Kapitel 7: Der Überfall

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Namen sind Identität, ohne Namen ist man ein Nichts.

„Kennt ihr das, wenn ihr kurz vor dem Ziel seid und ihr glaubt, es schon geschafft zu haben, und ihr dann erkennen müsst, dass dem nicht so ist? So ging es uns nach unserem dritten Reisetag.

Während der Reise durch den Holzwald war es friedlich gewesen. Wir waren hin und wieder Gruppen von Askaldos begegnet, waren von Nivians auf schnellen Pferden überholt worden und hatten sogar eine Gruppe Kurbabus getroffen, die entlang der Wege patrouillierten. Wir fühlten uns sicher, als wir am Abend des dritten Tages unser Nachtlager in einer kleinen Senke aufschlugen. Welch ein Irrtum!

Es war unsere letzte Nacht im Holzwald. Wir waren gut vorangekommen, was wir Baro Derada und Rustan Polliander verdankten.“

Ich lächelte, als jetzt bewundernde Blicke auf die beiden Männer fielen. Sie hatten nicht nur bekannte Namen, sondern sahen auch noch stattlich aus – wie echte Helden aus großen Heldengeschichten eben.

„Ich bin dankbar, dass ich mit den beiden und mit Nelia Wabloo und Allira Varianda reisen darf. Habt ihr euch auch mal beim Lesen der großen Namensgeschichten vorgestellt, dass ihr einer der Abenteurer wärt? Nun, ich bin zwar selbst kein Abenteurer, aber ich war dabei, als uns die Namenlosen überfielen und diese vier großen Namen ihre ersten Heldentaten ihres neuen Lebens vollbrachten.

Es war eine kalte und klare Nacht und ein eisiger Wind kroch in die Zelte. Baro zitterte in seiner Decke und wir übrigen waren in unseren Zelten dicht aneinander gerückt. Im Halbschlaf hörten wir die Rufe der Eulen und anderen nächtlichen Jäger und Rustan, der einen siebten Sinn für Gefahren hat, lauschte stets mit einem halben Ohr auf jedes Geräusch und konnte vor Anspannung nicht schlafen. Deshalb war er auch der erste, der hörte, wie sie heranschlichen.

Das Mondlicht fiel auf die Klingen ihrer Messer, als sie leise ihre Waffen zogen.

Doch Rustan hatte in dieser Nacht Ohren wie ein Luchs. Er hörte nicht nur das leise Rascheln ihrer Schritte, sondern auch den Klang ihrer Waffen.

Als er sich sicher war, was er hörte, weckte er mich und sein geflüstertes ‚Namenlose‘ ließ mein Herz einen Schlag aussetzen. Ich bin kein Kämpfer und wahrscheinlich wäre ich panisch geworden, wenn Rustan nicht so ruhig geblieben wäre. Rasch huschte er nach draußen zu Baro, weckte seinen Freund, der dann die beiden jungen Frauen warnte.

Als die Namenlosen kamen, waren wir alle schlagartig wach. Es waren zwei Dutzend der erbärmlichsten Gestalten, die ich je gesehen hatte. Ihre Kleidung war bunt zusammengewürfelt aus den unterschiedlichsten Stücken. Es waren Hemden von Nivians, derbe Hosen von Askaldos und alte, einst prächtige Jacken von Deradas dabei. Manche Kleidungsstücke wirkten noch neu, andere hatten Löcher und Risse und schienen nur einen Windhauch davon entfernt zu sein, auseinander zu fallen. Die meisten Kleidungsstücke passten ihren Trägern nicht genau, waren zu klein oder zu groß und wären ihnen ohne einen Gürtel aus Seil von den Hüften gerutscht.

Doch noch mehr als ihre Kleidung zeigten ihre Augen, dass sie Namenlose und Ausgestoßene waren. Es waren verzweifelte Augen voller Hunger, auf der Suche nach etwas, das sie nicht kannten, aber wussten, dass sie es brauchten. Aber nicht nur ihre Namen fehlten ihnen, auch ihre Erinnerungen waren ihnen geraubt worden. Ich sah einen ehemaligen Kurbabu, der nicht mehr wusste, wie er sein Messer handzuhaben hatte. Einen einstigen Jurto, der zwar einen Schmiedehammer hielt, doch nicht mehr wusste, was er damit anstellen sollte. Sie hatten vergessen, wer sie einst gewesen waren, was sie einst erlebt hatten, welche Fähigkeiten und welches Wissen sie ausgezeichnet hatte.

Könnt ihr euch vorstellen, all das mit einem Schlag zu verlieren? Nun, ich nicht, aber schon die Vorstellung machte mir Angst und einen Moment lang verspürte ich Mitleid mit diesen armen Kreaturen, das mich fast das Leben gekostet hätte. Doch zum Glück waren Nelia und Rustan wachsam.

Die Magie der NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt