Kapitel 2: Neuwahlen

15 5 0
                                    

„Wie... Wie fühlst du dich?"
Ravel hockte zusammengesunken in dem Sessel im Schneideratelier. Die Tür war abgeschlossen und jemand hatte das Oberlicht repariert und aufgeräumt. Der kleine Tisch hatte nur ein paar Schrammen abbekommen und auf seiner Oberfläche stand stolz und angenehm warm eine kleine Tasse, gefüllt mit schwarzem Tee. Da Ravel keine Anstalten mehr machte, sich zu bewegen, gab Grässlich sie ihm in die Hand. Er legte die Finger darum und senkte seufzend den Blick auf das heiße Getränk. Er nippte daran, bevor er antwortete.
„Ich glaube... Ich war es..."
Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Das war nicht allein den Halsschmerzen geschuldet. Er fühlte sich, als hätte er alle Kraft verloren.
„Du meinst, der Restant in dir", korrigierte Grässlich.
Ravel trank noch einen Schluck Tee, sagte aber nichts mehr.
„Du solltest dir dafür nicht die Schuld geben. Sieh lieber nach vorn, auch wenn das gerade nicht leicht ist."
Das war nicht nur schwer, dachte Ravel, es war unmöglich. Was sollte er denn ohne Corrival machen? Der Mann war sein engster Freund gewesen. Derjenige, zu dem er immer hatte gehen können. Seit Hopeless' Tod war er der einzige enge Vertraute, an den Ravel sich gewandt hatte. Die anderen Toten Männer waren seine Kameraden und Freunde, kein Zweifel, aber sie hatten sich nach dem Krieg mehr oder weniger aus den Augen verloren. Corrival war geblieben. Er hatte ihm Gesellschaft geleistet, ihm Arbeit verschafft, ihm vieles beigebracht und man konnte sich bedingungslos auf ihn verlassen.
Die Tatsache, dass sein Blut an Ravels Händen geklebt hatte, brachte Schwarzhaarigen um den Verstand.
Ob es nun ein Restant war oder er selbst machte im Moment keinen Unterschied für ihn. Das letzte, was Corrival gesehen hatte war vermutlich, wie sein bester Freund ihm den Tod brachte.
Das Porzellan klapperte leise, als er die leere Tasse auf den Tisch zurückstellte.
„Möchtest du noch etwas?", fragte Grässlich.
Ravel schüttelte leicht den Kopf.
„Ok. Ich bin gleich wieder da."
Damit verließ der Schneider das Zimmer. Er nahm die Tasse mit, um sie zu spülen. Als das Wasser ins Spülbecken lief überlegte er sich, wie er weitermachen sollte.
Ein Glück war das Schlimmste schon vorbei. Es war ein klein wenig besser gewesen, als damals bei Hopeless, aber insgesamt ziemlich ähnlich verlaufen. Am Anfang stand Schock, der Unglaube über das, was passiert war. Was danach kam erforderte Geduld, Einfühlsamkeitsvermögen und gegebenenfalls Ohrenschützer. Es war laut geworden, Dinge wurden geschlagen und Flüche geschrien. Verzweiflung kehrte ein und irgendwann wurde es wieder still. Als sie an dem Punkt angekommen waren nahm Grässlich Ravel mit zu sich. Es wäre alles andere als fair, ihn allein zu lassen. Außerdem hatte er Corrival ebenfalls gerngehabt. Es war auch für ihn ein großer Verlust, genau wie für die anderen Toten Männer.
Und den irischen Ältestenrat, wie ihm dann einfiel. Sie hatten schon wieder keinen Großmagier und die potentiellen Ältesten hatten ihre Nominierungen bis jetzt nicht einmal angenommen...
Sie mussten wieder neu wählen und allmählich gingen ihnen die Kandidaten aus.
Wenigstens war es ihnen gelungen die Restanten einzufangen und die Geschehnisse vor den Sterblichen zu verbergen. Jetzt konnten sie sich voll und ganz darum kümmern, das Sanktuarium wiederaufzubauen.
Grässlich seufzte resigniert, beinahe genervt. Es hätte so gut laufen können, mit Corrival an der Spitze.
Er trocknete die Tasse ab und stellte sie zu den anderen ins Regal. Dann ging er zurück ins Atelier. Ein trauriger Blick schlich sich in seine Miene, als er sah, wie Ravel sich in dem Sessel zusammengekauert hatte.
„Erskin...?"
Der Schwarzhaarige strich sich mit dem Handrücken über die Augen, als er den Kopf hob. Er hatte die Beine angezogen und einen Arm um die Knie gelegt.
„Soll ich dich nach Hause bringen?"
„Schon gut...", nuschelte er, „Da ist es nicht besser, als hier..."
Langsam nickend setzte Grässlich sich ihm gegenüber in den anderen Sessel. Vielleicht half es, wenn er mit ihm sprach.
„Willst du darüber reden?"
Ravel zuckte die Schulter: „Ich weiß nicht... Ich weiß gerade gar nichts mehr... Im einen Moment sind wir hier und werden angegriffen und im nächsten wache ich in irgendeiner Halle auf und es sieht aus, als hätte ich Corrival ermordet..."
„So ist es mit Restanten. Vielen geht es jetzt vermutlich ähnlich."
„Ich habe meinen Freund getötet, Grässlich...! Unseren Freund, du mochtest ihn doch auch."
„Das ist doch noch gar nicht bewiesen", versuchte Grässlich ihn zu besänftigen, „Es kann auch einer der anderen gewesen sein."
Er wollte keine Namen nennen, da Shudder oder Solomon es ja nicht persönlich gewesen sein könnten. Auch sie waren besessen gewesen.
Doch Ravel schien wenig überzeugt: „Ich war als einziger noch da..."
Er wurde einen Moment still, als die Bilder vor seinem inneren Auge auftauchten. Alles war dunkelrot. Er schauderte.
„Ich habe noch mit Skulduggery geredet", änderte Grässlich das Thema, „Corrival wird übermorgen beerdigt. Du gehst doch mit uns hin, oder?"
„Natürlich komme ich mit..."

