Kapitel 1: Der Baron

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Nichts bereitete dem Baron Bernhard von Rudde eine größere Freude, als seine Frau und Tochter zufrieden lächeln zu sehen. Er war ein gutmütiger Mensch, der seine Familie von ganzem Herzen liebte und der als Besitzer einer Eisen- und Stahlhütte stets um das Wohlergehen seiner Arbeiter besorgt war. Aus diesem Grund erfreute er sich bei seinen Arbeitern und deren Familien einer so großen Beliebtheit, dass es sogar hieß, diese würden beim sonntäglichen Kirchgang die Familie von Rudde in ihre Gebete miteinschließen.

Dabei unterschied sich das Leben der Adelsfamilie dermaßen von dem ihrigen, dass man eher davon ausgegangen wäre, dass die einfachen Leute neidisch auf das Schlösschen der von Ruddes geschielt hätten. Es handelte sich schließlich um das alte Jagdschloss des früheren Fürsten L., der die versteckte Lage dieses Ortes in einem dichten Wald in der Nähe seiner Residenzstadt S. zu nutzen gewusst hatte, um dort seinen beiden größten Leidenschaften, dem Jagen von Tieren und von schönen, absolut nicht standesgemäßen Frauen, zu frönen. Nachdem die Franzosen, die nicht einmal eines Tagestritt entfernt von dem Schlösschen lebten, zuerst eine Revolution in ihrem eigenen Land begonnen und diese dann ins Ausland getragen hatten, war der Fürst mitsamt seines Hofes zwar auf der andere Seite des Rheins vertrieben worden. Aber seine liebste Nebenresidenz war anders als die meisten Schlösser in der Gegend nie auch nur geplündert worden. Da die Bauern aus den umliegenden Dörfern die französischen Soldaten weitaus mehr gehasst hatten als ihren ehemaligen Herrscher, für dessen Seelenheil sie angesichts seines lasterhaften Lebenswandels immer noch beteten, hatten sie die Franzosen nicht darauf hingewiesen, dass es noch dieses Schloss gab, das sie entweder vergessen hatten anzuzünden oder dessen Existenz sie schlichtweg ganz vergessen hatten.

Das Schloss hatte dadurch die Zeit der Französischen Revolution und Napoleonischen Kriege überlebt, bot dem jungen Baron von Rudde allerdings einen traurigen Anblick, als er die Gegend zum ersten Mal besuchte: Das Dach war an mehreren Stellen undicht, kaum ein Fensterglas war unversehrt geblieben, wodurch einige Rosenstöcke und Büsche bereits in die Räume hineingewachsen waren, und was noch von den kostbaren Möbeln aus dem vergangenen Jahrhundert vorhanden war, war vollends in den Besitz der im Haus herrschenden Nager-Geschlechter übergegangen.

Das alles hielt Bernhard von Rudde damals jedoch nicht davon ab, der Witwe des Fürsten L. das Schloss zusammen mit den ihr noch verbliebenen Ländereien abzukaufen, zumal sein eigentliches Interesse der kleinen Hütte galt, die der Fürst wenige Jahre vor der Revolution auf Anraten seiner Berater hin hatte bauen lassen, aber ebenso wie den aufstrebenden Bergbau in der Region stiefmütterlich behandelt hatte. Der junge Adlige Bernhard, der sich von seinen Bekannten „Bernd" nennen ließ, hatte dagegen die Zeichen der Zeit erkannt: Die Nachfrage nach industriell gefertigtem Eisen und Stahl stieg beständig, wobei England längst eine Vorreiterrolle in der Industrialisierung eingenommen hatte. Hinzukam, dass die neue Zeit des Friedens auf dem europäischen Kontinent für ihn kein natürlicher Zustand war.

Denn er war in der Zeit der Napoleonischen Kriege geboren worden und gehörte einer Familie aus Pommern an, die in den vergangenen Jahrhunderten in fast allen Kriegen Preußens mitgekämpft hatte. Sein Vater war in der Völkerschlacht bei Leipzig gefallen und ein Onkel in der Schlacht bei Jena und Auerstedt. Deshalb glaubte der Baron fest daran, dass es früher oder später erneut zu einer größeren kriegerischen Auseinandersetzung kommen würde und dann Waffen aus seiner Hütte gebraucht würden.

Er, der ein Preuße durch und durch war, war durchaus verwundert darüber, dass es anders gekommen war: Sein beträchtliches Vermögen hatte Bernhard von Rudde nämlich hauptsächlich mit dem Bau von Dampflokomotiven und Eisenbahnschienen gemacht, während der längste Krieg, den er in den letzten fünfzig Jahren erlebt hatte, der in seinem eigenen Heim gewesen war.

Denn seine Frau und Tochter waren sich spinnefeind, und es gab nicht wenige Stimmen im Haushalt des Barons, die befürchteten, dass die Geschichte eines Tages noch einen tragischen Verlauf nehmen würde. Leider sollten sie Recht behalten.

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