[Sci-Fi/Fantasy] Starfall - W...

By frowningMonday

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»Seine sieben Augenpaare waren auf sie gerichtet und alle vierzehn der menschlichen Pupillen nahmen sie ins V... More

- Vorwort -
- Prolog -
- I. -
- Kapitel 1: Neun Schuss -
- Kapitel 2: Trügerische Hoffnung -
- Kapitel 3: Falsche Jahreszeit -
- Kapitel 4: Vom Regen in die Traufe -
- Kapitel 5: Die Wahrheit bildet keine Derivate -
- Kapitel 6: Feind deines Feindes -
- Kapitel 7: Drinnen ist Draußen -
- II. -
-Kapitel 8: Die Unschuld stirbt als Erstes -
- Kapitel 9: Eine Lektion im Gemüseschälen -
- Kapitel 10: Wiegenlied -
- Kapitel 11: Wo man singt, da lass dich nieder -
- Kapitel 12: Katzenlord -
- Kapitel 13: Dein Gott heißt Joska
- Kapitel 14: Startschuss -
- III -
- Kapitel 15: Gestrandet -
- Kapitel 16: Weil es Sinn macht; sinnbefreit -
- Kapitel 17: Engelsduft -
- Kapitel 18: Katzengold im Himmel -
- Kapitel 19: Verbotene Erinnerungen -
- Kapitel 20: In Sicherheit -
- Kapitel 21: Das Ende einer Ära -
- Kapitel 22: Hölle auf Erden -
- Kapitel 23: Makellos -
- Kapitel 24: Was im Muttergestein schlummert -
- IV. -
- Kapitel 26: Gefallener Stern -
- Kapitel 27: Ironie des Sternenhimmels -
- Kapitel 28: Mondbetriebenes Solarkraftwerk -
- Kapitel 29: Verhandlungsmaterial -
- Kapitel 30: Die Krücken der Varai -
- Kapitel 31: Wunderhände und Traumtypen -
- Kapitel 32: Der Mond, der Tod und die Engel -
- Kapitel 33: Izabela, Joska und der Weltuntergang -
- Kapitel 34: Berg, Ade -
- Kapitel 35: Hallo, Schatz -
- Kapitel 36: Der erste von zwei Splittern -

- Kapitel 25: Luna-Major -

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By frowningMonday

Der erste Gedanke, der Asavi durch den Kopf schoss, war jener, dass Joska Recht hatte. Der zweite war, dass Izabela wirklich vollkommen irre war. Und der dritte, dass keine Sicherheit der Welt ausreichte, um sie vor dem gigantischen Monstrum aus leuchtendem Stein zu schützen, welches vor ihnen in der endlosen Weite einer unterirdischen Höhle ruhte.

»Luna-Major ist das Bindeglied zwischen der Ersten und der Neuen Wahrheit und der einzige, der den Varai helfen kann«, erklärte Izabela vollkommen unbeeindruckt in Anbetracht des verstörenden Giganten, den sie unter dem Berg versteckte.

»Aber ... wie?«, hauchte Asavi fassungslos und das erste Mal blickte Izabela zu ihr zurück. Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog sie zu sich heran. Als sie Asavi dabei in eine halbe Umarmung zwang, dachte sie nicht einmal daran, sich von ihrer Mutter wegzudrücken.

»Wir empfingen ein Signal, als Luna-Major fiel. Wir sind nicht die einzige Gruppe Varai, die überlebt haben. Es würde dich überraschen, wie viele Kommunikationskanäle noch über die Satelliten offen sind. Natürlich«, lächelte Izabela gutmütig, »müssen wir die Engel von unserem Versteck fortlocken. Starke, elektromagnetische Wellen und die Untergebenen Luna-Majors hindern sie daran, zu uns vorzudringen. Wir sind das Zentrum des Widerstandes. Der Erste Stern, Asavi. Unsere Aufgabe ist es, die Welt zu heilen. Luna-Major leitete unsere Forschungen auf den Weg der Erkenntnis. Er hat uns gezeigt, was wir tun müssen, um zurück ins Licht zu finden. Ist es dir nie aufgefallen, dass der Nachthimmel in diffuse Dunkelheit gehüllt ist? Keine Sterne und kein Mond, die das Himmelszelt erhellen?«

Asavi schluckte und musste sich regelrecht daran hindern, ihre Beine in die Hand zu nehmen. Izabela, die ihre Anspannung spürte, drückte ihre Schulter in einer beruhigenden Geste.

