3. Blicke voller Leere und Gesichter voller Neid

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Charlotte I

Es war ein warmer Sommernachmittag. Einer dieser Nachmittage wo man erst beim rausgehen bemerkte wie warm es eigentlich war, weil der Himmel bewölkt schien und es nicht sonderlich sommerlich aussah. Obwohl nie sie, sondern immer Lina Liras beste Freundin gewesen war, fehlte Charlotte die Brünette in letzter Zeit besonders. Bevor Lira mit Can weggeflogen war hatten sie sich ziemlich oft gesehen und Lira war diejenige gewesen, der Charlotte am meisten anvertraut hatte. Ihre letzte WhatsApp hatte Lira immer noch nicht gelesen. Anfangs wollte sie mit Can nur maximal zwei Wochen von Berlin weg, aber mittlerweile war über ein Monat vergangen und die beiden waren spontan von Paris nach Istanbul in die Türkei geflogen, um Cans Familie zu besuchen. An diesem warmen Tag hatte Charlotte sich mit ein paar Bekannten auf einer karierten Picknick Decke im Park niedergelassen und die anderen amüsierten sich prächtig, während sie mit ihren Gedanken alle paar Minuten abschwiff. Das waren keine richtigen Freunde. Mit denen würde sie höchstens komplett zugedröhnt über ihre Probleme sprechen, nur um sich dann am nächsten Tag sowieso an nichts mehr erinnern zu können. Vor einem Jahr hätte sie sich dabei pudelwohl gefühlt, aber seitdem sie mehr mit Lina und Liras Freundeskreis unternommen hatte, hatte sich ihre Interpretation von einer gesunden Freundschaft verändert.
Charlotte sah auf, weil alle plötzlich lachten, irgendjemand hatte wohl einen Witz gemacht und sie lachte mit, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie würde nicht aufpassen. Als das Thema wieder gewechselt wurde, checkte sie nochmal ihr Handy. Neben ihrer letzten Nachricht an Ruhi mit dem sie jetzt seit drei Wochen zusammen war, leuchteten zwei blau Haken. Doch eine Antwort war nicht gekommen.
Sie seufzte nur leise und schloss das Handy wieder. „Ich muss langsam mal los Leute", sagte sie zu den Anderen, welche sie protestierend zum Bleiben überreden wollten, obwohl sie sowieso nichts zu dieser Runde beigetragen hatte. „Ist doch erst halb fünf, bleib noch ein bisschen", nörgelte ein blonder Paul mit hübschen Locken, mit dem sie früher bestimmt was angefangen hätte. Seit sie enger mit Ruhi war, hatte sie jedoch keine ernsthaften Gedanken mehr an andere verschwendet. Für sie war er der einzige und sie gab ungern zu wie sehr sie sich in ihn verliebt hatte. Es hatte sowieso noch keiner „Ich liebe dich" zum anderen gesagt und sie versuchte so zu tun als, ob sie das kein bisschen störte. Generell hatte sie sich alles ein wenig anders vorgestellt. Es gab nicht mal ein Datum, an das sie sich erinnern könnte. Vor ein paar Wochen hatte jemand Ruhi auf einer Party gefragt ob er mit „der" zusammen sei und dabei auf sie gezeigt. Ruhi hatte „Jo", gesagt und sie hatte das überrascht so hingenommen und sich natürlich auch gefreut, obwohl sie dachte der Zeitpunkt würde vielleicht romantischer sein.
„Sorry man muss nach Hause", rief sie dem lockigen Jungen nur zu, griff nach ihrer Handtasche und lief dann über die Wiese.

Viele Gleichaltrige hingen an beiden Seiten des Weges rum, den sie nun lang lief, um aus dem Park zu gelangen. Einige davon kannten sie und starrten im Vorbeigehen auf ihre schönen Hüften, ihre schmale Taille und ihre voluminösen Haare, in der eine Vintage Chanel Sonnen-Brille steckte. Schon in der Schule war sie es gewohnt gewesen, begutachtet zu werden. Manche schüttelten vermutlich den Kopf über ihren Drogenkonsum auf Partys und ihre gewagten Outfits. Oder machten sich über sie lustig, aber der Großteil bewunderte sie seit der Neunten für ihr Selbstbewusstsein und ihre Schlagfertigkeit. Auch jetzt prallten die Blicke an ihr ab und Charlotte machte sich einen Spaß daraus manche Augen im Vorbeigehen genauso fest zu fokussieren bis sie die Verunsicherung in den Blicken der Jungen und Mädchen sah.
Sie hatte sich mit den Jahren ein Schutzzelt aufgebaut, in das sie nur ganz selten jemanden reinließ und ihre Verletzlichkeit zeigte. Dass ihre Drogenprobleme zum Schulende hin nur eine Folge von ihren ganzen verheimlichten Unsicherheiten waren, würde wohl niemand glauben. Stattdessen hatten sich damals auch ihre engsten Freunde über sie lustig gemacht.