Es hatte ihn viel Überwindung gekostet am Tag der Beerdigung in Skulduggerys Wagen zu steigen.
Die beiden und der Schneider waren komplett in schwarz gekleidet. Passend zu ihrer Stimmung regnete es in Strömen, als sie an dem kleinen, versteckten Friedhof ankamen. Er lag außerhalb von Dublin, geschützt vor neugierigen Blicken und unerwünschten Besuchern. Von der Beerdigung wusste nur eine Handvoll Leute, die Toten Männer eingeschlossen. Es waren nicht alle von ihnen gekommen, manche waren zu weit weg. Aber selbst Shudder hatte dafür sein Hotel verlassen. Walküre begleitete Skulduggery, wie immer. Sie hatte Corrival nicht lange gekannt, aber es ging auch ihr nahe, dass er nun fort war.
Als die Zeremonie vorbei war ging Ravel näher an das Grab heran. Er schaute die Buchstaben an, die sorgfältig und ordentlich in den großen Stein gemeißelt waren, ohne sie wirklich zu lesen. Die Leute verließen den Friedhof langsam. Nur Walküre, Grässlich und Skulduggery blieben noch länger hinter ihm stehen. Selbst Shudder hatte sich schon verabschiedet.
Skulduggery erhob eine Hand und hielt den Regen von sich ab, als er den Schutz der Bäume verließ und näher zu Ravel ging. Von dessen Mantel fielen Tropfen. Seine Haare klebten nass an seinem Kopf.
„Ich kann es nicht glauben...", gab er zu, „Ich dachte, jetzt geht es bergauf."
„Das wird es trotzdem noch", ermutigte Skulduggery ihn.
„Wie stellst du dir das vor?"
„Es hing nicht nur von Corrival ab... Immerhin hat er dich zum Ältesten nominiert."
Ravel hob den Kopf und drehte sich ein wenig zu Skulduggery: „Du meinst, ich soll übernehmen?"
„Es würde sich anbieten, das kannst du nicht leugnen."
„Ich weiß nicht..."
„Denk wenigstens darüber nach."
Damit machten auch Skulduggery und Walküre sich auf den Weg Richtung Parkplatz. Ravel blieb noch eine Weile im Regen stehen und sortierte seine Gedanken.
Als er schließlich auch zum Bentley zurückging musste er sich zusammenreißen, nicht zu oft zurückzublicken. Er behielt im Hinterkopf, dass er stets wieder herkommen könnte und doch kostete es ihn wieder einige Überwindung zu gehen.

Ebenso viel, wie es ihn einige Wochen später kostete, um den großen Saal zu betreten, in dem wieder einmal Vertreter aus allen irischen Magiergemeinden versammelt waren.
Da er nicht wusste, wie er es sonst anstellen sollte, spielte er sich selbst und allen anderen etwas vor. Er gab sich, wie immer, gelassen und seriös. Seine Fassade war so überzeugend, dass er tatsächlich bessere Laune bekam und sich auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren konnte. Zwar war die Stimmung wegen der letzten Ereignisse sehr betrübt, aber er war froh, so viele bekannte Gesichter lebendig wiederzusehen. Da kein anderer es tat erhob er schließlich selbst die Stimme und berichtete von dem, was er wusste. Die internationale Gemeinschaft saß den Iren im Nacken, deshalb brauchten sie schnellstmöglich ein stabiles Sanktuarium. Und dazu war ein neuer Ältestenrat nötig – einer, der sich länger als ein paar Wochen hielt.
Skulduggery kam daraufhin auf die fixe Idee, Ravel als neuen Großmagier vorzuschlagen. Er konnte nicht einmal mehr großartig diskutieren. Auch, wenn er selbst absolut kein Interesse an dem Job hatte. Der Skelettdetektiv überzeugte die anderen Anwesenden schneller, als er dagegensprechen konnte. Doch als er Skulduggery als seinen ersten Ältesten haben wollte konnte dieser einfach so nein sagen...
Unfair.
Der nächste Vorschlag kam von der Qual, einem Kind der Spinne. Berechtigterweise wollte er Madam Misty im Ältestenrat wissen – das neue Sanktuarium stand schließlich in Roarhaven, der Heimat der Kinder der Spinne. Außerdem sollte Misty die Minderheiten und Ausgegrenzten repräsentieren und für sie sprechen. Dagegen war nichts einzuwenden, so wenig Ravel sie auch mochte.
Um nicht komplett von dubiosen Gestalten umgeben zu sein und die Kontrolle bei sich zu behalten nahm Ravel sich Grässlich als zweiten Ältesten. Auch dieser sträubte sich zunächst heftig dagegen, doch Ravel brauchte jemand vertrauenswürdigen an seiner Seite, mit dem er sich gegen andere durchsetzen konnte. Skulduggery stand hierbei auf seiner Seite und schließlich konnte er Grässlich damit überzeugen, dass er in diesem Amt alle möglichen Ressourcen nutzen konnte, um Tanith zurückzuholen, die ja immer noch von einem Restanten besessen war.
Es war erstaunlich schnell eine beschlossene Sache. Applaus ertönte für den neuen Ältestenrat. Madam Misty blieb verhalten stehen und blickte durch ihren Schleier, Grässlich lächelte ein wenig unsicher und Ravel, der zwischen den beiden stand, setzte einen zuversichtlichen Ausdruck auf.
Jetzt musste er die Sache also selbst in die Hand nehmen.

"Was wäre wenn..." Teil 3: Hier und JetztWhere stories live. Discover now