OS 2 - Ein Gefallen

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Link zur Vertonung: https://www.youtube.com/watch?v=lR_2ZAg1s98



OS 2 - Ein Gefallen




Er atmete schwer aus und sein Atem produzierte kleine Wölkchen in der eiskalten Luft. Was zur Hölle trieb er hier eigentlich? Hatte er nicht gesagt, er würde so etwas Peinliches und Unnötiges niemals machen? Er starrte auf die Gleise und konnte fast schon froh sein, dass heute nicht der Hogwartsexpress zurück von Hogwarts kam. Dieser würde erst morgen die Schüler von Hogwarts nachhause bringen, damit diese ihre Weihnachtsferien bei ihren Angehörigen verbrachten. Sein Kiefer spannte sich an, als ein älterer Herr an ihm vorbeiging und ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Zur Hölle, er hasste es. Hasste es, wenn er angestarrt wurde. Er malte sich dann immer aus, was die Leute über ihn dachten oder wie sie ihn in Gedanken verteufelten, weil er nicht in Askaban saß, sowie ein paar andere ehemalige Todesser. Sicher, nicht alle dachten so, aber immer noch eine Menge.

Der Mann studierte den Fahrplan und Draco fragte sich, ob er auch wartete, bis der Zug eintraf, um jemanden abzuholen oder selbst mit der Lok zu fahren.
„Merlin, nochmal.", murmelte er leise und vergrub seine Hände tiefer in seinen Manteltaschen. Es war eisig.
Wieso war er nochmal hier? War er nicht deutlich genug gewesen, als sie sich vor vier Wochen das letzte Mal gesehen hatten? An dem Wochenende, als Blaise eine Halloween Party geschmissen hatte und sie extra das Wochenende in London verbracht hatte. Er hatte ihr gesagt, dass er nicht so ein Kerl war wie Blaise, der wie ein Idiot in der Kälte rumstand, um seine Freundin vom Bahnhof abzuholen, die alt genug war, um zu apparieren. Und was tat er jetzt? Auf Astoria warten. Seine Freundin. Idiotisch.

Sie hatten es nicht ausgesprochen, geschweige denn definiert. Aber er war ohnehin der Meinung, dass manche Sachen nicht ausgesprochen werden mussten. Es wurde manchmal ohnehin viel zu viel gesprochen. Außerdem hatte es sich irgendwie ergeben. Nach dem ersten gemeinsamen Kaffee gab es viele danach. Bis sie nach Oxford aufbrach, sahen sie sich beinahe jeden Tag und dann war ihr erster Brief eingetrudelt. Nach dem dritten hatte er sie dort besucht. Er hätte es gerne mehrmals geschafft, aber er hatte zu tun und auch sie war beschäftigt mit ihrem Studium. Und dann war vor ein paar Wochen diese Halloween Party gewesen, bei der Tracey davon geschwärmt hatte, dass Blaise sie an ihrem letzten Jahr ständig vom Bahnhof mit Blumen abgeholt hatte und das so eine romantische Geste war. Er hatte es lächerlich gefunden und doch stand er jetzt selbst hier. Aber ohne Blumen. Definitiv keine Blumen. So kitschig würde er nie werden. Nicht einmal für Astoria.

Was hatte sich verändert? Das letzte gemeinsame Wochenende hatte alles verändert. Das Wochenende an der Halloween Party. Draco spürte, wie seine Wangen bei den Gedanken glühten. Sie war mit ihm nach der Party in seine Wohnung gekommen. Sie hatten sich geküsst, so wie schon viele Male zuvor und irgendwann hatte sich die Stimmung verändert und sie waren weitergegangen. Er hatte es nicht erwartet. Nicht einmal erhofft, es war einfach passiert. Wenn er ehrlich mit sich war, hatte er eher gedacht, dass dieser Schritt vielleicht in einem halben Jahr anstand, aber nicht schon jetzt. Er hing diesen Gedanken nach. An ihre weichen Küsse. Ihre samtige Haut an seiner. Ihr Stöhnen in seinen Ohren. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als ein angenehmer Schauer durch ihn durch rieselte, als er daran dachte, wie sie seinen Namen stöhnte. Es war das Sinnlichste, was er jemals gehört hatte.

Der ganze Sex war... berauschend und intensiv gewesen. Sie hatten den ganzen nächsten Morgen praktisch nur im Bett verbracht. Kaum redend. Er schloss für einen Moment die Augen. Dachte daran, wie er jeden Zentimeter ihres Körpers gestreichelt und liebkoste hatte. Er hatte ihr dabei zugesehen, während sie an ihn gekuschelt dagelegen hatte und das Tageslicht in den Raum gefallen war. Wie ihre Finger über seine Brust gefahren waren. Die feinen Narben nachgezeichnet hatten, die er Potter zu verdanken hatte. Und er hatte es zugelassen, dass ihre Fingerspitzen das verblasste Mal berührten. Nun zumindest für ein paar Minuten, bevor er seinen Arm weggezogen hatte mit einem schweren:„Nicht."