»Er ist ... der Mond?« Asavis Stimme war dünn und leise.

Izabela schmunzelte. »Nein, Schatz. Luna-Major ist nur der Körper, das Herz. Luna-Minor die Seele. Sie wartet verlassen und orientierungslos auf ihren Körper. Sie beide sind Konzepte, die sich unserem einfachen, menschlichen Verstand entziehen. Der Mond, wie unsere Astronomie ihn kennt, ist nicht mit Luna-Major zu vergleichen. Noch sind die Engel, wie sie hier auf Erden wandeln, mit den kosmischen Sonnen zu verwechseln, die unsere Sterne waren.«

Asavi drehte sich der Kopf. Letzte Woche hatte sie sich noch darüber gewundert, dass diverses Wurzelgemüse gleichzeitig gedieh, und heute wollte man ihr weismachen, dass der Mond ein gottverdammter Engel war, der entzweigebrochene Herr über dieselben Bestien, welche die Menschheit jagten wie ein Fuchs im Hühnerstall.

»Die Engel sind nichts weiter, als verirrte Schafe«, erklärte Izabela sanft und senkte das Kinn, als sich der gigantische Kopf Luna-Majors langsam in ihre Richtung drehte. »Das Erste, was wir akzeptieren mussten, war die Tatsache, dass es Dinge gibt, die wir nicht verstehen können, ganz gleich, wie sehr wir es uns wünschen. Die Engel, wie wir sie kennen, haben angefangen zu existieren, als ihr Hirte sich dazu entschloss, sie zu verstoßen. Er radierte die feine Membran zwischen zwei Welten aus und versenkte somit zwei Konzepte ineinander, deren Kollision Folgen mit sich zog, die wir nicht erklären können.«

Die Augen Luna-Majors ruhten nun unumstößlich auf ihr und versengten ihren Geist. Asavi schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, was du versuchst, mir zu sagen«, krächzte sie und sämtliche Muskeln verkrampften sich in ihrem Körper.

Ich erinnere mich an dich.

Asavi zuckte zusammen, als sich eine Stimme in ihren Geist drängte, wie kaltes Eis. Izabela drückte ihre Schulter erneut.

»Zeige deinen Respekt, verneige dich.«

Asavi ließ sich das nicht zwei Mal sagen und senkte ihren Kopf.

Er hat mir etwas gestohlen, echote die Stimme in Asavis Kopf. All die Haare standen ihr zu Berge. Ich erinnere mich an dich. Meine Wahrheit.

Asavi nickte aus Gründen, die ihr selbst nicht ganz klar waren, und dann herrschte wieder beruhigende Stille in ihrem eigenen Geist.

»Du musst nicht verstehen, was wir versuchen zu erreichen, nur, dass du jetzt genau da bist, wo du sein sollst. In Sicherheit.«

Izabela drehte sie zu sich herum und strich ihr die Haare hinter die Ohren. Asavi hob den Blick. »Ich werde nicht zulassen, dass dir noch einmal etwas zustößt, mein Schatz.«

Izabela schob sie den Weg zurück und Asavi ließ sich benommen von ihrer Mutter durch den dunklen Korridor zurück zum Lift führen.

»Ich träume«, murmelte Asavi zu sich selbst, als sie in das grelle Nachmittagslicht blinzelte, das in dem weißen Büro verstärkt auf ihre empfindlichen Augen traf.

»Nein, Schatz«, sagte Izabela geduldig und strich sich die Haare hinter die Ohren. »Das hier ist unsere Realität. Du hast Luna-Major gesehen. Gevatter Tod hat ihm eine Wahrheit gestohlen und die Varai schwinden langsam. Bald wird es niemanden mehr geben, der sich an die Erste Wahrheit erinnert. Wir versuchen verzweifelt, alles zu retten, was noch zu retten ist. Juraj gehört dem ehrenwerten Zweig der Lufterkundung an. Piloten wie er begeben sich täglich in Gefahr, um das Wissen der Ersten Wahrheit zu bergen. Manchmal kehren unsere tapferen Krieger nicht zurück.«

Asavi erinnerte sich an Zar, der davon gesprochen hatte, dass er den Varai Informationen in Form von Datenträgern, Büchern und anderen menschlichen Artefakten brachte. Um eine Wahrheit zu bewahren, die ihn bereits abgestempelt hatte. »Genau das hat Zar für euch erledigt. Wo ist er?«

