Kapitel 4: Ein Mann aus einfachen Verhältnissen

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Gustav Hoffmann hatte es im Leben zu sehr viel gebracht. Ihm, dem Sohn eines Landwirts, war es nie vergönnt gewesen, eine höhere Schule zu besuchen. Früh hatte er zuerst als Bergmann, dann als Hüttenarbeiter hart arbeiten müssen. Nichtsdestotrotz hatte er es geschafft, sich konsequent zum Geschäftsführer der Ruddeschen Hütte hochzuarbeiten, weshalb er sich anders als sein eigener Vater nie Sorgen darum machen musste, wie er seine Frau und die gemeinsamen vier Kinder ernähren sollte. Außerdem war er ein begnadeter Kirchenmusiker, der bei fast allen Gottesdiensten an der Kirchenorgel seiner Gemeinde saß.

Eigentlich hatte er nie geplant, alles, was er im Leben erreicht hatte, für eine Frau zu riskieren und schon gar nicht für eine selbstbewusste, moderne Frau, die nicht nur halb so alt war wie er, sondern auch noch die Tochter des Barons von Rudde, die aus einer völlig anderen Welt stammte. Er hatte in den letzten Jahren häufiger eng mit ihr zusammengearbeitet, weil der Baron ihr immer dann die Leitung seiner Geschäfte übertrug, wenn er auf Reisen ging. Dabei hatten sie einander näher kennengelernt, als es sich wahrscheinlich gehört hatte. Denn sie waren Freunde geworden, auch wenn es sich um eine sehr seltsame Freundschaft handelte und er sich nicht davon abbringen ließ, sie weiterhin zu siezen und mit „Gnädiges Fräulein" anzusprechen, während sie ihn längst „Gustl" nannte. Doch diese Freundschaft an sich war nicht das Problem, sondern das Interesse, das er darüber hinaus an Danielle von Rudde entwickelt hatte und das, wie ihn sehr wohl bewusst war aufgrund der vertraulichen Blicke, die sie ihm zuwarf, auch bei ihr vorhanden war: Diese heimliche Schwärmerei war aus so vielen Gründen unangebracht, dass er nicht einmal alle hätte aufzählen können, wenn er spontan nach ihnen gefragt worden wäre.

Aber wenn Danielle seine Nähe suchte wie jetzt, wusste er sich kaum zu helfen. Er hatte sie schon von Weitem durch das Fenster seiner Schreibstube gesehen. Sie war regelrecht über das Hüttengelände gestürmt, nachdem sie ihren Hengst beim Portier abgegeben hatte. Gustav seufzte. Es musste Danielle gar keine allzu große Laus über die sprichwörtliche Leber laufen, damit sie wütend wurde.

„Gustl, Du wirst nicht glauben, was mein Vater von mir verlangt", fing Danielle an, als sie sein Büro mit hochroten Wangen und verquollenen Augen betrat und die Tür hinter sich zuknallte, ohne sich darum zu scheren, dass es sich für eine junge Dame ihres Standes eigentlich nicht gehörte, allein mit einem Mann zu sein. „Ich soll heiraten!"

„Guten Tag, gnädiges Fräulein", sagte Gustav, stand auf und versuchte, die Tür wieder zu öffnen. Dies gelang ihm aber nicht, weil Danielle von Rudde ihm zuvorkam und den Türgriff in der Gand hielt. Somit war er gefangen und konnte nur hoffen, dass sich ihr Besuch in seiner Stube nicht herumsprach.

„Hast du etwa Angst, mit mir allein zu sein?", fragte Danielle in einem herausfordernden Ton.

Er stand direkt neben ihr und konnte den süßen Duft ihres Schweißes riechen. Ihr Zopf hatte sich fast vollständig gelöst, und ihr seidig-feines Lockenhaar fiel ihr fast bis auf den Po. Nur zu gerne hätte er gerne ihren Zopf vollständig gelöst, um ihn wieder zu flechten, und sie auch noch gerne woanders berührt... Zum Beispiel im Gesicht, das ganz geschwollen war von den heißen, salzigen Tränen, die sie kurz zuvor vergossen haben musste... „Es schickt sich nicht, dass ich mit Ihnen allein bin", stellte er in einem kalten, beherrschten Ton fest.

„Ach, wenn es nur das ist! Es schickt sich auch nicht, seine Tochter zum Heiraten zu zwingen. Trotzdem versucht mein Vater das gerade!", erwiderte sie. Ihr sarkastischer Ton verriet ihm, wie sehr sie die Forderung ihres Vaters verletzt hatte. Sie wollte ihren Vater mit ihrem Verhalten treffen. Um Gustavs Gefühle für sie scherte sie sich dagegen weniger, da sie einfach voraussetzte, dass diese vorhanden waren.

