Weltensammler

By RubyKhavera

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Hast du dich jemals gefragt, was zwischen den Sternen im Universum schlummert? Was sich in seiner Unendlichke... More

Kapitel 1: Eine Flamme zwischen den Fixsternen
Kapitel 3: Gehst du unter?
Kapitel 4: Der Stoff, aus dem das Leben gemacht ist
Kapitel 5: Wenn es regnet
Kapitel 6: Aus dem Dunklen in das Licht
Kapitel 7: Lass die Flamme deine Heimat sein
Kapitel 8: Spiegelscherben
Kapitel 9: Fremde Tränen, Welt aus Schmerz

Kapitel 2: Geflüster zu Mitternacht

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By RubyKhavera

So setzte die Flamme ihre Reise fort, mit derselben Leidenschaft wie selbige sie sich zu einem Teil ihrer Bestimmung einst erklärt hatte. Bestimmung, so nannte sie es zwar, doch wusste sie nicht, ob das wirklich der Weg war, den das Universum für sie vorgesehen hatte. So war die Reise durch die Galaxie eigentlich nur der letzte Ausweg, die Flucht vor ihrem alten, unzulänglichen Leben. So nannte die Flamme es ihre Bestimmung, doch war es eher die Suche danach. Für einen Menschen wie Ahry mochte die Suche auch schon eine Art Bestimmung bedeuten, schließlich war es seit langer Zeit das Einzige, dessen er sich mit vollem Herzen widmen konnte und wollte, doch was bedeutete es für das Universum? Wäre es einverstanden gewesen mit Ahrys Perspektive? Oder würde es ihm sogar anrechnen, dass er sich eine Bestimmung ins Herz geschlossen hatte, wohl wissend, dass sie nicht das Ziel, sondern die Reise dahin war? Die letzte Rettung, der nötige Impuls. Doch dann wiederum gab es Zeiten, in denen der Begriff Bestimmung wie eine übertriebene Anmaßung für Ahry klang, schließlich hatte er, als kleine Flamme, als kleines Licht in der Galaxie doch nur marginales Wissen über sie. Oh diese Flamme, sie wusste nichts, doch hatte Weg und Ziel.

Nur konnte sie von Ersterem niemals vollends überzeugt sein, stets den richtigen Pfad zu wählen, und von Letzerem niemals, ob sie es je erreichen würde, und woran sie es merken würde. Seine Bestimmung zu finden. Das wohl höchste Ziel im Universum. Doch solange die Flamme nicht das Gefühl hatte, dieses Ziel erreicht zu haben, musste die Suche nach ihr den Platz der Bestimmung in ihrer Seele einnehmen. Wie paradox. Ahry, der zur Flamme im Universum geworden war, war überzeugt, dass es etwas Höheres geben musste. Doch solange er dies nicht gefunden hatte, musste die Reise seine Bestimmung sein. Schließlich war er am Ende des Tages immer noch ein Mensch. Mit Gefühlen. Er musste fühlen, wie sein Herz, seine Seele mit einem Zweck erfüllt wird. Nur dann konnte er endgültige Überzeugung erlangen, auch wenn das Universum seine Bestimmung schon für ihn bereit hielt.

Doch das, was die Flamme tat, war das, was sie brauchte, um den Schmerz zu lindern, der sich über Jahre in ihrer Seele akkumulierte. Und diese Verzweiflung in ihr. Das permanente Grübeln, mentales Umherirren, ihr emotionales Auf und Ab, die seelische Pein, alles was sie plagte, was sie schlussendlich zu antiken Schriften führte, in der Zeit, bevor die Flamme zum ersten Mal zu einer Flamme wurde. Bevor dieser einfache Menschenjunge die Fähigkeit erlangte, sich in zwei Formen manifestieren zu können. Bevor sie anfing, sich weitaus tiefgründigeren Fragen zu widmen, auf die sie keine Antworten mehr in alten Schriften fand. Ahry war ein Mensch. Doch auch eine Flamme.

