Kapitel 1: Die Namensgebung

12.9K 701 218
                                    

Der Name ist der Schlüssel zur Seele.

Ich war an diesem Frühlingsmorgen in dem Wissen aufgewacht, dass es der bedeutendste Tag in meinem Leben sein würde. Heute würde ich offiziell für volljährig erklärt werden. Heute würde ich endlich meinen Namen bekommen und erfahren, wer ich war.

In diesem Moment stand ich aufgeregt im Festsaal der Schule und saugte die Eindrücke in mich auf. Der Festsaal war anlässlich des besonderen Ereignisses feierlich geschmückt mit den Wappen der größten Dynastien des Landes. Da Frühling war, ergänzten Blumensträuße in allen Ecken die festliche Dekoration und verströmten einen warmen Geruch, der für mich Hoffnung versprach. Ab heute würde alles anders werden.

Ich spürte, wie mein Herz raste und der Herzschlag in meinen Ohren sogar das Geschnatter der anderen Schüler neben mir übertönte. Ich konnte mich nicht auf ihre Gespräche konzentrieren, mir ihre Spekulationen, Hoffnungen und Träume oder manchmal sogar Ängste anhören. Dies war für alle Schüler der Frühlingsgruppe 1276 aus Tummersberg ein wichtiger Tag. Heute würden wir nicht länger als bloße Nummern gelten, heute würden wir endlich unsere Namen erfahren.

„Was passiert, wenn wir keinen Namen haben?“, fragte Nummer 7, ein schmächtiger Junge mit schwarzen Haaren und Pickeln, gerade ängstlich.

Nummer 2, ein selbstbewusster Junge, lachte auf. „Jeder hat einen Namen, du Dummkopf!“, sagte er zu dem anderen Jungen. „Aber ich wette, in deinem Fall ist es ein unbedeutender. Stell dir vor, du wärst ein Bedduar und müsstest ab morgen jeden Tag über die Felder laufen, um Getreide auszusäen oder zu ernten! Ich würde mich umbringen vor lauter Scham!“

Nummer 2 lachte laut und Nummer 9 schloss sich ihm an. Beim Klang ihres Lachens drehte ich mich zu der Gruppe um. Nummer 7 hatte ein knallrotes Gesicht bekommen, als die anderen Schüler über ihn lachten, und Nummer 2 genoss die Aufmerksamkeit, die ihm dank seines Spotts zuteilwurde. Hin und wieder blickte er zu Nummer 1 hinüber, einem schlaksigen blonden Jungen, der mit einem abwesenden Gesichtsausdruck zu den Würdenträgern auf der anderen Seite des Festsaals starrte. Er schien auf jemanden zu warten und hatte nicht mitbekommen, wie sein bester Freund wieder einmal einen ihrer Klassenkameraden piesackte.

Ich mochte Nummer 2 nicht und hielt mich daher meistens von der Gruppe um ihn herum fern, zu der neben Nummer 1 auch die beiden Mädchen Nummer 9 und Nummer 5 gehörten.

Laut Gesetz war jedes Kind ohne Namen nur eine Nummer und jede Nummer war genauso viel wert wie die anderen. Ich hatte allerdings festgestellt, dass das in der Realität ganz anders aussah. Es gab große Nummern, Mitläufer-Nummern und unwichtige Nummern, genauso wie es dies für Namen in der Welt der Erwachsenen gab. Und wenn du eine wichtige Nummer warst, wurdest du von den Lehrern und Mitschülern anders behandelt als eine unwichtige Nummer. Und ratet mal, was ich war …

„Nummer 7 ist kein Bedduar“, sagte plötzlich jemand und ich erkannte resigniert, dass es meine eigene Stimme war. So viel also zu meinem guten Vorsatz, mich dieses Mal nicht einzumischen, wenn Nummer 2 sich wieder einmal aufspielen wollte. Leider ging mir der dunkelhaarige Junge mit seiner großen Klappe nur so sehr auf die Nerven, dass ich mich jedes Mal wieder von ihm provozieren ließ.

„Hast du etwas gesagt, Nummer 19?“, fragte er mich sofort und grinste hämisch. „Unser Streber weiß mal wieder alles besser, wie? Hast wohl schon heimlich im Vorfeld mit der Ellusan gesprochen, um zu erfahren, wer du bist, was? Und? Aus wie vielen Teilen besteht dein Name? Fünf?“

„Nur nicht aufregen!“, sagte ich mir. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich mich bei der Beleidigung verkrampfte. Wichtige Persönlichkeiten hatten einen Namen, der aus zwei Teilen bestand. Manchmal bekamen sie noch einen dritten Teil, wenn sie ein wichtiges Amt innehatten, so wie beispielsweise die Ratsmitglieder von Tummersberg, die alle den Namen unserer kleinen Heimatstadt an ihren eigenen Namen anhängen durften. Jemand, der bereits drei Namensteile hatte, konnte kein wichtiges Amt übernehmen, war aber noch wichtig genug, dass er in der Stadt bekannt war. Mit vier Namensteilen gehörte man zur hart arbeitenden Bevölkerung, war Handwerker oder Bauer ohne großen Besitz. Personen mit fünf Namensteilen waren höchst selten, sie hatten keinerlei Eigentum und keinen Beruf und mussten sehen, wie sie klar kamen. In der Schule arbeitete ein Mann mit fünf Namensteilen. Ich sah ihn jeden Tag, er wischte die Böden, trug den Müll raus und reinigte die Toiletten. Er durfte dankbar sein, dass die Schule ihm einen Job gegeben hatte, da er keine besonderen Fähigkeiten besaß.

Die Magie der NamenWhere stories live. Discover now