Kapitel 4: Abschied

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„Kinder sind wie Tiere. Sie folgen ihren Instinkten, ohne Sinn und Verstand. Sie haben kein Bewusstsein ihrer Taten. Wie gut dressierte Tiere ahmen sie die Taten anderer nach, wiederholen die Wörter und Regeln, die man ihnen vorbetet, ohne sie wirklich zu begreifen. In ihren Instinkten unterscheiden sie sich nicht voneinander, sie zu benennen ist daher wider ihre Natur.“  (Tamberian Bork Elluren)

Ich beobachtete, wie die Sonne über Tummersberg aufging. Die ersten Frühlingsstrahlen lugten über das Gebirge und fielen in das Tummersberger Tal. Es war noch früh und still in der Schule, so dass ich den Morgen in Ruhe auskosten konnte.

Ich war in der Gewissheit aufgewacht, dass mein Weg mich weit von Tummersberg fortführen würde, und nun wollte ich jede Sekunde, die mir hier noch blieb, auskosten.

Erstaunlicherweise war ich nicht aufgeregt wegen meiner Reise nach Himmelstor. Ich würde die Hauptstadt sehen, viele große Namen kennen lernen, Denkmäler und Museen aufsuchen können, im großen Namensarchiv über meine früheren Leben lesen und in der Erbverwaltung meinen Besitz, falls ich denn welchen hatte, einsehen. Ich hätte aufgeregt sein müssen, doch stattdessen verspürte ich Wehmut. Nach all den Jahren, in denen ich davon geträumt hatte, volljährig zu werden und meiner Bestimmung zu folgen, wollte ich nun nicht fort.

Mein Bündel lag bereits gepackt auf dem Bett. Es enthielt nicht viel, da Nummern keinen Besitz hatten. Am Namensgebungstag hatte ich von der Schule, wie alle anderen neuen Namen, einen kleinen Beutel voller Geld bekommen. Es war nicht viel und musste für die Reise reichen, daher wollte ich mir das Geld aufsparen. Außerdem durften wir unsere Freizeitkleidung behalten, was bedeutete, dass ich nun ein Hemd, eine Hose, ein Paar braune Stiefel und eine braune Jacke – ohne das Wappen der Schule! – mein Eigen nennen durfte.

Von Gerunder hatte ich zur Namensgebung einen Band mit Erzählungen über große Namen geschenkt bekommen, für den ich mich gestern vergessen hatte zu bedanken. Das wollte ich unbedingt noch tun.

Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen, um mich zu vergewissern, dass ich nichts vergessen hatte. Neben dem schmalen Bett stand ein kleiner Nachttisch, in dem sich jedoch lediglich ein Kamm befand. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Schrank, ich war froh, dass ich die braunen Schuluniformen zurücklassen konnte. Mit meinen braunen Haaren, braunen Augen und meiner Brille sah ich in der Schuluniform, so fand ich, wie ein Maulwurf aus. Und jetzt wo ich ein Name war, konnte ich auf einen Spitznamen wie diesen gut verzichten.

Auf dem Schreibtisch standen ein paar vereinzelte Schulbücher, die später von einem der Andertis weggeräumt werden würden. Sie würden auch die Schuluniformen in die Wäscherei bringen, so dass sie gewaschen und von der nächsten Nummer getragen werden konnten.

Ein paar Schreibfedern und ein Stapel Papier lagen auf der einen Seite des Tischs, auf der anderen Seite befanden sich die Waschschüssel und darüber der Spiegel. Das war mein Zimmer.

Mein Zuhause.

Ich seufzte, während ich zum Bett ging, mein Bündel packte und beschloss, mich nach einem letzten Rundgang durch die Schule auf den Weg zu machen. Der Weg wurde nicht kürzer, wenn ich länger blieb.

Ich ging langsam durch das ruhige Wohngebäude der Jahrgänge 1276-1280 und vermisste plötzlich die lauten Schreie der Nummern, die mich sonst stets vom Lernen abgehalten hatten. Im Stockwerk unter meinem begegnete ich Nummer 8 aus der Wintergruppe 1278. Er würde erst in zweieinhalb Jahren, im Jahr 1278, erfahren, wer er war, und nickte mir daher nur kurz neidisch zu.

Ich ging weiter die Treppe hinab und durch einen überdachten Korridor ins Schulgebäude. Der Speisesaal im Erdgeschoss war der größte Raum im ganzen Gebäude und mein erstes Ziel. Während ich frühstückte, ignorierte ich das Gekicher der wenigen Nummern, die bereits aufgestanden waren. Ich wusste nicht, ob sie über mich lachten, aber in diesem Moment war es mir auch herzlich egal.

Die Magie der NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt