numero dos ;; mayday

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SIYEON KONNTE KEINEN klaren Gedanken fassen. Sie wusste nur eines: sie musste die Hexe finden.

Ihre Füße berührten den Boden kaum noch, sie flog fast über die Erde, über die Steine im Wald, ihr Atem rasselte und ihre Lungen brannten, doch sie verlangsamte ihr Tempo nicht um eine Sekunde. Sie musste sich beeilen, bevor es zu spät war.

Es war ein Fehler. Sie hatten eine Unschuldige bestraft. Und sie hatten es gewusst.

Die Großen der Akademie hatten es alle gewusst. Sie verstand den Grund nicht, und sie wollte auch nicht darüber nachdenken. Wollte der Sache nicht auf den Grund gehen, wollte nicht wissen, warum die Akademie, ihre Familie, der sie immer vertraut hatte, sie so hintergangen hatte. Warum sie es auf sich nahmen, die Mädchen, ihre Schützlinge und vor allem Siyeon zu belügen. Sie konnte sich nicht damit beschäftigen, also rannte sie. Immer weiter. Immer schneller.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon rannte. Sie wusste auch nicht, wo sie schlafen sollte, falls es spät werden würde. In ihrer Hektik hatte sie nicht weiter über ihr Vorhaben nachgedacht, und auch jetzt erschien es ihr nicht besonders relevant. Sie hatte nur einen kleinen Stoffhasen dabei, den Bora ihr vor langer Zeit geschenkt hatte, sonst nichts.

Sie hatte ihn ganz vergessen, aber am Morgen hatte sie ein violettes Flimmern aus einer Kiste wahrgenommen. Es war der Hase gewesen. Einer mit abgekautem Ohr und einem eingerissenen Arm. Einer wie Bora. Und sie war sich sicher, dass er sie zur Hexe führen würde.

Immer dem violetten Flimmern hinterher. Sie mochte violett. Und Purpur. Vielleicht mochte sie auch einfach nur Bora, denn nun verstand Siyeon sie. Wer wusste das schon?

Sie würde nicht wissen, wie sie die geschwächte und verletzte Frau heilen sollte, das überschritt ihr Können. Sie konnte einfach nur hoffen, dass sie Bora rechtzeitig fand. Und das die Wächter der Akademie ihr nicht schon schlimmeren Schaden zugefügt hatten.

Bora durfte nicht sterben. Mit ihr würde auch das Wissen sterben, welches Siyeon immer noch mit sich herumtrug. Es durfte nicht passieren.

Ihr Körper schmerzte vor Anstrengung, in ihrem Kopf befand sich Boras Angst. Die Angst vor sich selbst, die fast zur Zerstörung der Akademie geführt hätte. Boras Gedanken und Erinnerungen belagerten ihren Kopf und wurden mit jeder vergehenden Minute lauter.

Sie hoffte nur, dass es ein Zeichen war, dass die Magierin ganz in der Nähe sein würde. Und sie behielt recht.

Auf einer dunklen Lichtung tief im Wald fand sie Bora, atmend und lebend, und schloss sie in ihre Arme. Es fühlte sich seltsam vertraut an, so als ob sie ihr Leben lang aufeinander gewartet hätten.

Gedanken und Mensch.

Sie waren endlich wieder vereint.

•••

MINJI IST WEG, hieß es am Morgen. Yoohyeon war gerade aufgewacht, als sie die lauten, panischen Schritte im Gang hörte. Niemand sagte ihr genau, was passiert war. Es war zu chaotisch, um sich überhaupt anständig zu unterhalten.

Trotz aller Aufruhr ging sie ihren normalen Tätigkeiten nach. Sie hätte sowieso nur die Untersuchungen gestört. Falls es denn welche gab. Sie nahm sich ihr Frühstück und ging auf die Wiese. So wie jeden Tag.

Doch heute konnte sie sich nicht auf ihr Buch konzentrieren. Auch das Zeichnen wollte nicht funktionieren, sie machte sich Sorgen.

Neben ihr unterhielten sich Sooyoung und ihre Freundin, beide nicht älter als neun, über das Geschehen.

Sie konnten es nicht glauben. Minji, ihre Unnie, die Älteste im Bunde, sollte verschwunden sein. Minji, die für die Mädchen wie eine zweite Mutter war, eine Person, der sie sich anvertrauen konnten.

𝘀𝗽𝗿𝗲𝗮𝗱 𝗺𝘆 𝘄𝗶𝗻𝗴𝘀  | dreamcatcherWhere stories live. Discover now