Izabela seufzte und rieb sich müde die Stirn. »Schatz, Balthazar ist ein Tunichtgut. Er ist gefährlich.«

»Was denn nun?«, fragte sie leicht verärgert. »Ein Tunichtgut oder gefährlich?«

Izabela lächelte wohlwollend, als wäre Asavi mit Absicht unvernünftig. »Unfähig das zu tun, was man ihm aufträgt und gefährlich, weil er unberechenbar ist.«

»Was trägst du ihm denn auf?«

Izabela lächelte kalt. »Die Engel in Frieden zu lassen und dennoch zieht er für Leute wie Joska aus und tötet sie.«

Gerechtfertigt, dachte Asavi, wagte aber nicht, diesen Gedanken auszusprechen, wenn Izabela einen derart grausamen Zug um die geschminkten Lippen trug.

»Wir müssen den Dieb finden und zur Rechenschaft ziehen.« Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch und sortierte die Akten dort sorgfältig übereinander.

Asavi folgte ihr und ließ sich in den Sessel sinken. »Wie kam es dazu?«

Izabela rang sich ein Lächeln ab. »Das ist eine lange Geschichte, die sich kurzfassen lässt. Du hast sicherlich mitbekommen, dass die ersten zwei Jahre, trotz der steigenden Übergriffe, viele Wissenschaftler darum bemüht waren zu verstehen, was geschah. Mein Kollege Arjan und ich haben festgestellt, dass es einen genetischen Unterschied gibt, der die Varai von den Enoui trennt.«

»Arjan, wie in dein Liebhaber?«

Izabela verzog kurz die Lippen, ehe sie bemüht lächelte. »Er ist nicht mein Liebhaber, doch das hat ohnehin keine Bedeutung mehr.«

Asavi schloss ihren Mund mit einem Mal nicht mehr so erpicht darauf erfahren zu wollen, wer er war. Vielleicht gewesen war.

»Wir stellten fest, dass es ein Mutagen gibt, das eigentlich vollkommen unscheinbar, harmlos und rezessiv vererbt wird«, erklärte Izabela. »Aber ehe wir verstehen konnten, was dies für die Zukunft bedeutete, wurde unser Labor Opfer der Klankriege. Es waren Joskas Männer, die über uns her fielen.«

Asavi kniff die Lippen zusammen. Also gab es selbst in der Apokalypse noch lästerliche Blutfehden.

»Arjan und ich schafften es ins Freie, als die Bomben fielen, doch zu retten wagten wir nichts weiter als die wenigen Aufzeichnungen, die uns dazu geblieben waren.«

»Wann war das?«, fragte Asavi.

»Bloß anderthalb Jahre nach dem Niederfall. Wir hatten ein ziemlich gutes Labor mit fantastischen Verbindungen in die höheren Regierungsebenen«, lächelte Izabela und zwinkerte ihrer Tochter zu. »Doch das reichte nicht, um angesichts des sicheren Todes ausgeflogen zu werden. Unwichtig«, winkte sie ab, als Asavi erneut den Mund zu einer Frage öffnete.

»Wir entkamen dem zusammenstürzenden Gebäude nur knapp.«

»Und Luna-Major? Wie kam er dann unter den Berg?«

Izabela lächelte verschwörerisch. »Er versank in der Erde, als wäre sie sein Ozean. Seinen Aufenthalt gab er uns kurz nach der Bombardierung durch Joskas Streitkräfte preis, damit wir uns in Sicherheit bringen konnten. Wir verstehen nicht alles, das er ist und doch genug, um ihm zu helfen. Er wies uns den Weg zu den wichtigsten Informationsquellen, zeigte uns, wo wir unsere Ressourcen finden konnten, und half uns, zu erkennen, dass es dieses eine isolierte Gen war, das Arjan und ich entdeckt hatten, welches uns aus dem Weltuntergang befreien würde.«

Asavi schluckte beklommen, während sie ihrer Mutter lauschte. Diese Geschichte klang absurd und abgedroschen und hätte sie den gigantischen Engel, der eigentlich die körperliche Hälfte des Mondes war, nicht mit eigenen Augen erblickt, wäre sie längst wieder in Spott verfallen.

