Kapitel 01

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Lustlos schlürfte Herr Schmidt an seiner sechsten Flasche Bier. Es würde bald Zeit sein, wieder zur Universität zurückzugehen, und die Aussicht bald mit dem Trinken aufhören zu müssen verdarb ihm immer das Trinken. Aufzustehen und wegzugehen wurde dadurch aber nicht leichter. Er war so sehr in dieses paradoxe philosophische Rätsel vertieft, dass er den Mann, der neben ihm stand erst bemerkte, als dieser ihn ansprach.

„Verzeihung? Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Hmm... Was?“

„Alle anderen Tische im Lokal sind belegt. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Herr Schmidt musterte sein Gegenüber - klein, mit kurzem braunen Stoppelbart und einer Stirn, die wegen ihrer vielen Sorgenfalten Ähnlichkeit mit dem Grand Canyon aufwies.

„Bitte, nehmen Sie Platz.“

„Vielen Dank. Mein Name ist übrigens Braun.“

„Schmidt. Erfreut Sie kennenzulernen.“

Wenn schon der Mann eine etwas seltsame Erscheinung war, so war dies nichts verglichen mit dem, was er mit sich herumschleppte. Ein seltsamer Haufen grüner, roter und gelber Dinge aller Größen und Formen landete vor Herrn Schmidt auf dem Tisch.

„Was tragen Sie denn da alles mit sich herum?“

Der andere blickte erstaunt auf.

„Mein Mittagessen natürlich. Was dachten Sie denn?“

„Nun, ehrlich gesagt weiß ich nicht was ich davon halten soll. Aber eines steht fest, aus diesem Restaurant haben Sie die Sachen nicht.“

Herr Schmidt nahm eines der grünen Objekte in die Hand.

„Hat eine seltsame Form, diese Plastikverpackung. Von welcher Firma ist das Zeug?“

„Erstens ist das eine Paprika und keine Plastikverpackung, und zweitens habe ich sie bei einem Gärtner dreißig Kilometer außerhalb der Stadt gekauft. Ich fahre jede Woche hin und hole mir einen Vorrat.“

Erstaunt hob Herr Schmidt die Augenbrauen.

„Eine Paprika, so so. Ich dachte immer das Zeug gibt es nur in Pulverform. Komische Idee, es zu solchen Formen zu pressen. Nun ja, jeder nach seinem Geschmack.“

Danach schwiegen beide eine Weile. Doch Herr Schmidt verspürte etwas, das ihm seine lange Zeit an der Universität schon fast ausgetrieben hatte: Neugierde.

Also versuchte er einen neuen Ansatzpunkt für die Unterhaltung zu finden.

„Was sind Sie von Beruf?“

„Folteropfer. Oder mit anderen Worten: Lehrer.“

„So schlimm kann das doch nicht sein.“

„Ha, was machen Sie denn?“

„Ich bin Student.“

Herr Braun hörte für einen Moment damit auf an seiner Paprika zu knabbern und betrachtete Schmidt, der inzwischen bei der achten Flasche angelangt war.

Grauer Vollbart, Brille, Tränensäcke unter den Augen.

„Student?“

„Seit über 35 Jahren“, erwiderte Schmidt stolz.

„Das ist aber eine Leistung. Sie müssen ausdauernd sein.“

„Leicht war es nicht, das kann ich Ihnen sagen. Ich habe eigens ein Verzeichnis mit falschen Namen angelegt, unter denen ich mir BAFÖGs erschummelt habe. Inzwischen ist es 167 Seiten dick. Die Leute vom Fiskus sind mir auf den Fersen, aber ich konnte ihnen bisher noch jedes Mal entschlüpfen.“

„Was soll ich da erst sagen? Meine Schüler haben mir letztes Jahr damit gedroht, mich zu verprügeln, wenn sie nicht alle Einsen im Zeugnis bekämen.“

„Wo liegt denn da das Problem? Lehrer verteilen doch die Noten. Oder machen das inzwischen die Hausmeister?“

„Die Idee wäre auch nicht verrückter als einige der Dinge, die sich das Schulamt einfallen lässt“, erwiderte Herr Braun missgelaunt.

