Kapitel 1: Restanten

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Es sah so aus, als ginge es bergauf. Es machte wirklich den Anschein, als liefe alles zusammen und das Chaos legte sich. Ordnung kehrte in die Welt der irischen Magier ein. Die Nominierung von Corrival Deuce für den Posten des Großmagier war ein Segen für alle und auch in Ravels Augen gab es aktuell niemanden, der besser für diesen Job geeignet war. Gewissermaßen war sein Plan aufgegangen. Aus den Trümmern und dem Schutt, die die vorherigen Räte und Davina Marr hinterlassen hatten, war nun endlich ein Neuanfang hervorgegangen. Ein anständiger, vertrauenswürdiger Mann war an der macht und niemand brachte große Einwände und Bedenken vor. Das galt allerdings nur für den neuen Großmagier, nicht für seine Wahl der Ältesten. Die wurden nicht von anderen kritisiert – zumindest größtenteils – dafür sträubten sie sich selbst gegen die Positionen.
Skulduggery weigerte sich strickt den Platz anzunehmen und es sah aus, als käme er damit durch. Ravel hatte nicht ganz so viel Glück, denn Corrival hatte ihn im Saal vor versammelter Mannschaft in alle Himmel gelobt und ihm vor Augen geführt, warum er den Job unbedingt annehmen sollte. Er hatte sich nicht genügend Feinde gemacht, die dem widersprachen und das letzte Jahrhundert, welches er an Corrivals Seite verbracht hatte, wies ihn bereits als fähig aus, sich in politischen Geschehen zu behaupten.
Wenigstens musste er die Nominierung nicht sofort annehmen. Eine neue Krise bahnte sich an und die wollte zuerst beseitigt werden.
Trotzdem saßen Skulduggery und Ravel in Grässlichs Atelier, es wurde Tee getrunken und mehr oder minder nett geplaudert. Schließlich war es Weihnachten und wenn man keine Familie mehr hatte und alle anderen Freunde entweder tot oder am anderen Ende der Welt waren, setzte man sich mit denen zusammen, die noch da waren.
Grässlich hatte während der Zeit, in der sie sich unterhielten, angefangen an einem Kleidungsstück zu arbeiten und Skulduggery las die meiste Zeit in einer Zeitung. Oder er starrte gelangweilt die Seiten an, so genau konnte man das nicht sagen. Ravel hielt das Gespräch ein wenig aufrecht und begnügte sich mit dem Tee, der vor ihm auf dem kleinen Wohnzimmertisch stand. Die Stimmung war so entspannt, wie schon lange nicht mehr.

Das änderte sich schlagartig, als es an der Tür klopfte. Überraschenderweise stand Corrival dort. Er betrat das Schneideratelier. Hinter ihm tauchte noch jemand auf – Anton Shudder, der Betreiber des Hotels Mitternacht und ebenfalls einer der Toten Männer. Grässlich trat vor um Corrival zu begrüßen, wurde aber ein wenig skeptisch, als er seinen alten Kollegen sah. Wann verließ er je sein Hotel? Auch Skulduggery und Ravel erhoben sich. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihnen aus.
Berechtigterweise, wie sich schnell herausstellte, als unter Corrivals Haut schwarze Adern auftauchten und er Grässlich einen Stuhl in den Rücken donnerte. Im selben Moment zersplitterte eines der Oberlichter und der Totenbeschwörer Solomon Kranz ließ sich von oben fallen. Auf seiner blassen Haut sah man die schwarzen Adern besonders deutlich.
„Restanten!", schoss es Ravel durch den Kopf.
Um ihn herum war eine einzige große Schlägerei ausgebrochen, an der er sich ohne zu zögern beteiligte. Er nahm sich Solomon vor, der ihn mit spitzen Schatten traktierte. Es war schwierig, allen auszuweichen, aber Ravel erkannte schnell, dass die Magie des Totenbeschwörers in seinem Gehstock gespeichert war. Im Versuch ihm den abzunehmen ging er in den Nahkampf über. Auf diesem Gebiet war Solomon ihm weit unterlegen. So gelang es Ravel ihm den Stock zu entwenden. Während er damit auf seinen Gegner einprügelte, hörte er Shudders Gist wütend kreischen und hoffte, dass Skulduggery die Sache im Griff hatte.
Was er nicht kommen sah, war der Restant, der durch das kaputte Oberlicht hereingezischt kam.
Als der kleine, fauchende Schatten sich an ihn heftete, stolperte Ravel zurück, ließ den Stock fallen und schlug um sich. Seine Bemühungen waren vergebens, wie sich schnell zeigte. Nur wenige Sekunden später kniete er auf dem Boden und schwarze Adern erschienen unter seiner Haut. Irgendwo in der Nähe rief Skulduggery etwas. Er und Grässlich machten sich aus dem Staub. Die Restanten in Ravel, Shudder, Corrival und Solomon machten sich nicht die Mühe, ihnen zu folgen.
Die folgenden Stunden verbrachten sie, wie alle anderen Befallenen: Sie stifteten Chaos. Sie kämpften und zerstörten und genossen die Zeit, in der sie frei waren. Nachdem sie ihre Wirtskörper in Schlägereien und Kämpfen verletzt hatten, nahmen die Restanten sich neue. Es hätte ewig so weiter gehen können.
Wenn sie nicht in die Falle getappt wären.
Pech für sie, denn nun steckten sie in einem gigantischen Seelenfänger, irgendwo am Arsch der Welt; wieder so eingepfercht, wie im Hotel Mitternacht.
Ihr Spaß war nur von kurzer Dauer gewesen.
Schade.

