Kapitel 27 - Band der Familie

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Kaycie

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Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis es endlich zu regnen aufhörte. Erst in den späten Nachmittagsstunden kam ich wieder Zuhause an. Oscar wirkte besorgt als ich ihm eröffnete, dass ich mit Mom über alles reden musste.

Ich wusste selbst nicht, wie genau ich anfangen sollte. Aber Mom kam mir schon im Flur entgegen und wirkte dabei so verloren, dass es gar nicht mehr so schwer war, wie ich es mir ausgemalt hatte. »Liebling, wo ist deine Schwester?«

Mom sah schrecklich übermüdet aus. Unter ihren für gewöhnlich strahlenden Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet, sie war kreidebleich, ihre rötlich braunen Wellen völlig zerzaust, außerdem trug sie noch immer ihren Pyjama. Anscheinend hatte sie sich solche Sorgen gemacht, dass sie das Haus nicht verlassen hatte. Ich ging auf sie zu und nahm sie fest in die Arme.

Mit zitternden Fingern strich sie mir über die Haare. »Was ist passiert?«

»Mom, ich muss dringend mit dir reden.« Ich führte sie in die Küche. Wir nahmen am Esstisch Platz. »Bist du eine Meerjungfrau?«, fragte ich geradeheraus. Zur Bekräftigung holte ich den Anhänger aus meiner Tasche hervor, den ich in letzter Zeit stets bei mir trug.

Etwas verwundert nahm Mom die Kette entgegen. Vorsichtig, als könnte sie in ihren Händen zerbrechen, strich sie über das glänzende Silber des Medaillons. Für einen Moment hellte sich ihre Miene auf. »Nein«, sagte sie dann schlicht. Bei dieser Antwort entgleisten mir fast die Gesichtszüge. Mom räusperte sich. »Zumindest nicht mehr«, fügte sie hinzu.

»Bitte erzähl mir alles, was du weißt! Zoey steckt in Schwierigkeiten.« Ich griff nach ihren Händen. Beruhigend drückte sie meine klammen Finger.

»Es hat alles auf der Insel angefangen. Erinnerst du dich noch an unser Gespräch über deinen Vater?« Mein Nicken bekam sie allerdings nicht mit, ihr Blick glitt in weite Ferne. »Dein Vater fuhr mit mir eines Abends mit einem kleinen Boot, das wir uns am Hafen gemietet hatten, zur Insel. Wir hatten ein paar Sachen eingepackt, denn wir wollten dort übernachten. Es sollte eine romantische Nacht werden.« Sie schmunzelte, die ozeanblauen Augen leuchteten. »Wir wollten zuerst am Strand bleiben, doch dann zog es deinen Vater ins Landesinnere. Wir liefen bis in die Nacht hinein. Es war eine sternenklare Nacht. Der Mond schien heller als je zuvor. Es war Vollmond, musst du wissen.« Hier hielt sie kurz inne, bevor sie fortfuhr: »Als wir eine Lichtung entdeckten, wollten wir dort unser Lager aufschlagen. Aber wie der Zufall es wollte, fand dein Vater den Eingang einer Höhle. Also gingen wir dort hinein. Es war mehr eine Grotte, mit einem unterirdischen See, der ein magisches Licht verströmte. Wir waren überwältigt von diesem faszinierenden Ort. Das Gestein schien zu glitzern, und dann erst der Kegel des Vulkans ... Wir bekamen mit, wie der Mond genau in die Öffnung hineinschien. In diesem Moment passierte etwas absolut Magisches.« Ihr wissender Blick streifte meinen. »Ich wollte plötzlich mit jeder Faser meines Körpers in den See springen, den Mondschein auf meiner Haut spüren. Dein Vater konnte mich nicht aufhalten. Es war als wäre jeder Widerstand zwecklos. Im Nachhinein glaube ich, dass es meine Bestimmung war ... auch, wenn das jetzt seltsam klingen mag.«

Bestimmung – das Gleiche hatte Zoey auch gesagt.

»Wir blieben bis zum nächsten Morgen in dieser Höhle. Und dann entdeckte ich, dass etwas mit mir geschehen war: Ich war eine Meerjungfrau! Dein Vater war genauso überrascht und gleichzeitig fasziniert wie ich. Er war der Erste und auch der Einzige, der von meinem Geheimnis wusste.« Sie seufzte tief.