Und ebenjene zog just vorbei an ein paar dunklen Planeten. Ihre Anziehungskräfte, die auf die Flamme wirkten, manifestierten sich in kleinen Funken, die in Richtung selbiger Planeten ausschlugen. Doch brannte das Herz stets stark genug, um dieser Kraft zu widerstehen. Das war eine der wichtigsten und frühsten Lektionen, die die Flamme zu lernen hatte, wollte sie doch nicht riskieren, Zeit zu verschwenden, stattdessen selbstbestimmt das Universum erkunden, nur die Planeten und Welten erforschen, die sie reizten, die die größte Anziehungskraft nicht auf ihren physischen Körper, sondern auf ihr Herz, ihre nach Inspiration suchende Seele hatte. Die Flamme atmete tief ein, jeder Funke zog sich postwendend in ihr Zentrum zurück, um sich den Anziehungskräften vollends zu entziehen, um ihre Energien zu schonen.

Warum gehen Sterne unter? Ununterbrochen sah es die Flamme, während sie durch die Galaxie reiste, und jedes Mal stellte sie sich diese Frage. Jene Sterne, die im Leuchten ihren Zweck sehen, bevor sie sterben, beginnen sie zu flackern, erst nur sporadisch, doch immer wilder, vielleicht manifestiert sich darin auch nur ihre Angst vor dem Tod, ihre Farben werden sukzessive dunkler, das Leuchten immer kraftloser, bis zu dem Punkt des Erlöschens, nichts weiter als eine triste, aschfahle Kälte hinterlassend. Warum sterben sie? Dann wiederum jene, die Rotation, zirkularen Bewegungen oder gar beidem unterworfen sind, seien sie noch so langsam und unscheinbar. Die Wandelsterne, Planeten, auch sie beginnen, ihre Farbe zu verlieren, das war das Einzige, was ihren Tod mit jenen der Fixsterne verbindet, doch ist ihr Untergang weitaus tragischer für das Auge. Risse fressen sich durch ihren Mantel, brechen die Hülle auseinander, auf dass diese nicht mehr den Kern des Planeten schützen kann. Der Kern erfriert langsam in der dunklen Kälte des Weltraums, die einstige Hülle zerbricht in viele kleine Teile. Warum zerbricht sie? Jeden Tag sah die Flamme Sterne untergehen. Warum - gehen - sie - unter? So selbstverständlich, so natürlich es schien, ist es ein ewiger Lauf, ein kleines Stück des Zyklus des Universums? War es wie eine Art kosmische Apoptose oder hatte es vielleicht sogar ganz andere Gründe? Die Flamme konnte nicht aufhören, sich zu fragen, warum sie starben. Welche Bedeutung ihr Tod hatte. War es natürlicher Zerfall oder gar Untergang? War das Universum unzufrieden mit ihnen oder hat es ihr Leiden vernachlässigt?

Obschon die Flamme nicht gerne Rast auf Planeten machte, die sie nicht interessierten, nach einiger Zeit der Reise wurde sie müde, büßte an Tempo ein. Und an Wärme. Ihr Verstand erschöpft von den vielen Eindrücken, der permanenten Grübelei. Auch wenn die Reise durch das Universum der Flamme nur noch mehr Fragen und Unklarheiten aufwarf, gab sie ihr doch das Gefühl, nicht der Unwissenheit ausgeliefert zu sein. Eine Möglichkeit zu haben, ihren Horizont zu erweitern, weiser zu werden. Es war die einzige Wahl für die Flamme, auch wenn der Preis nicht gering war. Doch nun ließ es sich nicht vermeiden. Die Flamme bedurfte einer Rast, der Verstand war schwer geworden. Raste, kleine Flamme. So beschloss sie, auf dem nächstgelegenen Planeten eine Pause einzulegen. Der Planet, für den sie sich letztendlich entschied, war von großem Durchmesser, und aus dem Blickwinkel der Flamme, von einem gigantischen Wald besetzt. So dicht und groß, das dunkle Grün, das die Flamme erblickte, es war nicht die Färbung des Planeten, es waren Myriaden von Bäumen, und sie schienen die ganze Oberfläche des Planeten zu bedecken. Und obwohl sie so dicht aneinander standen, wollte die Flamme die Versuchung unternehmen, einen Platz zum Rasten auf jenem Planeten zu finden. So ließ sie sich fallen.