Zu Hause angekommen lief sie die Treppen schnellen Schrittes hoch und öffnete die Wohnungstür. Die Wohnung, in der sie mit ihrem Vater wohnte, nachdem ihre Mutter ihn sitzen gelassen hatte, war okay. Nicht so groß, aber trotzdem Schick eingerichtet. Sie liebte ihren Vater, weil er immer optimistisch war.
Sie hatte sich das abgeguckt, um ihren Freunden gegenüber genauso zu wirken. Im Wohnbereich saß der braunhaarige 45-Jährige nachdenklich vorm Laptop und begrüßte sie mit einem warmen lächeln. „Im Kühlschrank ist noch Lasagne", sagte er und deutete in Richtung Küche. „Danke Papa, sehr lieb aber ich hab keinen Hunger", antwortete Charlotte und wollte weiter den kleinen Flur entlang in ihr Zimmer gehen. „Bitte fang nicht wieder mit dem Kalorien zählen an", rief er ihr hinterher. „Quatsch, ich habe schon gegessen", versicherte sie. Charlotte neigte dazu aufzuhören zu essen, wenn es ihr schlecht ging. Sie wies es wütend ab wenn jemand das Wort „Essstörung" erwähnte, denn so schlimm war es sicherlich nicht.

In ihrem Zimmer stand ein großer Schminktisch, der überhäuft mit Produkten war. Außerdem eine überfüllte Kleiderstange, ein großer Kleiderschrank, ein bequemes Bett, in dem sie sich manchmal stundenlang verkroch, ein bunter Teppich auf dem jetzt gerade jede Menge Klamotten lagen, ein schmaler Schreibtisch und ein hohes Bücherregal. In ihrem alten Haus in Zehlendorf hatte sie ein großes Zimmer mit hohen Fenstern gehabt, aber dort wohnte jetzt der kleine Sohn des neuen Freunds ihrer Mutter. Sie hasste ihre Mutter manchmal, weil die so tat als ob Charlotte seit der Trennung ihrer Eltern ein genauso gutes Leben führte wie damals in Zehlendorf. Es störte sie wohl überhaupt nicht, dass sie jetzt mit ihrem Vater in einer viel kleineren Wohnung leben musste. Müde warf sie sich auf ihr Bett und checkte zum Tausendsten mal ihr Handy nach Nachrichten von Ruhi aber es waren keine da.
Dann griff sie nach der Aspirin Schachtel auf ihrem Nachtisch. Die türkisene Packung war schon fast leer, obwohl sie sie noch nicht lange hatte. In letzter Zeit hatte sie öfters Kopfschmerzen, war aber zu faul der Sache auf den Grund zu gehen und heraus zu finden, woran das liegen könnte. Sie schreckte vom Klingeln der Tür hoch. „Für dich", rief ihr Vater nur. Es stand niemand im Hausflur, also zog sie sich schnell ihre Nikes an und lief nach unten. Vor der Tür stand Ruhi, er lehnte in Tshirt, Trainings Jacke und Jogginghose an einer Beton Säule. „Hi", sagte Charlotte überrascht und blickte ihn erwartungsvoll an. „Wollte fragen, ob du Zeit hast", sagte er und drehte sich eine Zigarette. „Warum hast du mir nicht auf WhatsApp geantwortet?", fragte sie und versuchte sein Verhalten zu analysieren. Doch er zuckte nur mit den Schultern. „Hast du oder nicht?", fragte er ungeduldig. „Äh ja klar", meinte Charlotte nur und rannte nochmal hoch um Bescheid zu geben und sich schnell fertig zu machen.

Sie stopfte alles Wichtige in ihre kleine Handtasche. Schlüssel, Portemonnaie, Airwaves, Feuer, die fast leere Packung Aspirin, Longpapes, Lipgloss und mini Body Spray. Im Spiegel richtete sie noch einmal schnell ihre Haare und checkte ihr Make Up. Das Gesicht, in welches sie blickte, war ziemlich blass und ihre Augen waren leicht glasig, aber das würde Ruhi sowieso nicht auffallen. Eigentlich war sie müde aber auch glücklich, dass er vorbeigekommen war. Sie wollte jetzt nicht kompliziert wirken und ihm erklären, dass es gerade nicht passte und so lief sie die Treppen wieder runter zu ihm. Er hielt ihr bereits seine Hand entgegen als sie schwungvoll aus der Tür des Treppenhauses kam und Charlotte griff erleichtert danach. Ruhi ging sofort los und zündete sich im Gehen seine Zigarette mit dem Paris Feuerzeug, was ihm Can einmal geschenkt hatte, an. An seiner Seite fühlte sie sich so sicher und beschützt vor der Außenwelt, aber auch verletzlich und unsicher vor ihm. Sie hatte Angst etwas falsch zu machen, als würde er infrage stellen können, warum er eigentlich nochmal mit ihr zusammen war, falls sie etwas tat, was ihm nicht gefiel. „Wohin gehen wir?", traute sie sich schließlich zu fragen. Er nahm erstmal noch in Ruhe einen Zug von seiner Zigarette und atmete den Rauch entspannt aus bevor er antwortete. „Muss ein Video für nen Bruder drehen, du darfst zuschauen."
„Na vielen Dank", dachte Charlotte sich. Er hatte sie doch nicht ernsthaft mitgeschleppt damit sie ihn beim Arbeiten anhimmelt. Sie stöhnte innerlich auf, als sie an ihr gemütliches Bett dachte, indem sie sich jetzt ausruhen könnte, wenn sie sich nur einmal getraut hätte, die Wahrheit zu sagen. Sie war zu unsicher und wollte eigentlich nicht, dass er mitbekam, wie es ihr ging, denn auch wenn einige Jungs hier Drogen nahmen, war das bei Mädchen nicht gerne gesehen. Kiffen okay aber nur solange sie dabei noch hübsch aussahen und nicht zu Zombies wurden. „Ich habe miese Kopfschmerzen", sagte Charlotte als die beiden eine belebte Straße überquerten. „Oh, heftig?", fragte Ruhi plötzlich und guckte ganz besorgt zu ihr. „Äh nein, nein, es geht schon", gab sie schnell überfordert von seiner liebevollen Reaktion zurück. Er nickte daraufhin nur und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Straße. Charlotte biss sich auf die Unterlippe, warum konnte sie nichts sagen und musste wieder direkt so abblocken? Es war nichts zu machen und jetzt war es zu spät, denn Ruhi zog sie hinter sich her in eine Einfahrt rein.
Das Set war nichts Besonderes alles ziemlich provisorisch. Die Jungs drehten Szenen wo sie am Kiosk saßen und Ruhi nahm alles mit der Kamera auf während er neue Ideen und Vorschläge brachte. Charlotte saß mit zwei anderen Mädchen, die sie nicht kannte an einem der Kiosk Tische. Es verging eine Ewigkeit und sie langweilte sich. Als gerade mal nicht gedreht wurde, kam Ruhi zu ihr und legte einen Arm um sie.
„Seid ihr bald fertig?", erkundigte Charlotte sich. „Glaub schon, danach können wir ja was essen gehen", schlug er vor und wollte wieder gehen. „Weiß nicht, hab immer noch Kopfschmerzen", sagte sie. „Trink halt was", gab Ruhi zurück und verschwand wieder hinter seiner Kamera und dann mit den andern ins Innere des Kiosks. Mit der Antwort hatte Charlotte nicht gerechnet. Es hämmerte immer noch von innen gegen ihre Schädeldecke und so griff sie nach ihrer Tasche und erhob sich vom Tisch. „Richtet Ruhi bitte aus, dass ich nach Hause gegangen bin", wendete sie sich an die Mädchen. Sie nickten und Charlotte verschwand die Straße runter.

Heut fahr'n wir durch Hood und woll'n Tausender verdienenWhere stories live. Discover now