»Und was genau ist das? Wie sollen wir ihm helfen? Wer hat ihn bestohlen?«

»Gevatter Tod, Asavi. Ich habe nicht gelogen. Er brachte einst in der Ersten Wahrheit die Seelen der verstorbenen hinauf zu den Sternen, damit sich diese von den Seelen ernähren können. Ich weiß«, setzte Izabela beschwichtigend an, als sich Asavi empört in ihrem Sessel nach vorn lehnte. »Das klingt das erste Mal ziemlich unheimlich.«

Asavi schnaubte.

»Aber das ist das Gefüge der Welt. Menschen sterben und wenn sie es tun, geleitet sie Gevatter Tod in die Nachwelt.«

»Wo sie gefressen werden«, schnappte Asavi entsetzt. »Und jetzt sind diese Monster direkt auf der Erde und warten nicht einmal mehr, bis die Menschen sterben!«

Izabela nickte mit ernstem Gesicht. »Genau das ist das Problem. Aus irgendeinem Grund hat Gevatter Tod die Wahrheit aus Lunas Griff entwunden und die Engel auf die Erde geschickt.«

»Damit wir allesamt sterben?«, fragte Asavi mit erstickter Stimme und selbst das warme Nachmittagslicht schaffte es nicht, die Eiseskälte aus ihren Gliedern zu vertreiben.

»Es ist anzunehmen, doch wir wissen es nicht. Als Gevatter Tod die Wahrheit stahl, nahm er auch Lunas Gedächtnis und riss den Mond entzwei. Luna-Major fiel auf die Erde und Luna-Minor ist verschwunden. Luna-Major kann ohne seine Verbindung zu seinem Gegenstück seine Macht nicht entfalten und vice versa.«

»Und was können wir tun?«, wollte Asavi mit dünner Stimme wissen. »Wir sind doch bloß Menschen. Die Engel ... sie - ... es gibt nichts, was wir ihnen entgegensetzen können. Sie töten uns in einem Tempo, das wir vermutlich froh sein müssen, uns in vier Jahren überhaupt noch als Menschheit bezeichnen zu können. Sie gehorchen niemandem.«

Asavi schloss zitternd den Mund, als sie merkte, dass ihr die Stimme versage. Sie dachte wieder an den Moment zurück, als sie gemeinsam mit Zar über den riesigen Engel gestolpert war. Und dann fiel es ihr siedend heiß wieder ein, weshalb ihr Luna-Major so bekannt vorgekommen war. Der Engel, der zwischen der Hirschherde geruht hatte, mit Haaren so weiß wie Schnee und einem Gemüt, das dem eines sanften Riesen anstatt eines blutdürstigen Monsters glich, sah Luna-Major schauerlich ähnlich.

Und Zar hatte gezögert, ihn zu erschießen. Warum? Asavis Herz hämmerte ihr laut und schmerzhaft in der Brust. War er ebenfalls so verstört davon gewesen, zu sehen, dass dieser Engel nicht zwangsweise alleine bei dem Geruch eines Menschen in Blutrausch verfiel?

»Sie gehorchen bloß ihrem Hüter«, rissen sie Izabelas Worte aus den Gedanken. »Deswegen ist es so wichtig, dass wir Gevatter Tod finden. Deswegen ist es so wichtig, dass die Varai nicht aussterben, und deswegen ist es so wichtig, dass wir alles, was wir aus der Ersten Wahrheit retten können, auch retten müssen. Wir sind darum bemüht die Ruinen der Menschheit nach allem zu durchkämmen, was uns an die Zeit vor dem Niederfall erinnert, damit wir den Jünglingen, die jetzt zur Welt kommen, zeigen können, wofür sie kämpfen.«

Asavi blinzelte die Tränen, die ihr aus Angst in die Augen gestiegen waren, entsetzt fort. »Aber das sind bloß Kinder«, meinte sie.

Izabela lächelte milde. »Sie werden schneller erwachsen, als du denkst.«

Asavi legte beunruhigt den Kopf schief. »Genforschung, du hast von einem Gen gesprochen«, hauchte sie, als sich eine ungute Vorahnung in ihren Geist schlich. »Was ist das für ein Gen?«

Csabas Worte blitzten wieder in ihrem Kopf auf und dann gefolgt von Juraj, die beide überzeugt davon gewesen waren, zu wissen, wovon sie sprachen und doch vollkommene Gegensätze behaupteten.