Auf dem Planeten angekommen, nahm Ahry wieder seine menschliche Gestalt an und ließ die Flamme in seinem Herzen ruhen. Die erste Erkenntnis, die der Reisende machte, war dass die Bäume gar nicht so dicht aneinander standen, wie es, vom Weltraum aus betrachtet, zuvor den Anschein machte. Vielmehr variierten die Bäume stark in Größe und Ausdehnung ihrer Kronen. So gab es große Bäume, die mächtige, mit Blättern besetzte Äste trugen, und unter ihnen genossen ein paar kleinere, dünnere Bäumchen Schutz. Doch alles in allem schien dieser Planet nur ein einziger kolossaler Wald zu sein.

Der Junge musste nicht lange suchen, bis er einen kleinen, kreisrunden Platz fand, der ziemlich kahl war. Der Boden unter ihm war trocken und gelblich. Ahry sammelte einige kleine Stöcke, die er vor sich auf den Boden warf, bis er damit einen für ein Lagerfeuer ausreichenden Haufen an Brennmaterial gebildet hatte. Anschließend setzte sich der Junge im Schneidersitz vor die Feuerstelle. Und blickte in den Himmel, wo für sein bloßes Auge jedoch nur ein paar kleine Sterne sichtbar waren. Helle Funken zwischen dunkler Nacht. Leuchtende Augen, die hinter dem schwarzen Schleier hindurchblickten, während sie hinter diesem selbst nicht viel von ihrem Licht preisgeben mussten.

„Ihr versteckt euch, ihr Sterne, habe ich nicht Recht?", sprach Ahry und lächelte leicht verschmitzt.

Ahry hielt seinen Blick für einen Moment fest, bis er seinen linken Arm ein Stück anhob und auf seiner Handfläche eine weiße Flamme erscheinen ließ.

„Oh du mächtige Flamme, die die Seelen der Reisenden ihre Heimat nennt", sprach Ahry und hob seine Hand weiter an.

Er hielt die Flamme zwischen sich und dem Himmel, etwa einen halben Meter von seinem Gesicht entfernt. Anschließend blickte er durch die Flamme hindurch in den Himmel, und was er nun sah, waren unzählige Planeten in der Galaxie, alle in verschiedenen Farben und Größen. Zwischen ihnen wachten die Sterne, doch nun sah Ahry ihr Licht viel strahlender als zuvor noch mit bloßem Auge. Und erst jetzt erkannte er ihr Funkeln, wo er zuvor lediglich ein starres, mattes Leuchten sah. Ein atemberaubender Ausblick auf die unendlichen Weiten des Universums, die Sterne, die es in sich trägt, in ihrer vollen Schönheit. Ahry liebte es, diesen Anblick zu bewundern, er konnte nicht genug davon bekommen, obwohl er ihm mittlerweile mehr als nur vertraut war. Durch den Schleier des Himmels schauen zu können, all die Sterne und Planeten, die sich hinter ihm versteckten, bewundern zu können, gab ihm ein Gefühl von Macht. Die Macht, die die Flamme ihm gab, die im erlaubte, auszubrechen, aus seiner Hilflosigkeit, seiner Verzweiflung. Sie erlaubte ihm, aus seiner seelischen Ohnmacht zu erwachen.

„Könnten doch nur mehr Wesen all das hier sehen", träumte Ahry vor sich hin.

Nach einigen Augenblicken erfasste der Junge mit seiner Hand einen der Stöcke der Feuerstelle, woraufhin dieses rasch zu glühen begann, ehe sich eine weiße Flamme in dem Haufen bildete. Ein warmes Lagerfeuer, von nur dezenter Helligkeit, welch' angenehme Atmosphäre sie spendete. So weiß und stark wie die Flamme in Ahrys Herzen. Der Junge setzte sich vor das Feuer und streckte seine Beine aus, erlaubte seinen Füßen, nur wenige Zentimeter von der Flamme entfernt, sich auszuruhen und aufzuwärmen. Seine Hände setzte er hinter sich auf dem Boden ab und lehnte sich ein Stück zurück. Die Flamme schlug ab und an ein paar Funken in Richtung von Ahrys Füßen aus. Für einen Moment beobachtete der Junge dies.