„Nein, wissen Sie, meine Schüler haben verlangt dass ich nicht nur Einsen in meinem eigenen Fach verteile, sondern auch in allen anderen. Ich musste mich um zwei Uhr nachts in die Schule schleichen um mich dort in den Schulcomputer zu hacken und die nötigen Änderungen vorzunehmen.“

„Mutig, mutig.“

„Tja, man tut was man kann.“

Die Kirchturmuhr schlug elf.

„Verzeihen Sie“, sagte Herr Schmidt. „Es war nicht richtig von mir, Sie so lange aufzuhalten. Sie müssen sicher zurück in die Schule.“

„Ach was.“ Herr Braun winkte ab.

„Es dauert wahrscheinlich sowieso noch eine gute Stunde, bis die Hälfte der Schüler im Klassenzimmer sitzt. Dann noch einmal eine halbe Stunde bis die Prügelei vorbei ist und zwei Stunden, bis die Sanitäter die Verletzten weggebracht und der Hausmeister die Tische repariert hat.“

Er nahm einen Schluck aus einem Glas, dessen Inhalt für Herrn Schmidts Geschmack viel zu sehr nach Wasser aussah.

„Sie sehen also, es besteht kein Grund zur Eile.“

„I- ich glaube, d- dass wir vielleicht allmählich aufbrechen sollten“, lallte Herr Schmidt. „K- kommen Sie, Braun. Ich f- fahre Sie nach Hause. Mein Wagen steht draußen.“

„Ich glaube kaum, dass Sie in Ihrem Zustand fahren können, mein lieber Schmidt.“

„U-Unsinn. Ich habe erst elf Flaschen getrunken.“

Schmidt lehnte sich vor. Auf seinem Gesicht erschien ein irres Grinsen. Angeekelt wich Braun vor dem Gestank zurück.

„Das mag sein, aber nach der achten Flasche sind Sie zu von Bier zu Whiskey übergegangen. Also ist es wohl besser, wenn ich Sie in meinem Wagen mitnehme.“

„W- wie viel Uhr ist eigentlich?“

„4 Uhr.“

„S- sehr gut. Dann komme ich gerade n- noch rechtzeitig zur Nachmittagsvorlesung.“

„4 Uhr morgens, Herr Schmidt.“

„Oh. Nun, eine Vorlesung mehr oder weniger, was macht das schon. Materielle Dinge, d- die zählen nicht nicht. W- was zählt, das sind die ideellen Werte... Freundschaft, G- Geld und Alkohol.“

„Was den letzten Punkt angeht, so müssen wir uns einmal sehr ausführlich darüber unterhalten. Am besten, wenn Sie morgen aufwachen und Kopfschmerzen haben. Los jetzt, das Lokal schließt gleich.“

„Ja, ja. I- ich komme ja schon, mein lieber Braun. Das war lustig, der Abend nicht war? Macht so richtig Spaß m- mit einem Kumpel zusammen z- zu saufen, nicht wahr?“

„Ja.“ Braun nickte und versuchte den Betrunkenen davon abzuhalten durchs Fenster hinaus auf die Straße zu gelangen. „Vor allem wenn der Kumpel Antialkoholiker ist und man den ganzen Fusel selbst saufen kann, nicht wahr?“

„W- wie recht Sie haben! Wir m- müssen uns unbedingt wiedertreffen!“

„Oh ja. Und vor allem müssen wir uns in das Auto setzen, und nicht aufs Dach. Jetzt kommen Sie schon.“

„A- alles was Sie sagen, Braun. Sie sind ein w- wahrer Freund.“

Die Staats-AGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt