Die von einer dicken Schicht Vulkanasche ummantelten Steine schienen sich dafür rächen zu wollen, dass der Vesuv sie damals bei seinem Ausbruch mit Staub und Asche bedeckt hatte. Sie glühten mit der gleißenden, hochstehenden Sonne um die Wette.

„Hey, ich kann nichts dafür, ich grabe euch nur aus!", schimpfte sie und kratzte weiter an der Reihe Steine herum, die sie in den letzten Tagen in stundenlanger, akribischer Beharrlichkeit freigelegt hatte. Es war heiß – und trotzdem... es war einfach fantastisch, hier zu sein!

Sie beschattete mit den Händen ihre Augen und sah zu der mit schweren Basaltplatten gepflasterten Straße hinüber, die von schmalen Zypressen gesäumt zu den prunkvollen Villen der alten Stadt führte.

Auch jetzt, am Ende des Archo-Camps übte Pompeji nach wie vor eine unwiderstehliche Faszination auf sie aus. Sie liebte diesen Ort. Nirgendwo sonst war der Zauber der Vergangenheit so deutlich zu spüren. Die geschwungenen Arkaden, die schmucken Fassaden der Häuser, die gepflasterten Gassen, über denen sich der azurblaue, italienische Himmel spannte. Sie hatte unendliches Glück gehabt, in das Ausgrabungsprojekt mit aufgenommen worden zu sein, und viele an der Uni hatten sie darum beneidet. Es gab hier in Italien nicht nur das allerbeste Eis und die leckerste Pizza, sondern sie konnte auch regelmäßig nach Feierabend ans Meer zum Baden fahren. Vor allem aber – und das war viel wichtiger – konnte sie hier ihre Leidenschaft leben! Sie konnte graben, bohren und entdecken, sie half beim Vermessen und Katalogisieren und Übersetzen und leistete dadurch einen Beitrag zur wissenschaftlichen Arbeit der Archäologen vor Ort – und bei alldem träumte sie ständig davon, etwas zu finden. Regelmäßig wurde sie von der Ahnung gepackt, dass dieser Ort in den Tiefen seines Gesteins etwas verbarg, etwas geheimnisumwittert Uraltes. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass sie hier sein musste. Es war beinahe so, als gäbe es eine Verbindung zwischen ihr und diesen Steinen. Was natürlich kompletter Schwachsinn war, schließlich konnten Steine weder reden noch lebten sie. Sie war sich bewusst, dass ihre seltsamen Anwandlungen kaum zu verstehen waren. Sie verstand sie ja nicht einmal selbst.

Sie ließ ihren Blick schweifen, über gepflasterte Wege, Säulen und Rasenflächen. Erst vor kurzem hatte man hier einen durch Vulkanasche konservierten, antiken Stehimbiss entdeckt, dessen farbenfrohe Bilder von flatterndem Federvieh, einem sympathisch aussehenden Hofhund und ein paar Enten ihr jedes Mal, wenn sie daran vorbeikam, ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Selbst Joella, die gerade zu Hause im Studentenwohnheim hockte und hoffentlich wirklich ihre Blumen goss, hatte von dem sensationellen Fund gehört. „Pass auf, vielleicht findest du ja auch bald irgendwas, eine altrömische Babyrassel oder einen pompejischen Nachttopf!", hatte sie flapsig gesagt. Nur war ihrer Stimme anzuhören gewesen, dass sie ungefähr so fest daran glaubte wie an den Fang eines Urzeitfischs im Stadtteich.

Und wenn schon!, ging es ihr durch den Kopf. Jeder Abdruck eines Grashalms im Stein, jede klitzekleine Scherbe einer Vase ist total spannend!

Für das Entdecken und Forschen nahm sie die Hitze in Kauf, den Schmutz und den Staub und selbst die Schwielen an ihren Händen. Manchmal kam ihr ihre Kelle schon als Verlängerung ihres Armes vor, so oft hatte sie in den letzten Wochen an Steinen und Mauern herumgekratzt.

Eine Krähe, die ein Stück entfernt mit flatternden Flügeln auf einem Mäuerchen landete, riss sie aus ihren Gedanken. Der Vogel trippelte auf den Steinen entlang, blieb stehen und sah sie aus schwarzlackierten Augen an. Sein Gefieder glänzte metallisch schwarz im Sonnenlicht.
Sie hatte ihr Archäologiestudium vor einem Semester begonnen, obschon ihre Eltern der Idee nicht gerade positiv gegenüberstanden. Auch jetzt noch hatten sie Zweifel, ob dieses Studium wohl für ihre einzige Tochter das Richtige war. Als sie Mammina von ihrem Vorhaben, Archäologie zu studieren, erzählt hatte, hatte diese ein so entsetztes Gesicht gemacht, als hätte sie ihr mitgeteilt, dass sie der Mafia beitreten wollte. Warum auch immer, ihre Mutter war davon überzeugt, sie würde durch ihr Studium zu einer Art weiblichem Indiana Jones mutieren.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now