„Tut mir leid, diese Wunden kannst du nicht mehr ausbrennen", sprach er lächelnd zu der Flamme.

Nach einem kurzen Augenblick zog der Junge seine Beine an seinen Körper heran, blickte dann nach unten auf die vielen kleinen Narben an ihm. Das beruhigende Knistern des Feuers drang sanft in Ahrys Ohren, während es seinen weißen Schein auf den Körper des Jungen warf.

„Wer hätte gedacht, dass ich all das eines Tages hinter mir lassen kann?"

Ahry entspannte sich in der Gegenwart dieser großen Flamme. Vielleicht hatte sie diesen Effekt auf ihn auch nur, weil sie ein Teil von ihm war. Ein so starker Teil, dass die Funken, die das Feuer in die Luft spuckte, stets in Ahrys Richtung flogen. Sie wärmten den Jungen, das mussten sie, denn der Weltraum war kalt. So wie dieser Planet, auf dem Ahry ruhte. Kühler Wind streifte den Körper und das Haar des Jungen, doch war er der mächtigen Flamme auf dem Boden nicht gewachsen. Nichtsdestotrotz genoss Ahry den Wind. Er erinnerte ihn an die Tage, an denen er stundenlang draußen saß und in den Nachthimmel blickte, noch bevor er angefangen hatte, das Universum zu bereisen. Bevor er seinem Heimatplaneten, der sich für ihn lange nicht mehr wie eine Heimat anfühlte, den Rücken kehrte und beschloss, in der unendlichen Galaxie nach Sinn und Antworten zu suchen. Diese Atmosphäre, dieser kühle Wind verleiteten Ahry dazu, erneut seinen Kopf zu heben und in den tiefschwarzen Himmel zu blicken. Damals hatte er dem Himmel und den Sternen viele Wünsche anvertraut, während das Loch in seinem Herzen immer größer wurde. Sein Heimatplanet fühlte sich für ihn wie ein Gefängnis an, die Füße an den Boden gefesselt, sein Herz geknebelt und gepeinigt von physischem und emotionalem Schmerz. Niemals hätte er gedacht, dass sich sein Leben derartig ändern könnte. Bevor Ahry dieses Buch fand, das er seitdem, befestigt an einem Gurt um seiner Hüfte mit sich trägt. Bis dahin waren die Nächte, an denen Ahry in den Himmel blickte, umspielt von Wind und Kälte, die einzigen Ausflüchte für seine weinende Seele. Die einzigen Male, an denen er eine Verbindung zum Universum fühlte, und sich in ihm der Wunsch manifestierte, es zu bereisen und zu ergründen. Und obwohl diese Zeiten längst vorbei, die Erinnerungen belanglos geworden waren, seitdem Ahry sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, dachte er doch an sie zurück, weil dieser Moment so vertraut war. Der Junge schloss seine Augen, atmete tief ein und wieder aus.

„Sei jetzt einfach hier", flüsterte er und legte seine Hände ineinander.

Die vielen Bäume um ihn herum, ihre Stöcke und Äste wurden wild vom Wind umher geschüttelt, ließen sich gegen die Rinde anderer Bäume schlagen, ihre Blätter in einem melodischen Rhythmus rascheln. Die Baumkronen tanzten, der Wind gab ihre Richtung vor, während er die Blätter singen ließ. Sanftes Rascheln zwischen dem leisen Wehen des Windes.

Hartnäckig rüttelte der Wind auch an Ahry, als solle er ein Teil dieses Tanzes werden, doch dieser bewegte keinen Muskel. Zu oft ließ er sich in der Vergangenheit mitreißen und von seinem Weg abbringen. Doch heute war er um eine Flamme weiser, und stärker, der kalte Wind konnte ihm nichts mehr anhaben, egal wie sehr er es versuchte. Provokant legte sich Ahry auf den Boden.