Es war der Schandfleck, den er für immer mit sich tragen würde, so wie seine Vergangenheit. Als er sich dann aufgesetzt hatte, hatte sie ihn dabei aufgehalten, das Bett zu verlassen und hatte sanft sein Gesicht umfasst.
„Es macht dich nicht zu einem schlechten Menschen, Draco."
Das sahen andere Leute nicht so. Sicher, seine Mutter tat es nicht und auch Freunde von ihm nicht. Aber die anderen... Er hatte ihr kaum in die Augen sehen können.
„Aber es zeigt, welche falschen Entscheidungen ich getroffen habe."
Fatale Entscheidungen.

„Menschen machen Fehler, dazu ist das Leben da.", hatte sie erwidert. „Und wichtig ist doch nur, dass du daraus gelernt hast und zu dem Menschen wirst, der du sein möchtest."
Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte. Sie einen Moment nur angesehen, während sie ihn so liebevoll und milde angeschaut hatte, dass sein Herz sich schmerzhaft zusammengezogen hatte. Er glaubte, ihren Namen gewispert zu haben, bevor sie sich etwas gestreckt hatte, um ihn zärtlich zu küssen.

Er hatte sie erst am späten Nachmittag zum Bahnhof zurückbegleitet. Sie hatte geredet und geredet. Er hörte ihr gerne zu. Sie war immer so positiv und fröhlich. Fast schon, als würde sie unter einem Zauber stehen und alle mit ihrer guten Laune anstecken. Sie war einfach ein zu guter Mensch für ihn. Und wäre er nicht egoistisch, müsste er sie wegschicken. Sie für immer aus sein Leben verbannen und nichts mehr mit ihr zu tun haben. Aber verdammt, er war ein Egoist und er wollte nicht auf sie verzichten. Auch, wenn ihm die Leute damals schon misstrauisch nachgesehen hatten. Nein, ihnen. Vermutlich fragten sie sich alle, was jemand von ihm wollte. Oder was er schlimmes mit der hübschen Frau vorhatte. Es war ihm an diesem Tag scheißegal gewesen.

Selbst als er sie zum Abschied auf dem überfüllten Bahnsteig geküsst hatte und sie versprach, wieder zu schreiben und dass sie Weihnachten zu ihm kommen würde, da ihre Eltern die Feiertage an der französischen Südküste verbringen würde.
„Ich werde dich nicht mit Blumen hier abholen.", hatte er gemeint und sie hatte darüber gelacht, was ihn zum Schmunzeln gebracht hatte.
„Ich bin ein großes Mädchen, Mr. Malfoy.", hatte sie ihn geneckt und als der Schaffner verkündet hatte, dass der Zug gleich losfahren würde, hatte sie ihn erneut geküsst, nur um einzusteigen und ihm zu winken. Er hatte genau hier gestanden, wo er jetzt stand und war erst appariert, als er den Zug nicht mehr gesehen hatte. Verrückt.

Es waren wieder Briefe gefolgt. Viele Briefe. Er schrieb so wenig. Wusste nicht, was er schreiben sollte. Sie dagegen füllte ganze Rollen an Pergament und er las sie immer gerne in der Mittagspause in dem kleinen Café, in dem er ihr einen Kaffee spendiert hatte. Die erste Tasse von vielen. Oder las sie am Abend nach einem anstrengenden Tag. Ihre Briefe waren die Lichtpunkte, bis sie wieder da sein würde. Und das wäre sie heute. Die ganzen Weihnachtsferien. Er hatte sich extra Urlaub genommen, damit sie bis ins neue Jahr zusammen Zeit verbringen konnten. Er hatte sogar Blaise abgesagt, der am Abend Karten für ein Quidditchspiel hatte. Er wollte Zeit mit ihr verbringen und dabei keine Minute vergeuden. Er atmete ruhig ein und aus und sein Herz machte einen seltsamen aufgeregten Hüpfer in seiner Brust, als sich die dunkelblaue Lokomotive dem Bahnhof näherte.

Er hatte sie das letzte Mal gefragt, warum sie mit dem Zug fuhr und nicht apparierte oder das Flohnetzwerk nahm und ihre Antwort war gewesen: „Das Zugfahren erinnert mich an Hogwarts, da werde ich immer ganz nostalgisch. Und außerdem lässt es sich so besser mit den Freundinnen reden."
Das war sie einfach. So war Astoria. Als der Zug ankam, gingen nur einige Türen auf und gut zwei Dutzend Menschen strömten heraus. Der Mann, der ihn vorhin so seltsam begutachtet hatte, stieg ein. Er wurde fast schon nervös, als er Astoria nicht entdeckte und sich schließlich doch noch eine Waggontür öffnete und daraus vier junge Frauen ausstiegen, darunter Astoria.