Als Ravel zu sich kam wusste er nicht, wo er war. Er setzte sich langsam auf und hustete. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, brannte schmerzhaft. Ein dumpfes Pochen zog durch seine linke Schulter und er tastete getrocknetes Blut an seiner Schläfe. Je länger er wach war, desto mehr Verletzungen fand er. Viele davon waren zum Glück nur oberflächliche blaue Flecke. Seine Kleidung hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt. Aber er konnte sich nicht erinnern, was passiert war. Was hatte er getan? Wieso war er hier? Wieso lag dort –
„Corrival!"
Seine Stimme klang rau, als er nach dem Älteren rief.
Ravel erhielt keine Antwort. Der Boden schimmerte rot, vom Blut, welches noch nicht getrocknet war. Er erschrak, als er die Lache sah, starrte sie ungläubig an und überlegte krampfhaft, was hier geschehen war.
Das letzte, an das er sich erinnern konnte, war der Weg zum Schneideratelier. Dieser Ort war nicht das Atelier...
Da war noch etwas. Er hatte Skulduggery getroffen und Grässlich. Sie hatten im Atelier gesessen und jemand hatte an die Tür geklopft und...
„Restanten", keuchte er und fasste sich an den Hals.
Zitternd stand er auf und stolperte einige Schritte durch- Was war es denn? Möglicherweise eine Lagerhalle. Seine Knie gaben nach, als er Corrival erreichte. Er ließ sich fallen, hörte dabei ein leises, unheilvolles Platschen.
Unbeholfen schüttelte er Corrival an der Schulter.
„Hörst du mich...? Corrival? Wach auf. Komm schon...!"
Ein Tor knarrte hinter ihm. Als es sich mit mechanischem Surren öffnete, fiel ein wenig kaltes Licht von einer Straßenlaterne herein. Ravel drehte sich nicht um.
Auch nicht, als Schritte von zwei Personen sich näherten und Grässlichs vertraute Stimme an sein Ohr drang.
„Hier bist du ja, Erskin... Wir haben ewig nach dir gesucht. Was ist-"
Er brauchte die Frage nicht mehr zu stellen, als er sah neben wem der Schwarzhaarige kniete.
„Ist er...?", fragte Skulduggery stattdessen von der anderen Seite.
Ravel antwortete ihnen nicht. Er versuchte weiterhin, Corrival zu wecken. Vergeblich.
Seine Freunde wollten sich das Elend nicht weiter ansehen, also griff Grässlich ihm unter die Arme und zog ihn auf die Füße.
„Lass gut sein, Erskin. Das hat keinen Sinn mehr..."
Skulduggery schüttelte den Kopf und Grässlich sah ihn fragend an.
Der Skelettdetektiv sprach leise, flüsterte förmlich: „Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber diese gigantische Blutlache ist für mich ein ziemlich klarer Beweis, dass er tot ist. Erskin war von einem Restanten besessen, möglicherweise war er es."
Grässlichs Ausdruck schwang von Überraschung zu Sorge.
„Es wird schwer ihm das weis zu machen", murmelte er, als er Ravel stützte und ihn mit sich zog.
„Das glaube ich nicht", meinte Skulduggery, „Eher wird es schwer ihn zu überzeugen, dass er nichts dafürkann. Es war schließlich der Restant. Zumindest gehe ich stark davon aus."
Nachdenklich nickte Grässlich: „Wir sollten, bevor wir das klären, vielleicht erst einen Aufräumtrupp hierherschicken. Bevor noch ein Sterblicher das Chaos sieht und die Polizei ruft."
„Keine schlechte Idee", gab Skulduggery zu und zog sein Handy aus der Tasche, „Ihr geht schon vor zum Wagen. Und bitte leg eine Decke auf die Sitze. Blut kriegt man unfassbar schwer raus."
Der Schneider setzte einen finsteren Blick auf, ob der scheinbar gefühllosen Art seines Freundes, zog Ravel aber mit aus der halle heraus und in Richtung des Bentleys.
Der Schwarzhaarige wehrte sich zunehmend und gab sich größte Mühe, Corrivals toten Körper nicht aus den Augen zu lassen. Er wollte ihn nicht zurücklassen, wollte nicht einfach gehen, während sein Freund in der Lagerhalle liegen blieb. Doch der größte Schock hatte ihn noch gar nicht getroffen.
Das wusste Grässlich und er bereitete sich mental auf den Moment vor, in dem Ravel realisieren würde, dass Corrival nicht mehr wiederkam. Sein engster Vertrauter war tot und wahrscheinlich klebte das Blut an seinen Händen. Grässlich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er das nicht einfach hinter sich lassen konnte.
So, wie den Toten in der Halle, von dem er partout nicht wegwollte. Trotz seines geschwächten Zustandes kostete es den Schneider Kraft, seinen Freund bis zum Auto zu bringen. Auf das, was Ravel sagte und rief hörte er lieber nicht.
Er gab sich größte Mühe die Polster des Bentleys zu schonen und setzte sich schließlich neben Ravel auf die Rückbank. Behutsam zog er ihm das Jackett aus, um nach seinen Verletzungen zu sehen. Der Schwarzhaarige zuckte zusammen, als Grässlich ihm über die Schulter und den Ellbogen strich. Dabei ließ er den Blick auf seine Hände fallen.
Er erschrak, als er das angetrocknete Blut sah. Grässlich war nur froh, dass man der dunklen Hose nicht ansehen konnte, in was für einer Blutlache er da gekniet hatte...

"Was wäre wenn..." Teil 3: Hier und JetztWhere stories live. Discover now