„Weck' mich, wenn es Zeit wird, weiterzuziehen."

Begleitet von dem ruhigen Gesang der Natur in seinen Ohren, schlief Ahry ein, um neue Kraft für die Reise zu sammeln. Je mehr Zeit verging, desto stärker wurde der Wind, desto stärker schlug er die vielen Blätter der Bäume gegeneinander, desto lauter wurde das Rascheln, desto mehr Stimmen versammelten sich zum Gesang. Die Atempausen für das Lied des raschelnden Laubes wurden kürzer, rarer. So laut sangen sie, die Blätter peitschten gegeneinander, gegen harte Rinde und Äste, der Wind schlug sie umher, zog immer mehr Bäume und deren belaubten Arme in seinen Bann, vereinnahmte sie für sein Spiel. Doch plötzlich, ein lautes Geräusch übertönte den Gesang für einen Moment, und riss Ahry aus dem Schlaf. Dieser setzte sich prompt auf und blickte sich um. Die Bäume um ihn herum, sie tanzten, raschelten, wild und laut. Der Himmel war tiefschwarz, finsterer und kälter als Ahrys letzter Eindruck von ihm gewesen war, bevor er sich schlafen gelegt hatte. In der Schwärze des Himmels kam das dunkle Grün des Laubs noch mächtiger zur Geltung, seine Bewegungen waren viel deutlicher, dominanter.

„Ich werde sie alle stolz machen."

Ahrys Verstand war noch leicht schlaftrunken, so glaubte er zunächst, sich eine flüsternde Stimme eingebildet zu haben. So leise wie sie war, hätte sie doch niemals durch das dominante Rascheln der Blätter hindurchdringen können. Der Junge rieb seine Augen, waren sie doch noch ein wenig in den Überresten des Schlafes gefangen.

„Bald werden wir wieder vereint sein."

„Was?", Ahry sprang auf und blickte sich beunruhigt um.

Geflüster zwischen den Baumkronen? War es Einbildung? Ahry drehte sich zum Lagerfeuer, streckte seinen Arm in dessen Richtung aus, woraufhin die Flamme sofort erlosch. Anschließend schloss er seine Augen und lauschte seiner Umgebung. Er war sich sicher, Worte gehört zu haben, doch misstraute er seinen aus dem Schlaf gerissenen Sinnen, so wollte er sich auf die Geräusche um sich herum fokussieren. Der Wind und sein Chor verblieben dominant, Ahry versuchte, sie auszublenden.

„Lass uns den Frieden in die Herzen der Völker tragen."

Schon wieder eine Stimme. Flüsternd. Je länger Ahry horchte, desto mehr von ihnen hörte er.

„Ich werde meine Heimat retten!"

„Wer seid ihr?", flüsterte Ahry zurück.

„Machen wir diese Welt zu einem besseren Ort."

Es dauerte nicht lange, bis Ahry unzählige Flüsterstimmen zu hören begann. Schon nach kurzer Zeit waren es so viele, dass sich die Worte miteinander vermischten, von anderen Stimmen verschluckt wurden. Ahry konnte keine vollständigen Sätze mehr verstehen, nur einzelne Worte und zerhackte Silben. Der Junge versuchte, durch reine Konzentration Wörter zu identifizieren, doch für einen nicht kurzen Moment war dies der Unmöglichkeit unterworfen. Es mussten erst einige Minuten vergehen, bis die Flüsterstimmen wieder weniger wurden, und die Worte daraufhin wieder deutlicher zu verstehen waren. Ahry versuchte, die Fragmente zusammenzusetzen. Er waren Wünsche, die von den Flüsterstimmen geäußert wurden. Sie bezogen sich auf alles Mögliche. Sie konnten unmöglich einer Quelle zugeordnet werden, wo kamen sie her? Ahry war ratlos.