„Er ist halt besorgt um Sie, so wie es jeder gute Vater wäre!", meinte Gustav und wusste doch ganz genau, dass sein förmlicher Ton sie in den Wahnsinn trieb.

Umgehend schoss nämlich eine ihrer Augenbrauen in die Höhe, und sie packte, nein, sie umarmte ihn mit beiden Armen und drückte ihn so fest an sich, wie sie nur konnte. „Wirklich? Was ist mit dir? Bist du auch besorgt um mich und willst, dass ich heirate?"

„Das ist Ihre Entscheidung. Ich bin ein verheirateter Mann und kann Ihnen versichern...", begann er.

Sie unterbrach ihn jedoch, indem sie ihn küsste. Es war ein vorsichtiger Kuss auf seine Lippen, der verriet, dass sie noch nicht viel Erfahrung im Küssen hatte. Nichtsdestotrotz versuchte sie, ihn zu verführen.

Er war natürlich stärker als sie, weshalb er sich recht schnell von ihr hätte befreien können. Allerdings zögerte einen Moment. Denn schließlich war sie die Tochter des Hüttenbesitzers und konnte jetzt alles Mögliche behaupten, also auch, dass er sie zuerst geküsst hatte. Zwar ging er davon aus, dass auch der Baron wusste, wozu seine Tochter fähig war. Aber ob er das öffentlich anerkennen würde, war eine ganz andere Geschichte. Welcher Vater würde das schon tun? Er selbst sicherlich nicht. Später warf er sich selbst vor, dass er vielleicht falsche Hoffnungen bei ihr geweckt oder ihr gar allzu offensichtlich signalisiert hatte, dass er in der Tat an ihr ein Interesse entwickelt hatte.

Daher verharrten sie einen Augenblick zu lange in dieser unvorteilhaften Stellung, wobei Gustav es letzten Endes schaffte, sich noch in dem Ausmaß selbst zu beherrschen, dass er ihren Kuss nicht erwiderte und sie schließlich von sich wegschob.

„Was ist los? Du hast doch nicht etwa Angst, dass uns jemand erwischen könnte? So kenne ich dich gar nicht, Gustl!", rief sie ihm nach, da er sich sofort aus ihrer Nähe entfernt und ihr den Rücken zugedreht hatte.

Der provozierende Tonfall ihrer Stimme verfehlte seine Wirkung nicht. Sie wusste nur allzu gut, dass Gustav ein stolzer Mann war. „Ihr Vater hat Recht: Sie brauchen einen Mann, und zwar bald! Und wenn es nur einer ist, der Ihnen das Küssen beibringt und Sie oft küsst. Denn offenbar brauchen Sie das dringend! Und was mich betrifft, so bin ich nicht an unerfahrenen, kleinen Mädchen interessiert!"

Er hatte sie ebenfalls verletzten wollen, und seine Aussage verfehlte ihre Wirkung nicht. „Nun, ich bin alles andere als ein kleines Mädchen, und das weißt du nur zu gut. Aber vielleicht hättest du es lieber, wenn ich eine so perfekte Puppe wäre wie meine Stiefmutter?"

„Die Baronin ist eine wundervolle Frau. Sie sollten Sie sie Sich vielleicht eher zum Vorbild nehmen, als ständig über sie herzuziehen!", erwiderte er. Denn im Gegensatz zu Danielle mochte er Constanze von Rudde sehr. Eigentlich mochte jeder auf der Hütte die Baronin, die trotz ihres eigenen schweren Schicksals immer ein Lächeln und ein aufmunterndes Wort für jeden Arbeiter ihres Mannes übrig hatte. Da sich ihre letzte Fehlgeburt spät in der Schwangerschaft ereignet hatte, war diese nämlich keinem Menschen in den umliegenden Dörfern verborgen geblieben, und viele Frauen, darunter seine eigene, hatten damals für die Baronin gebetet und dass sie diese Krise überstehen würde.

„Das werde ich nie tun, und das weißt du auch! Wie kannst du dich nur unterstehen, mich zuerst ein ‚kleines Mädchen' zu nennen und mir dann vorzuschlagen, mir Constanze zum Vorbild zu nehmen! Was ist heute nur in dich und meinen Vater gefahren!", entgegnete Danielle entrüstet und rauschte so schnell aus seiner Schreibstube, wie sie diese wenige Minuten vorher betreten hatte.

Gustav atmete tief durch und war froh, dass sie gegangen war. Er konnte nur inständig hoffen, dass keiner von den Arbeitern im falschen Moment auf dem Hof gewesen war und durch das Fenster der Stube gesehen hatte, was sich in dieser gerade zugetragen hatte.

Eine unerhörte Affäre Where stories live. Discover now