Ich hatte mich wirklich angestrengt, ihr zuzuhören, aber sobald sie das Thema anschnitt, schalteten meine Ohren automatisch auf Durchzug und ein Ärger brauste in mir auf, der mit jedem weiteren Wort anschwoll. Wie ein immer größer werdender Tornado aus Emotionen.

Mehrmals hatte ich versucht, sie zu überzeugen, mich wenigstens kurz an die frische Luft zu lassen, doch jedes Mal hatte sie mich zurück auf den Dachboden gezerrt und mich wieder ins Bett verfrachtet – natürlich immer darauf bedacht nur meinen gesunden Arm zu umklammern. Ich war eine Gefangene in meinem eigenen Haus.

Mir riss mittlerweile wirklich der Geduldsfaden, also hatte ich gestern vor dem Schlafengehen den Entschluss gefasst, mich vor den ersten Sonnenstrahlen aus dem Haus zu schleichen und wenigstens ein Stück Laufen zu gehen, damit meine Kondition nicht nachließ.

Bei dem Eignungstest würde ich zehn Kilometer hinter mich bringen müssen und wenn ich ganz vorn mit dabei sein wollte, dann würde ich viel Ausdauer benötigen, um eine gute Zeit zu erreichen. Ich wusste von Maddox, dass die Prüfer es den Teilnehmern aus Zone Drei und Vier besonders schwer machten – sie spielten gerne ihre Machtspielchen, als hätten sie das Sagen, derweil waren auch sie bloß Glieder in einer langen Hierarchiekette. Sie mochten uns nicht und ich mochte sie nicht. Der einzige Unterschied war der, dass sie uns das bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bot, spüren ließen. Auch wenn das Recht verlauten ließ, dass wir gleich beurteilt werden sollten, war dem nicht so. Wenn ich also nicht besser war als die anderen, hatte ich keine Chance.

Das kleine Schlafzimmer meiner Mutter grenzte direkt an das Esszimmer unseres Hauses, weshalb mein Herz immer stärker in meiner Brust klopfte, als ich die Treppe hinunterlief und die Stufen ein leises Knarzen von sich gaben. Wenn meine Mum mich hierbei erwischte, dann würde ich monatelang keinen Schritt ohne ihren Kontrollblick tun können und die Prüfung konnte ich dann wahrscheinlich ganz abschreiben.

Es war fünf Uhr, die Sonne würde in eineinhalb Stunden aufgehen und meine Mutter wecken – sie wurde immer von den Sonnenstrahlen munter. Bis dahin musste ich wieder zurück sein. Ich hatte noch gestern Abend dagelegen und mir ausgerechnet, wie viel Zeit mir blieb.

Die Strecke durch den Wald bis zu Maddox Laden betrug fünf Kilometer. Für den Hin- und Rückweg brauchte ich normalerweise fünfzig Minuten, wenn ich gut in Form war auch weniger. Da ich jedoch noch vorsichtig mit meiner Verletzung umging, wollte ich heute nur die Hälfte der Strecke laufen. Das hieß, ich bräuchte im schlimmsten Fall eine halbe Stunde bis zum Wendepunkt und wieder zurück zum Haus.

Es gab einen alten Wachturm, den ich an meinem ersten Tag hier in Zone Vier im Wald entdeckt hatte. Die Strecke hier bis dorthin betrug etwa zweieinhalb Kilometer und bildete den Übergang zum dritten Quartal.

Die Wächter hatten den kleinen Stützpunkt genutzt, um die Rebellen von der Mauer fernzuhalten, indem sie auf alles feuerten, was sich in ihrem Umfeld bewegte. Die dicke Betonwand konnte zwar nicht den Nebel fernhalten, doch sie hielt hervorragend Menschen davon ab, dumme Dinge zu tun – Rebellen und Bürger gleichermaßen. Sie schirmte die vierte Zone vom äußersten Ring ab und bedeutete somit auch für die Bewohner von Circle das offizielle Ende des Stadtlandes. Zusätzlich zur Mauer hatte man eine Filtermembran über der Stadt errichtet, die den Nebel davon abhielt, bis über die Mauer vorzudringen und uns alle der Reihe nach umzubringen.

Die Dämpfe waren neben den Rebellen einer der Gründe, warum das Überqueren der Grenze verboten war – außer für Wächter der Schutzeinheit, die zu Einsätzen dorthin geschickt wurden. Wer einmal einen Fuß auf die andere Seite setzte, der hatte keine Chance mehr zurückzukehren.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum man so etwas versuchen sollte, aber bekanntlich sollte man ja das tun, was man nicht lassen konnte.

Captured | Band 1Where stories live. Discover now