde.

»Ähm ... ja, so in etwa. Aber wir können auch nochmal wegen heute reden ...«, meinte ich mit gedehnter Stimme.

Er seufzte, lenkte also ein. »Warte, ich bin gleich da.«

»Kaycie, wieso spaziert dein dämlicher Freund eigentlich durch unser Haus, als würde er hier ebenfalls wohnen?« Zoey schnaubte genervt auf, als Oscar an ihr vorbei lief.

»Weißt du, der ›dämliche Freund‹ hat auch einen Namen«, merkte Oscar an, und das so freundlich, das hätte ich ihm gar nicht zugetraut.

Ich schüttelte nur den Kopf und scheuchte ihn in mein Zimmer, um anschließend die Tür hinter uns wieder zu schließen. Vermutlich sprang Zoey jetzt auf, um uns durch das Holz zu belauschen. Aus diesem Grund drehte ich meine Musik laut auf.

Oscar stand mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. »Meinst du wirklich, es ist besser, wenn wir uns gegenseitig anschreien müssen?«, fragte er mit erhobener Stimme.

Von meinem Bett aus lächelte ich ihn charmant an. »Du kannst auch einfach zu mir aufs Bett kommen, dann müssen wir uns nicht anschreien.« Und dann zwinkerte ich ihm auch noch zu. Warum ich das tat, wusste ich selbst nicht.

»Ich weiß nicht ...« Er zögerte, und für einen kurzen Moment sah ich, wie sich seine Wangen röteten.

»Komm schon, was soll schon groß dabei sein?« Einladend klopfte ich auf den freien Platz neben mir. Während ich das so leicht sagte, vermittelte mir mein Bauch etwas ganz anderes. Ich musste mich doch unbewusst an irgendetwas erinnern können, denn das Kribbeln fühlte sich verdächtig nach Schmetterlingen an. Löste ein Kuss wirklich solche Gefühle aus?

Schließlich nahm Oscar neben mir Platz. »Also, was gibt's?«, wollte er wissen und vermied es, meinen Blick zu erwidern.

Plötzlich musste ich wieder an diese Bilder denken, die wie ein Film in meinem Kopf abliefen. Von Menschen, die ich nicht kannte. Sah so eine Vision aus?

»Also, ich habe etwas über meine Mom herausgefunden«, fing ich an und holte den Anhänger aus meiner Hosentasche hervor.

Oscar nahm ihn entgegen und betrachtete ihn eine Weile. »Sie war auch eine Meerjungfrau«, stellte er fest.

»Zumindest sieht es auf dem Bild ganz danach aus. Hinzukommt, dass sie es vor uns nicht wirklich geheim gehalten hat. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie uns immer Geschichten über Meerjungfrauen zum Besten gegeben hat, als wir noch klein waren«, erzählte ich.

»Das ist auf jeden Fall etwas, das uns weiterhelfen könnte, herauszufinden, was mit dir passiert ist.«

»Du meinst also, ich sollte mit ihr reden?«

Er nickte. »Versuchen kannst du es ja mal ... sie ist schließlich deine Mom. Und wenn sie selbst eine Meerjungfrau war, dann ...« Er sah aus dem Fenster. »Ist sie denn immer noch eine Meerjungfrau?«

Ich zuckte mit den Schultern und überlegte, ob ich sie schon einmal in der Nähe von Wasser bewusst beobachtet hatte. Sie verhielt sich meines Wissens nicht seltsam im Umgang mit diesem Element. »Ich denke nicht. Auf mich wirkt sie normal«, schloss ich.

»Okay, rede auf jeden Fall mit ihr. Wenn Zoey nicht zuhört«, entschied er. »Wenn sie keine Meerjungfrau mehr ist, dann kann sie dir vielleicht auch sagen, wie du wieder normal werden kannst.«

Erleichtert seufzte ich auf. Jetzt hatte ich ein besseres Gefühl bei der Sache. Und es bestand die Hoffnung wieder duschen zu können, ohne Fischschwanz und nicht mehr nur im Liegen.

»Und ich war vorhin noch einmal bei der Grotte«, fuhr ich mit meiner Erzählung fort.

Gespannt sah Oscar mich an, er verzog keine Miene.

»Ich hatte eine Art Vision, von Menschen, die ich nicht kenne.«

Nun runzelte er die Stirn. »Okay ... was genau hast du gesehen?«

Ich schilderte ihm alle Einzelheiten der Vision.

»Vielleicht wollte dir die Grotte etwas damit zeigen?«, schlug Oscar vor, wirkte aber selbst nicht ganz überzeugt von seiner Theorie.

»Die Zwillingsschwestern ähnelten irgendwie mir und Zoey ... meinst du, es könnte sich dabei um unsere Vorfahren handeln?«

»Schon möglich.« Oscar strich sich durch die Haare. »Wie ist das passiert? Ich meine, wie konntest du diese Vision sehen?«, fragte er.

Nachdenklich starrte ich an die Decke. »Ich habe die Steinwand berührt ... dann wurde ich ohnmächtig«, fiel mir wieder ein. »Weißt du, eigentlich wollte ich nicht so schnell zur Grotte zurück ... Ich muss ständig an vergangene Nacht denken ...«, sprach ich schließlich meine nagenden Gedanken aus. Sie übertönten sogar die Bilder von dieser Mackenzie, die irgendwie wichtig war.

Oscar lächelte leicht in meine Richtung. »Ich dachte, du kannst dich an nichts erinnern?« Unmerklich rückte er ein Stück näher. Es war zwar nur ein winziges Stück, doch es reichte aus, um meinen Puls zu beschleunigen.

Ich schluckte einen schweren Kloß hinunter. »Das stimmt, aber ich kann mich an das Gefühl erinnern«, flüsterte ich. »Immer wenn du mir so nah bist, fühlt es sich auf einmal anders an ...« Plötzlich war ich nicht mehr in der Lage normal zu sprechen. O Gott, was passierte nur mit mir? Alles drehte sich. Ich hielt mir den Kopf. Oscars Lächeln verschwand und wich Besorgnis. Dann prasselten die Erinnerungen über mir ein ...

Wir saßen am Mondsee. Ich war in meiner Meerjungfrauengestalt. Oscar hatte seine Arme um meine Hüften geschlungen und die Lider geschlossen, während ich mit den Fingern über seine Haut fuhr. Kurz darauf küsste ich ihn. Der Kuss wurde schnell sehr hitzig, und löste in mir eine Flut an Gefühlen aus. Sie loderten auf und wollten mit aller Macht gestillt werden ...

Keuchend und mit wild klopfendem Herzen befand ich mich wieder in der Gegenwart.

»Kaycie!«, rief Oscar. »Was ist los? Du bist einfach umgekippt!«

Ich lag auf meinem Bett, den Kopf in seinen Schoß gebettet. Sanft strich er mir über die Haare. Ich versuchte zu Atem zu kommen, das zu verarbeiten, das nun endlich zu den Gefühlen in mir passte. »Ich habe es gesehen ... Ich kann mich erinnern!«, entfuhr es mir. Ein Grinsen breitete sich auf meinen Zügen aus.

Oscar hingegen wirkte verwirrt. »Was hast du gesehen?«

Als Antwort setzte ich mich auf und nahm sein Gesicht in beide Hände. Seine blauen Augen weiteten sich überrascht, dann küsste ich ihn erneut. Diesmal bei klarem Verstand.

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now