Kapitel 1

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•Gwendolyns Sicht•
Alles war ruhig. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Es war zu ruhig. Man hätte eigentlich das Rascheln von Buchseiten beim umblättern oder den Fernseher hören müssen. Doch alles war ruhig. Leise ging ich die Treppe runter und in Grandpas Arbeitszimmer, wo er normalerweise um diese Uhrzeit war. Doch als ich das Zimmer betrat erschrak ich. Er lag mit blasser Haut am Boden und regte sich nicht. Auch als ich ihn ansprach, zeigte er keine Reaktion. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Lady Arista war nicht hier, sie war mit ihrer Schwester in der Oper. Ich schnappte mir mein Handy und wählte den Notruf. Als die Sanitäter kamen und erste Hilfe leisten wollten, konnten sie nur noch Grandpas Tod feststellen. Er hatte einen Herzinfarkt. In dem Moment, als ich verstand, dass Grandpa, der mich aufgezogen hatte, seit Mam und Dad gestorben sind, auch tot war, zerbrach etwas in mir. Und da schwor ich mir, niemanden mehr näher an mein Herz kommen zu lassen, als nötig. Leslie war da eine Ausnahme. Sie war schon seit ich denken konnte meine beste Freundin und wir gingen immer durch dick und dünn. Sie stand und steht mir immer zur Seite. „Gwendolyn, nun mach nicht so ein Gesicht und iss was", mahnte mich Lady Arista und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Zu ihr hatte ich nie so eine enge Beziehung wie zu Grandpa, obwohl sie meine Urgrossmutter ist. Und seit Grandpa vor einigen Monaten gestorben ist, habe ich mich noch mehr verschlossen. Ich ass meinen Teller leer, verabschiedete mich schliesslich von Lady Arista und ging in mein Zimmer. Als ich in meinem Bett lag, starrte ich an die Decke und fragte mich einmal mehr, weshalb ich alle, die mir wichtig waren, verlieren musste. Erst Mam und Dad, dann, seit bald einem Jahr, meinen Grandpa. In der Schule hatte ich keine Freunde bis auf Leslie, was daran lag, dass ich niemanden mehr an mich heranlasse. Zu gross ist meine Angst, dass ich diese Person mögen und dann verlieren könnte.

•Gideon Sicht•
„Gideon, hast du alles bereit für die Schule morgen?", fragte mich meine Mam. „Ja, frag lieber Raphael", antwortete ich genervt. Ich hatte null Bock auf London. Hier lauerten überall Erinnerungen von früher. Erinnerungen an Dad. Leider starb er vor einigen Jahren. Als Mam ihren Neuen, nun Ex-Mann, geheiratet hat, sind wir nach Antibes in Frankreich gezogen. Ich mochte ihn von Anfang an nicht und weigerte mich auch, seinen Namen Bertelin anzunehmen. Doch diese Beziehung ist in die Brüche gegangen. Nun, da ihre Scheidung durch ist zogen wir wieder nach London. Ich war zwar froh, dass wir Nenn-mich-doch-Papa los sind, konnte aber nicht verstehen, weshalb wir wieder nach London ziehen mussten, obwohl wir alle Freunde in Frankreich hatten. Und zum grossen Übel musste ich auch noch eine Stufe weiter unten, in derselben wie mein Bruder Raphael, beginnen, damit ich nachher in London Medizin studieren konnte. Ich seufzte. Wieso war alles so ungerecht? Ich stand auf und schnappte meine Jacke. „Wo willst du hin?", wollte Mam wissen. „Ich gehe zu Dad", antwortete ich knapp und ging. Zum ersten Mal seit acht Jahren besuchte ich sein Grab. Auf dem Friedhof war ich alleine und es war irgendwie gruselig. Trotzdem blieb ich fast eine halbe Stunde bei Dads Grab und dachte an die Zeit mit ihm. Ich hatte es geliebt, im Heyde Park mit ihm Fussball zu spielen. Und unser Baumhaus, das wir an einem Waldrand gebaut hatten. Ob es noch da war? Ich würde es mal suchen müssen. Als ich gehen wollte, fiel mir der Grabstein neben dem von Dad auf. Er war etwas grösser als die anderen. In ihm waren die Namen „Lucy und Paul De Villiers" eingraviert. Irgendwoher kam mir der Name bekannt vor. Paul de Villiers... Wo hatte ich den Namen schon wieder gehört? Ich grübelte eine Weile nach, bis es mir einfiel. Paul der Bruder meines Onkel Falk. Und Lucy war seine Frau. Onkel Falk war eigentlich gar nicht mein richtiger Onkel. Er war nur ein weit entfernter Cousin von Dad. Sie hatten denselben Ururururururgrossvater, so viel ich wusste. Falk musste den Tod seines Bruders sicherlich schwer getroffen haben. Ein Blick auf die Daten verriet mir, dass Paul nur gerade sechsundzwanzig Jahre alt wurde. Was wohl passiert war? Ich beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken, schliesslich kannte ich ihn ja nicht.

Love HurtsWhere stories live. Discover now