Izabela holte tief Luft und nickte. »Du hast Luna-Major gehört. Die Varai sterben aus. Aber mit seiner Hilfe ist es uns gelungen männliche Organismen zu erzeugen, die durch Luna-Majors Segen innerhalb weniger Monate heranwachsen.«

Asavi starrte Izabela entsetzt an. »Ihr züchtet Soldaten?«

Izabela hob beschwichtigend die Hände. »Wir züchten keine Soldaten, sondern Männer, die mit dem varai-Gen ausgestattet sind.«

»Was macht das für einen Unterschied!«, entrüstete sich Asavi atemlos und sprang aus ihrem Stuhl auf.

»Das, Schatz, macht den Unterschied, dass wir uns vor dem Aussterben schützen. Ein Mensch, der das varai-Gen in sich trägt, ist immun gegen die Neue Wahrheit. Aber die Männer, welche Luna-Major erschafft, können es nur einfach tragen und irgendwann erodiert ihre Erbsubstanz, fällt den Lügen dieser Welt zum Opfer und löscht ihren Verstand aus. Mit anderen Worten«, erklärte Izabela mit Nachdruck, »sind auch diese Züchtungen nichts weiter als eine Krücke, mit der wir uns mühselig an unser eigentliches Ziel schleppen müssen.«

»Den Sensenmann zu finden«, stellte Asavi tonlos fest.

Izabelas Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »So ist es.«

»Und was ist meine Rolle in dem Ganzen?«

Izabela legte den Kopf schief und runzelte die Brauen mitleidig. »Deine Rolle? Schatz, du bist meine Tochter. Deine Rolle ist es, an meiner Seite in Sicherheit weiter zu leben.«

Unter den Akten auf Izabelas Schreibtisch erklang ein lauter Signalton und Asavi zuckte heftig zusammen. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter änderte sich subtil, doch schlagartig und von den liebevollen Krähenfüßchen um ihre Augen war nichts mehr übrig. Stattdessen schlich sich eine Härte in den Zug um Lippen und Nase, der Asavi aus irgendeinem Grund einen kalten Schauer das Rückgrat hinunter jagte.

Izabela zog ein kleines Tablet hervor und wischte über den Touchscreen. Sie runzelte die Stirn und strich sich die Uniformjacke glatt. »Ich muss leider zu einer wichtigen Besprechung, Liebling. Bisweilen wird Juraj bei dir nach dem Rechten sehen. Er ist dein Geleitschutz und ich halte es für das Beste, wenn er dir Tag und Nacht zur Verfügung steht.«

»Warte einen Moment«, widersprach Asavi und beobachtete Izabelas geschäftige Handgriffe, die sämtliche Akten auf ihrem Tisch samt Tablet in ihre Arme beförderten. »Das Zimmer, in das du mich gestern gebracht hast, ist nicht deines?«

Izabela lachte amüsiert auf und dirigierte sie mit der freien Hand aus ihrem Büro. »Nein, wo denkst du hin! Das ist Jurajs Zimmer. Ich wohne direkt unter der Ebene unserer Labore. Die Arbeit lässt mich oft nicht schlafen, also überlasse ich die schicken Berg-Suiten lieber denjenigen, die sie auch genießen können.«

Sie zwinkerte Asavi zu und öffnete die Milchglastür in den Warteraum. Asavi wollte etwas darauf erwidern, doch blieb stumm. Auf den Sitzmöbeln warteten einige wichtig aussehende Leute in weißen Laborkitteln und marineblauer Uniform. Asavi beäugte die Männer mitsamt ihren Waffen nun noch misstrauischer. Ihre Mutter war doch wahnsinnig. Und verrückt gleichzeitig. Delirisch. Es gab keine Möglichkeit einen Menschen in ein paar Monaten zu einem ausgewachsenen, kampferprobten Soldaten zu züchten.

Aber dann erblickte sie Juraj, der inmitten der leise miteinander plaudernden Gruppe an wichtigen Leuten stand und so perfekt war, dass es keine andere Erklärung als Magie gab. Oder Gentechnik. Asavis Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen.

Izabela begrüßte die Wartenden und die uniformierten Männer salutierten vor ihr. »Gehen wir«, befahl Izabela und nickte Asavi ein letztes Mal aufmunternd zu.

Juraj blieb zurück und hielt den anderen die Türe auf, wie ein Gentleman. Er warf ihr einen amüsierten Blick zu und war drauf und dran, etwas zu sagen, aber Asavi kam ihm zuvor.