„Ich werde - "

„Meine Heimat - "

„Ich werde sie -"

„Meine -"

„Untergang."

„Universum -"

„Verlassen -"

„Es muss -"

„Vergessen und -"

„Sterben."

„Retten."

Und plötzlich ertönte wieder dieses Geräusch. Es war ein ähnliches Geräusch wie jenes, das Ahry zuvor aufweckte. Es störte seine Konzentration. Was war es? Es klang wie Stahl, welches auf Baumrinde eindrosch. Es ertönte immer häufiger. Und lauter. Es stresste Ahry, er wollte den Stimmen lauschen, doch dieses immer gleiche Geräusche ließ die Wörter und Sätze zu Fragmente zerbrechen. Doch nach nur wenigen Augenblicken verstummten selbige Geräusche wieder, das Geflüster wurde langsam wieder lauter und deutlicher.

„Wer bist du?", schlich sich plötzlich eine mächtige Stimme an Ahry heran.

Dieser drehte sich erschrocken um und erblickte eine große Gestalt, nur wenige Meter vor ihm. Hufen scharrten über den kahlen Boden. Zwei muskulöse Arme, die eine große, scharfe Axt hielten. Ein männliches Gesicht, alt, mit einem langen grauen Bart. Diese Gestalt, sie war ein Zentaur. Noch nie zuvor hatte Ahry mit seinen eigenen Augen eine solche Gestalt gesehen. Der Übergang zwischen dem menschlichen Oberkörper und dem tierischen, mit Fell bedeckten Unterkörper war fließend. Die Axt. War sie die Quelle der Geräusche, die Ahry zuvor hörte? Der Junge blickte den Zentaur überrascht an. Obwohl er Ahry eine Frage gestellt hatte, schien seine Konzentration auf ihn schnell nachzulassen, wandte er sich doch zu den Bäumen um ihn herum und begann, mit der Axt in einige dieser Bäume zu schlagen. Und in dem Moment, in welchem ein Schnitt in die Rinde eines Baumes gehauen wurde, begann dieser postwendend, zu verfaulen, sich einzuziehen, letztendlich zu Staub zu zerfallen. Der Zentaur schlug einen Baum nach dem anderen mit der scharfen Axt, die er in seinen Händen hielt. Für Ahry wirkte es einen Moment wahllos, welche Bäume den Tod erleiden musste, dann wiederum fragte er sich, ob es nicht ein System dahinter gab. Was dem Jungen außerdem auffiel, wenn auch nur bei ein paar wenigen Bäumen, dafür war das Geflüster zu laut und entsprang zu vielen Stimmen, war dass einige dieser Stimmen erloschen, sobald sich die Axt in dessen harte Rinde fraß, augenscheinlich die Lebensessenz der Pflanze aussaugend, nichts weiter als verrotte Rinde und Laub hinterlassend. Doch der Zentaur blieb dieser Tätigkeit gewidmet, als sei sie seine Bestimmung. Ahry lief dieser sonderbaren Gestalt hinterher, er war neugierig.

„W-Was hat es mit diesen Bäumen auf sich?", fragte er den Zentaur, der sich aber von Ahrys Worten nicht beirren ließ, „warum fällst du sie und was sind das für Stimmen hier in diesem Wald?"

Der Pferdemann schwang seine Axt in einen Baum von großem Durchmesser. Mehrere Hiebe waren nötig, um diesen zum verrotten zu bringen. Ein trauriger Anblick, wie ein Baum an Farbe verlor, an Stabilität, letztendlich verrottete und zu Staub zerfiel.

„Diese Stimmen", erhob der Zentaur seine Stimme, ohne Ahry auch nur eines Blickes zu würdigen, „sind der Puls träumender Herzen."

„Träumender Herzen?", fragte der Reisende.

„Sie sind die Träume der Wesen, die dieses Universum bewohnen. Sie alle haben ihren Platz auf diesem Planeten. Ich fälle diese Bäume, wenn die Träume sterben, aus denen sie entstanden sind."

„Sie sterben? Was hat das zu bedeuten?"

