Kapitel 1

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Der Regen trommelt sein Lieblingslied an die Fenster, die von innen schon leicht beschlagen sind und durch einen feinen Dunst, den Passanten den Blick ins Innere verwehren. Ein leichter Nebel scheint auf den Strassen zu liegen, wo die fallenden Tropfen Kreismuster in die Pfützen zeichnen und die hüpfenden Schritte eines Kindes in Gummistiefeln anlocken, was dessen Mutter hingegen eher weniger gern sieht. Pauline hängt ihren tropfenden Regenmantel über die Stuhllehne als Hilda gerade Platz nimmt und sich auf den Stuhl gegenüber plumpsen lässt.

«Scheint als wären wir die einzigen Gäste.» Pauline setzt sich ebenfalls und nickt in Richtung des leeren Raumes. «Dürfte ja wohl am Wetter liegen, schliesslich kommt nicht jeder bei Regen in eine Eisdiele,» erwidert Hilda und beobachtet, wie sich die Regentropfen an der Fensterscheibe ein Rennen liefern. Sie sitzen immer am Tisch in der Ecke gleich am Fenster. Von da hatten sie den perfekten Überblick von Eingangstür bis zum Tresen ohne selbst im Durchzug zu sitzen oder anderen Kunden in die Quere zu kommen. Auch Sarah wusste das, die hier schon seit etwas über einem Jahr bediente und die beiden älteren Damen dank täglichen Besuchen kannte. Für die beiden spielt es keine grosse Rolle, was sich Petrus gerade ausgedacht hat. Der tägliche Cappuccino hier ist und bleibt obligatorisch, obwohl Pauline und Hilda eigentlich zusammen wohnten und deshalb den Kaffee auch bequem daheim miteinander hätten trinken können. «Hallo ihr beiden. Wie geht es euch?» «Ach Sarah, von all dem Regen spüre ich meine Arthritis, meine Knie fühlen sich an wie eingerostet und in meinem Kopf baut sich ein Hochdruckgebiet auf als wäre der Sturm nicht vor der Tür, sondern in meinem Oberstübchen,» grinst Pauline und zwinkert Hilda zu. Diese schüttelt bloss den Kopf und rollt mit den Augen. «Liebe Sarah, ich hoffe du weisst, dass unsere Pauline gerne für Übertreibungen neigt und stets betonen muss wie alt wir sind. Die Frau ist allerdings wie Unkraut, das geht nicht so schnell ein.» Pauline zeigt sich entrüstet über Hildas Erklärung, aber tatsächlich war es bloss ein Scherz. «Genau deswegen, Hilda, bist du meine beste Freundin. Nur eine beste Freundin kann mich Unkraut nennen und kommt ungestraft davon.» Sie lächeln sich gegenseitig zu, was auch Sarah ein Lächeln entlockt, nachdem sie wegen des Unkrautkommentars doch auch kurz nach Luft geschnappt hatte. «Zwei Cappuccino also?» «Das wäre zu gütig von dir, Sarah,» säuselt Pauline mit einem gespielt königlichen Nicken in ihre Richtung, worauf Sarah wie eine Prinzessin ihre Arbeitsschürze hebt als wäre es ein herrschaftliches Kleid. «Dass du immer alle verunsichern musst mit deinen Antworten,» schüttelt Hilda nochmals ihren Kopf, wobei ihre weissen Haare, die sie akurat auf Boblänge geschnitten hält, von einer Seite auf die andere. Pauline hingegen zuckt bloss mit den Schultern und dreht an einem ihrer diverser Fingerringe. «Das gibt dem Leben etwas Salz und Zucker. Du weisst, ich liebe die Reaktionen der Leute, wenn man sie überrascht oder vor den Kopf haut. Nur so kommen die echten, interessanten Reaktionen hervor.» Hilda streckt ihr ihren Zeigefinger entgegen: «Aber man kann so auch ungewollt und unsinnigerweise Gefühle verletzen.» Pauline prustet wenig überzeugend. «Ach Hilda, welche Gefühle habe ich mit meinen Altergebrechen nun verletzt? Sarah hat ja gefragt, wie es uns gehe!» Hilda antwortet nicht, aber ihre Augen sagten klar und deutlich: Lassen wir das lieber.

Eine Frau betritt die Eisdiele mit einem Jungen an der einen Hand und der anderen einen Regenschirm, der wohl schon bessere Zeiten gesehen hat. Sie steuern einen Tisch etwas weiter rechts an, wo die lange Sitzbank beginnt und sich für fünf weitere Tische der Wand entlang zieht. Der Junge springt sofort auf die Polsterbank, während seine Mutter ihm versucht noch vorher den Regenschutz auszuziehen und sich dann aus dem eigenen Mantel schält. Mit der Eiskarte in der Hand und glänzenden Augen, strahlt der Junge in Richtung Tresen und rutscht ungeduldig auf seinem Platz umher. «Darf ich eine grosse Kugel Dalmatinereis? Biiiiiittttee Mamiii,» bettelt der Junge und faltet seine Hände zusammen. «Bekommst du ja, aber lass mich kurz auf die Karte schauen, ja?» antwortet seine Mutter, worüber sich der Junge freut, aber deutlich gegen seine Ungeduld kämpft. Pauline und Hila beobachten die Szene, auch weil sie bloss zwei Tische davon entfernt sitzen, sonst keine andere Kundschaft zur Beobachtung vorhanden ist und weil es ihrer beider liebstes Hobby ist, auch wenn es Hilda um einiges diskreter verstand, Leute zu beobachten als Pauline. «Jayden, kannst du bitte etwas ruhiger werden. Wir bestellen dein Eis ja gleich, aber wir sind nicht die einzigen Gäste hier,» bittet die Frau ihren Sohn, der sich vor lauter Zappeln kaum mehr halten kann und mit seinen Stiefeln gegen das Tischbein trommelt. Sie streicht sich eine regennasse Strähne aus der Stirn, die sie leicht gerunzelt hat. Sarah balanciert derweil die beiden Cappuccino zu Pauline und Hilda, die sie dankend entgegen nehmen. Danach steuert sie zu den neuen Kunden, wobei der Junge nach einem Blick zu seiner Mutter, die ihm zunickt, aufgeregt und denoch gut erzogen seine Kugel Eis bestellt. Seine Mutter flüstert Sarah etwas zu und bestellt ihren eigenen Kaffee. «Was ist denn Dalmatinereis?» möchte Pauline von dem Jungen wissen. Dieser schaut sie mit überraschten Augen an, auch wenn Pauline nicht sagen kann, ob er überrascht darüber war, dass sie ihn über zwei Tische belauscht und nun gefragt hat oder über die Tatsache, dass sie nicht wusste, was Dalmatinereis war. «Na das Eis, das eben aussieht wie Milo,» erklärt Jayden ihr mit aller Selbstverständlichkeit. «Und wer ist Milo?» fragt Pauline weiter. «Mein Hund,» grinst Jayden stolz, während seine Mutter ihm die Hände mit einem Feuchttuch abwischt. «Er ist auch weiss und hat schwarze Punkte, aber diese verwischen im Regen nicht. Trotzdem musste er heute zuhause bleiben.» Nun dreht sich auch seine Mutter zu Pauline und erklärt: «Milo ist unser Dalmatiner, falls Sie sich jetzt fragen, wer Weisses mit schwarzen Punkten bei uns daheim sitzt.» Sarah kommt unterdessen mit der Kugel Eis und einem Latte Macchiatto an ihren Tisch. «Das muss ich mir merken,» meldet sich nun Hilda zu Wort. «Stracciatella ist ein kompliziertes Wort. Dalmatinereis ist viel einfacher. Warum heisst es überhaupt Stracciatella, frag ich mich. Was soll das heissen?» Sie zwinkert dem Jungen zu, der schon in beiden Mundecken weisse Spuren hat. «Keine Ahnung, aber das muss irgend so ein Mensch gewesen sein, der es den anderen Menschen nicht so leicht machen wollte,» plappert Jayden und schiebt sich den nächsten Löffel in den Mund. Pauline und Hilda amüsierten sich köstlich, Jaydens Mutter hingegen wirkte müde. «Entschuldigen Sie, aber Jayden ist ein sehr kommunikatives Kind. Manchmal bin ich froh darüber, manchmal hätte ich nichts dagegen, wenn er etwas zurückhaltender wäre. Wir möchten Sie nicht stören, also...» sie wendet sich dabei an ihren Sohn, «... lassen wir die Damen ihren Kaffee in Ruhe trinken, ja?.» Jayden nickt ergeben, grinst aber noch immer sein Lausbubengrinsen. Hilda legt währenddessen Pauline eine Hand auf die ihrer Freundin, um ihr stumm dasselbe zu sagen, wie die Mutter ihrem Sohn. Pauline prostet mit ihrer Kaffeetasse der fremden Frau zu und nickt dann zu Hilda zum Zeichen, dass sie verstanden hat. Zu gerne hätte sie noch weiter mit dem Jungen geplappert, aber seine Mutter schien tatsächlich müde zu sein. Also nippen sie beide an ihrem Cappuccino und beobachten den Regen vor der Tür. Eine dunkle Gestalt huscht an der Häuserwand entlang, um möglichst trocken zu bleiben, obwohl die Chancen dafür eher schlecht standen. Elektrische Lichtreklamen spiegeln sich in den Pfützen und verschwimmen zu verlaufenen Ebenbildern. Das Städtchen liegt verlassen da scheinbar, niemand ist an diesem grauen Tag aus dem Haus zu bringen, wenn man nicht unbedingt muss. Die Verkäuferin im Jeansladen gegenüber blättert gelangweilt in einem Magazin oder einer Zeitung auf dem Verkaufstresen. Der Mann am Kioskstand raucht am Eingang. Eigentlich ist es nicht besonders kalt, denn es ist schon Mai. Doch diese Woche ist der Himmel mehr grau als blau und für heute sind ganztägige Regenschauer vorhergesagt. Das Schwimmbad hat geschlossen, obwohl es erst kürzlich für die Sommersaison geöffnet hat. Die Kinder freuen sich schon auf die baldigen Ferien. Die Studenten hatten hingegen noch ihre grossen Schlussprüfungen vor sich und verkrochen sich wohl deshalb eher in Bibliothek oder im eigenen Bett. Die Ortschaft ist eigentlich nicht besonders gross, aber gross genug für eine höhere Schule, die wenige Studiengänge anbietet, worauf die Bewohner sehr stolz waren. Auch wenn es sich dabei eher um weniger populäre Studien handelte wie Kunst, Geschichte und Naturwissenschaften wie Geologie und Entologie. Das grosse Wirtschaftstudium, Medizin, Pädagogik und weitere Studien mit besseren Zukunftsplänen wurden an der Universität in der Nachbarsstadt unterrichtet.

Lost Boy - kleiner Junge auf grossem AbenteuerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt