der Schattenpianist

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Sie befand sich in einer langen leeren Straße. Es hatte aufgehört zu regnen. Das fahle Laternenlicht spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Ohne sich umzusehen eilte sie an den nicht enden wollenden Hausreihen vorbei. Es war eine unheimliche Gegend. Und die Umstände machten sie noch unheimlicher. Das Mädchen hatte sich das dunkle Haar mit einer Blumenhaarklammer zurückgesteckt, so konnten ihr die Strähnen nicht in die Stirn fallen und die Sicht nehmen. Das Päckchen hielt sie fest an ihre Brust gepresst. Ja, sie hatte sich auf die Umstände eingestellt, doch in den Minuten in denen sie diese ewige Straße entlanglief war das einzige was sie beschäftigte eine kleine Melodie. Sie ließ sie einfach nicht los. Zunächst dachte sie nur an sie, doch bald begann sie sie laut vor sich her zu summen. Plötzlich nahm jemand aus der Dunkelheit pfeifend ihre Melodie auf und beendete das Lied mit der letzten Zeile, nur wenige Meter neben ihr. Das Mädchen hielt inne. Wie gelähmt starrte sie in die Dunkelheit zwischen zwei der Häuser aus der das Pfeifen gekommen war.

„Eine ziemlich riskante Melodie für diese Gegend."

 Endlich trat eine Gestalt aus der Dunkelheit. Zunächst konnte das Mädchen von ihrem Gesicht nur ein leichtes Grinsen sehen. Im Näherkommen erkannte sie dann, dass es sich um einen Jungen, kaum größer als sie selbst, handelte.

 „Was meinst du?" , fragte sie. Der Junge kam auf sie zu. Er wurde nun vom Schein der Laterne getroffen. Dieser Junge hatte ein sehr auffälliges Gesicht, denn es schien fast unnatürlich schön und etwas puppenartig. Genauso seine großen tiefblauen Augen und sein glattes gleichmäßig braunes Haar. Diese seltsam unpassende Schönheit an einem Ort wie diesem ließ dem Mädchen einen kalten Schauer über den Rücken laufen

 „Kennst du denn nicht die Geschichten?", fragte er.

 Natürlich kannte sie die Geschichten, jeder kannte sie. Doch ihre Antwort lautete:

 „Nein."

 Der Junge blickte kurz zum dunklen Himmel hinauf, dann begann er zu erzählen:

„Es war vor drei Monaten. Ein kleines Mädchen ging diese Straße entlang, als sie ihm begegnete. Einem Wesen, dass wohl in der Hölle geschaffen und vom Teufel selbst auf die Erde gerufen wurde. Das Mädchen hörte sein Flüstern aus dem Schatten am Straßenrand. Da sie es nicht ganz verstand, blieb sie stehen und lauschte aufmerksam. Dummes Kind... Sie hörte ein leises Spieluhrenlied. Es klang wunderschön. Sie lauschte ihm bis es zu Ende war. Neugierig ging sie näher an den Schatten heran, um zu sehen woher dieses Lied gekommen war. Danach hörte man ihren schrillen Schrei. Anwohner eilten auf die Straße, um nach ihr zu sehen, doch das Kind war in der Dunkelheit verschwunden. Am nächsten Tag fand die Polizei dort, wo man sie zuletzt gesehen hatte eine Puppe, eine Puppe, die dem Mädchen bis aufs Haar glich. Die Puppe war am Bauch aufgeschlitzt, die Watte quoll aus ihr hervor und ihr fehlte das rechte Ohr. Die Leiche des Mädchens jedoch wurde nie gefunden. In den letzten drei Monaten gab es noch drei weitere solche Morde. Nie wurde die Leiche entdeckt. Immer nur eine Puppe des Opfers, an der man anscheinend genau sehen konnte, was der Mörder ihm angetan hatte. So war es bei dem Mädchen, dem alten Obdachlosen, der jungen Lehrerin und zuletzt vor zwei Wochen dem Gemischtwarenhändler."

 Der Junge machte eine Pause.

„Niemand weiß, wie der Mörder aussieht, die Menschen wissen nur, dass er sehr geschickt ist, und mit den Schatten verschmilzt. Einige meinen sogar, er würde die Schatten rufen. Außerdem ist da noch diese Melodie. Die Leute munkeln, immer wenn jemand kurz davor ist, von ihm ermordet zu werden, hört das Opfer seine Spieluhr dieses Lied spielen. Von den Menschen wird er der Schattenpianist genannt."

 „Aber es gibt hier genug Häuser. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es jemand bemerken würde. Und dann würde derjenige zur Hilfe kommen."

 „Siehst du das?", fragte er und deutete auf die umliegenden Häuser.

der SchattenpianistWhere stories live. Discover now