Er beobachte sie, ohne sich bemerkbar zu machen. Sie grinste über irgendetwas, was offensichtlich eine Freundin von ihr erzählte und als sie den Kopf hob, begegneten sich ihre Blicke. Es schien Verwunderung in ihren Augen aufzuleuchten, bevor sie dieses umwerfende Lächeln aufsetzte und sie die Blondine, die gerade erzählte, scheinbar unterbrach. Alle drei Freundinnen sahen zu ihm, als sie etwas sagte und in seine Richtung zeigte. Astoria drückte alle kurz, bevor sie mit ihrem kleinen Koffer auf ihn zuging. Der magisch verhexte Koffer, wie er genau wusste. Sie hatte heute eine Mütze auf dem Kopf, aus der ihre Haare hervorlugten. Er sah, wie ihre Freundinnen kicherten und die Köpfe zusammensteckten. Gesprächsthema Nummer eins, so viel stand für Draco fest.

„Mr. Malfoy.", fing sie an, als sie bei ihm ankam und er grinste.
„Miss Greengrass."
Sie schüttelte den Kopf, während sie zu ihm aufsah.
„Was machst du hier?"
„Dich abholen. Sieht man doch.", erwiderte er und er bemerkte, dass sie leicht errötete.
„Das wäre nicht nötig gewesen. Weißt du doch.", sprach sie weiter.
„Ich weiß. Sieh es als Gefallen an. Ich habe etwas gut bei dir.", erwiderte er. „Und ich habe keine Blumen dabei."
Sie grinste, während sie sich auf die Unterlippe biss. Er zog etwas aus seiner Manteltasche und sie blinzelte irritiert, als er ihr ein kleines, ledergebundenes Büchlein entgegenhielt, um das er eine Schleife gebunden hatte.
„Was ist das?", fragte sie und er zuckte die Schultern.
„Ich dachte, dass du damit mehr anfangen kannst, als mit Blumen."

Sie stellte langsam ihren Koffer ab und ihre Finger berührten sich, als sie ihm das Buch aus der Hand zog und die Schleife abmachte.
„Es ist ein Gedichtband.", sprach sie leise und er nickte kaum sichtbar.
„Ja. Auf Italienisch. Du hast das letzte Mal erwähnt, dass du die Gedichte von Grasso besonders gerne magst."
Sie sah erstaunt zu ihm auf.
„Das hast du dir gemerkt?"
Er wickelte eine Strähne ihres Haars um seinen Finger, nur um das weiche Haar durch seine Finger gleiten zu lassen.
„Ich merke mir alles."
Sie lächelte wieder, sah auf das Büchlein und dann ihn wieder an.
„Und du sagst, du bist nicht romantisch?"

War er nicht. Ganz bestimmt nicht. Sie drückte das Buch kurz gegen ihre Brust, bevor sie ihn wieder ansah und sich dann streckte, um ihn zu küssen. Er erwiderte den Kuss. Zog sie an sich und teilte ihre Lippen. Und es war ihm scheißegal, wer es sah und was die Leute dabei dachten. Er war vielleicht kein Romantiker, aber würde ihr, wenn es nötig wäre, die Welt zu Füßen legen. Nur für sie. Als sie sich voneinander lösten, glühten ihre Wangen.
„Ich habe dich vermisst."
Er liebkoste kurz ihre Stirn. Atmete ihren bekannten Duft ein.
„Ich dich auch.", antwortete er leise und nahm ihren Koffer, unter leichten Protest, damit sie sich bei ihm einhaken konnte, während sie mit der anderen Hand das Buch hielt.

„Was machen wir heute?", fragte sie aufgeregt, während sie den Bahnsteig verließen und er grinste.
„Auf was hast du denn Lust?"
„Hauptsache, ich kann mit dir Zeit verbringen."
Das sah er genauso.
„Ich dachte, wir machen uns einen gemütlichen Nachmittag und dann gehen wir essen."
„Du willst mit mir essen gehen?", fragte sie aufgesetzt schockiert. „Hast du keine Angst, dass man dich mit mir sehen könnte?" Und wenn schon. Ja, es sollte ihm etwas ausmachen. Aber verflucht, die ganze Welt konnte sehen, zu wem sie gehörte. Nein, sollte es sehen. Vielleicht machte ihn das zu einem Egoisten, aber dann war es etwas, was er nicht missen wollte, denn dann würde er sie nicht in seinem Leben haben. „Erzähl mir von deinem Tag.", bat sie und er seufzte.
„Es war langweilig."
Sie kicherte.
„Das sagst du immer."
Es war eben seine Arbeit. Der Alltag. Nur sie war der Lichtblick. Das Besondere, das sein Leben und ihn selbst erhellte. Sie war das Besondere. Sie alleine und da konnte er ihr doch so einen banalen Gefallen tun und sie vom Bahnhof abholen.

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