„Nun, entweder finden die Wesen, die diese Träume in sich trugen, den Tod, oder ihnen geht schlicht und ergreifend die Hoffnung und die Kraft aus, sie am Leben zu erhalten. Das ist der Moment, an dem Träume sterben, an dem ich diese Bäume fälle."

Und nun begann Ahry, diesen Stimmen auf eine ganz andere Art zu lauschen. Er erkannte Träume, in jeder einzelne dieser Stimmen. Manches Geflüster glich eher kleinen Wünschen oder starken Hoffnungen, doch war das nur Ahrys menschliche Einschätzungen von den Worten und Sätzen, die er vernahm.

„D-das bedeutet, jeder von dir gefällte Baum symbolisiert einen gestorbenen Traum?"

„Gewiss", antwortete der Pferdemann und holte zum Axthieb aus.

Ahry setzte sich wieder auf den Boden vor die Feuerstelle. Der Zentaur schlug weiter die Bäume um sich herum zu Staub. Es schien, als leitete ihn ein Instinkt, der ihm sagt, welcher Baum als Nächstes dran glauben muss.

„Und das ist alles, was du tust?"

„Es gibt noch mehr solche wie mich. Doch ja, dies ist unsere Bestimmung. Die Aufgabe, die das Universum uns auferlegt hat."

Ahry schwieg, blickte erneut in den Nachthimmel.

„Ich frage mich, was meine Bestimmung ist", sprach er leise.

Und obwohl es Zeiten gab, an denen sich Ahry wünschte, dass das Universum ihm eine Antwort auf die Frage geben würde, ertrug er die Stille mit Demut.

„Also gibt das Universum den Träumen aller Wesen einen Platz auf diesem Planeten? Aber wieso? Welchem Zweck dienen sie?", fragte Ahry den Zentaur, „modelliert das Universum anhand dieser Träume die Bestimmung aller Wesen? Ihre Beziehungen? Den Verlauf ihres Schicksals? Lernt es aus ihnen?"

„Träume", entgegnete der Zentaur, „tragen Energie in sich. Und diese Energie hat einen Platz im Universum. Sie bewegt etwas. Sie ist eine Ressource, eine Kraft."

Nachdem der Pferdemann seinen Satz beendet hatte, entfernte er sich langsam aus Ahrys Sichtfeld, schlicht weiter seiner Bestimmung folgend.

„Aber was hat das -", rief Ahry ihm hinterher, doch da war er bereits verschwunden.

Der Junge ließ die restlichen Worte in seinem Verstand fallen, atmete tief durch, ein wenig enttäuscht, doch mit einem demütigen Lächeln.

„Geh' deiner Bestimmung nach, niemand hat dich aufzuhalten", flüsterte er, „ich habe meinen eigenen Kopf zum Denken."

Für einen Moment blickte sich Ahry um, lauschte ein letztes Mal konzentriert den Stimmen und dem Wind.

„Irgendwann finde ich es schon heraus."

Der Reisende begann, ein wenig den Wald zu erkunden. Er glaubte zwar nicht, etwas anders zu finden als Bäume, verträumte Stimmen und raschelnde Blätter, doch wollte er seine Perspektive auf den Planeten ein wenig erweitern. So zwängte er sich vorbei an Bäumen und Ästen, unter seinen Füßen brachen kleine Stöcke und Laub, doch viel mehr wurde ihm wirklich nicht mehr geboten. Nach einiger Zeit jedoch fand sich Ahry vor einem Hügel wieder. Auf seiner Spitze stand ein Baum, der alle anderen um ihn herum in Durchmesser und Größe bei Weitem übertraf. Viele Arme waren aus seinem Stamm gewachsen, sie trugen Laub in kräftigen Farben. Ahry war fasziniert von der Erscheinung dieses Baumes und beschloss, den Hügel zu erklimmen. Als er nach kurzer Zeit vor dem Baum stand, da hörte er nichts mehr. Bis auf eine einzige Stimme.

„Ich werde die Bedeutung und den Zweck des Universums ergründen. Und ich werde meinen Platz in ihm finden."

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