Ich runzelte die Stirn. »Was war mit deiner Schwester? Du sagtest doch mal, dass ihr ebenfalls Zwillinge wart.«

Mom nickte. »Ja, das waren wir. Allerdings konnte sie das alles nicht miterleben: Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits tot«, erklärte sie. »Sie ist als Kind gestorben ... Ich habe es damals selbst nicht ganz verstanden, aber sie starb wohl an den Folgen eines Mückenstichs. Anscheinend hatte sie es nicht bemerkt, und ihr konnte nicht mehr geholfen werden. Ich konnte damals nicht verstehen, wieso sie einfach nicht mehr da war ... Ich war noch zu klein.« Ihre Augen glänzten.

Nachdenklich schüttelte ich den Kopf. »Das kann ich verstehen. Du musst am Boden zerstört gewesen sein. Aber was ich nicht verstehe ist, wie du wieder normal geworden bist.«

»Oh, das ist einfach. Ich war nicht lange eine Meerjungfrau. Es hielt etwa einen Monat an, bis zum nächsten Vollmond. Danach verwandelte ich mich nie wieder. Aber es war die schönste Zeit in meiner Jugend.«

»Wirklich? Aber wie ...? Ich bin immer noch eine Meerjungfrau, obwohl der zweite Vollmond schon vorbei ist!« Verwirrt stand ich auf und fuhr mir durch die Haare.

»Du hast dich auch bei Vollmond im See auf der Insel verwandelt, richtig?«

Ich nickte.

»Was ist mit Zoey? Ihr wart doch zusammen dort.«

»Sie ist keine Meerjungfrau. Wir glauben, dass sie eine Hexe ist.«

Überrascht sah Mom mich an. »Wer ist wir

»Oscar.«

Da trat wieder dieses wissende Lächeln auf Moms Mundwinkel zu Tage. »Na schön. Wenn mit Zoey ebenfalls etwas passiert ist, hängt vielleicht alles mit den Schwestern zusammen.«

Ich fuhr mir über das Kinn. »Du meinst, ich bin deshalb noch eine Meerjungfrau, weil ich noch eine Schwester habe?« Je länger ich über diese Theorie nachdachte, desto mehr Sinn ergab sie.

»Ja, das denke ich. Zumindest wäre es eine logische Erklärung. Denn ich hatte zu dem Zeitpunkt keine Schwester mehr, also habe ich diese Kräfte wieder verloren.«

Ich sah zum Küchenfenster hinaus. Es war bereits dunkel. Was Zoey wohl gerade machte?

»Wo ist Zoey jetzt?«

»Sie ist seit der letzten Vollmondnacht auf der Insel«, murmelte ich abwesend.

Mom erhob sich von ihrem Stuhl und gesellte sich zu mir ans Fenster. Vorsichtig legte sie eine warme Hand auf meine Schulter. »Was ist zwischen euch vorgefallen?«

Um die heraufziehenden Kopfschmerzen zu vertreiben, rieb ich mir die Schläfen. »Seit meiner Verwandlung hat sich Zoey verändert. Sie ist aggressiv geworden. Sie hat mich mehrmals angegriffen mit ihrer Kraft, die sich in Feuer äußert. Sie hat sich von mir abgewendet, mir gesagt, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will. Und ich glaube, sie hat sogar das Wetter negativ beeinflusst«, zählte ich auf.

»Du willst mir sagen, dass sie gefährlich ist?«

Ich nickte. »Sie ist um einiges stärker als ich. Sie meinte übrigens auch, dass es uns vorherbestimmt sei.« Ich starrte in die Dunkelheit hinaus, konnte aber nur mein erschöpft dreinblickendes Spiegelbild in der Glasscheibe erkennen.

»Wir müssen einen Weg finden, alles rückgängig zu machen.« Mom wirkte plötzlich voller Tatendrang. In ihren Augen blitzte etwas auf, das ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. So etwas wie Entschlossenheit – oder Hoffnung.

Mondsüchtig | VerwandlungOù les histoires vivent. Découvrez maintenant