»Weißt du von dem allem?«

Juraj blieb verdutzt stehen und blickte zuerst Izabela nach und dann hinüber zu ihrer Bürotüre. »Du meinst von Luna-Major? Ja.«

Asavi nickte, rührte sich aber nicht. »Auch davon, dass du mein Bodyguard sein sollst?«

Jurajs Gesichtszüge wurden von einem versöhnlichen Lächeln eingenommen. »Natürlich. Izabela hat mich selbstverständlich darüber in Kenntnis gesetzt und ich nehme diese Aufgabe deshalb selbstverständlich genauso ernst. Komm, ich bringe dich in die Mensa.«

Asavi beäugte Juraj kritisch, der ihr zuvorkommend eine seiner makellosen Hände auf den Rücken legte, um sie vor sich aus dem Warteraum zu geleiten. Sie ließ es zu, vor allem, weil sie aufgrund dessen, was sie eben gesehen und gehört hatte, noch unter Strom stand. Die weißen Wände zogen an ihr vorbei und sie setzte unbewusst einen Fuß vor den anderen, bis sie den lärmenden Speisesaal erreichten, in dem sich Erwachsene, wie Kinder tummelten. Demnach waren nicht sämtliche Menschen hier gezüchtet.

»Bist du's?«, platzte es aus Asavi heraus, nachdem Juraj ihnen zwei Tabletts geholt und an die Ecke eines Randtisches gestellt hatte.

Er ließ sich verwirrt auf den Stuhl sinken und deutete ihr, sich ebenfalls zu setzen. »Bin ich was?«

Asavi presste ihre Lippen aufeinander und sah sich misstrauisch um. Niemand beachtete sie. »Du hast behauptet, Izabela betreibe keine Genforschung. Dabei hat sie eben behauptet, sie züchtet attraktive Killer. Bist du einer davon?«

Juraj starrte sie perplex an und besaß die Frechheit, daraufhin rot zu werden. »Ich bin kein Killer«, sagte er verärgert.

Asavi schnaubte durch die Nase. »Aber attraktiv?«

Juraj hob unbehaglich eine Schulter und deutete auf den Stuhl neben sich. »Setz dich bitte.«

Asavi kam seiner Aufforderung nach erzwungenem Zögern nach. »Also?«

»Meine Herkunft beruht nicht auf Genforschung«, sagte er ausweichend und fuhr sich nervös durch die Haare. Selbst seine Ohren waren rot und Asavi biss stinksauer die Zähne zusammen.

»Sondern?« Asavi missachtete die duftende Suppenschale und den bunten Salat samt warmem Brot vor sich auf dem Tablett.

»Luna-Major hat mich erschaffen. Ich bin genau genommen eineinhalb Jahre alt«, brachte er hervor und straffte seine Schultern, während er gleichzeitig ihren Blick mied. »Aber im Zuge meiner Entwicklung habe ich viel von ihm gelernt. Alles über den Zustand der Welt und über das, was wir zu bewahren versuchen. Über die Menschheit, ihre Heldentaten aber auch ihre Gebrechen.«

Asavi begutachtete seine perfekte Nase und die perfekte Kontur seiner Lippen, Schultern und sogar Hüften und wunderte sich, ob er hinsichtlich dieser Merkmale auch gewisse Dinge vermittelt bekommen hatte.

»Du findest das nicht schräg?«

Juraj hob seine muskulösen Schultern und starrte auf seine Suppe. »Es ist mir ein wenig peinlich, darüber zu reden.«

Asavis Augenbrauen schossen in die Höhe. »Es ist dir peinlich? Wie zur Hölle das denn?«

»Normalerweise sprechen wir nicht darüber. Es ist einfach. Du bist ziemlich forsch.« Er stieß die Luft aus und entspannte seinen Schultergürtel. Dann wandte er sich mit einem atemberaubenden Lächeln zu ihr um. »Das bin ich nicht gewohnt. Es gefällt mir.«

Jetzt war Asavi diejenige, die rot wurde und sich vorsorglich in ihre Suppenschüssel duckte. »Naja. Man überlebt draußen nicht besonders lange, wenn man sich nicht durchsetzen kann.«

Die Richtung des Gespräches schien Juraj zu gefallen, denn die Röte verschwand von seinen Wangen und er grinste ihr nun selbstsicher zu. »Keine Sorge, hier drinnen wird dir nichts passieren. Dafür bin ich schließlich da.«

Asavi rang sich ein Lächeln ab und stopfte sich dann mit ihrem Mittagessen voll.


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