[Sci-Fi/Fantasy] Starfall - W...

By frowningMonday

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»Seine sieben Augenpaare waren auf sie gerichtet und alle vierzehn der menschlichen Pupillen nahmen sie ins V... More

- Vorwort -
- Prolog -
- I. -
- Kapitel 1: Neun Schuss -
- Kapitel 2: Trügerische Hoffnung -
- Kapitel 4: Vom Regen in die Traufe -
- Kapitel 5: Die Wahrheit bildet keine Derivate -
- Kapitel 6: Feind deines Feindes -
- Kapitel 7: Drinnen ist Draußen -
- II. -
-Kapitel 8: Die Unschuld stirbt als Erstes -
- Kapitel 9: Eine Lektion im Gemüseschälen -
- Kapitel 10: Wiegenlied -
- Kapitel 11: Wo man singt, da lass dich nieder -
- Kapitel 12: Katzenlord -
- Kapitel 13: Dein Gott heißt Joska
- Kapitel 14: Startschuss -
- III -
- Kapitel 15: Gestrandet -
- Kapitel 16: Weil es Sinn macht; sinnbefreit -
- Kapitel 17: Engelsduft -
- Kapitel 18: Katzengold im Himmel -
- Kapitel 19: Verbotene Erinnerungen -
- Kapitel 20: In Sicherheit -
- Kapitel 21: Das Ende einer Ära -
- Kapitel 22: Hölle auf Erden -
- Kapitel 23: Makellos -
- Kapitel 24: Was im Muttergestein schlummert -
- IV. -
- Kapitel 25: Luna-Major -
- Kapitel 26: Gefallener Stern -
- Kapitel 27: Ironie des Sternenhimmels -
- Kapitel 28: Mondbetriebenes Solarkraftwerk -
- Kapitel 29: Verhandlungsmaterial -
- Kapitel 30: Die Krücken der Varai -
- Kapitel 31: Wunderhände und Traumtypen -
- Kapitel 32: Der Mond, der Tod und die Engel -
- Kapitel 33: Izabela, Joska und der Weltuntergang -
- Kapitel 34: Berg, Ade -
- Kapitel 35: Hallo, Schatz -
- Kapitel 36: Der erste von zwei Splittern -

- Kapitel 3: Falsche Jahreszeit -

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By frowningMonday

Asavi wachte auf, als trübes Zwielicht durch ihre Lider sickerte. Um sie herum war es dunkel, doch die Morgendämmerung bahnte sich nach dem ergiebigen Regenschauer der Nacht endlich ihren Weg durch die Wolkendecke.

Sie rappelte sich auf und streckte ihre Gliedmaßen. Mit einem Blick auf Zars Lager stelle sie fest, dass er schon aufgestanden war. Seine Sachen standen noch da und so entspannte sich Asavi, ehe sie sich durch die Haare fuhr. Ihr Großvater hatte sie ihr geschnitten, als sie den Bauernhof aufgegeben hatten, um vor den ewig hungrigen Engeln zu fliehen.

»Lange Haare sind ein Hindernis«, hatte er gesagt, als er ihr die langen, dunkelbraunen Strähnen ohne auf ihre Tränen zu achten vom Kopf scherte. Seitdem hatte Asavi in keinen Spiegel mehr geblickt, sie ungehindert wuchern lassen und mittlerweile waren sie zumindest wieder bis zu ihren Schultern nachgewachsen.

Sie wäre gerne sauberer, aber nach mehr als drei Jahren auf der Flucht vor etwas, dem man nicht entkommen konnte, war Asavi ungeniert erleichtert, wenn sie in den einen oder anderen Regenschauer geriet. Dass sie gestern mit einer extra Dusche Engelsblut bedacht worden war, spielte hier minimal mit hinein, dass sie sich nach einem Bottich klaren Wassers sehnte.

Asavi hängte sich die Hello-Kitty Tasche um und schlang sich ihre trockene Regenjacke um die Hüfte, von der sie schon seit Jahren die Leuchtstreifen geschnitten hatte. Ihre Stiefel waren über Nacht nur mäßig getrocknet und sie schob ihre Zehen in den muffigen Schaft. Auf leisen Sohlen schlich sie zum Türspion und spähte nach draußen. Sie wäre sich gerne ebenso sicher, wie Zar, was die An- und Abwesenheit der Engel anging.

Die Straße lag vollkommen still in der Morgendämmerung und in der Ferne, hinter den Einfamilienhäusern der Nachbarschaft, erblickte sie die hohen Betonskelette der Büros und inneren Stadt. Es war unmöglich, zu bestimmen, wie die Stadt hieß, dafür hatte sie zu lange keine Karte mehr gesehen.

Die letzten drei Monate hatte sie damit verbracht, blind der Sonne zu folgen, immer weiter in den Westen, der abschließenden Anweisung ihres Vaters nach. GPS-Geräte waren teure Mangelware und die seltenen Angebote, die sie in den vergangenen Monaten ausgeforscht hatte, lagen ein wenig außerhalb ihrer Preisklasse.

Eine Bewegung auf der Veranda fing ihre Aufmerksamkeit. Zar kehrte zurück und warf etwas auf die Ladefläche seines Jeeps. Das Rascheln einer Plastikplane drang durch das Holz und dann wich Asavi einen Schritt nach hinten, damit Zar ihr nicht die Türe ins Gesicht schlug.

»Guten Morgen«, grüßte er sie mit strahlendem Lächeln und drückte sich an ihr vorbei den Flur entlang, um seine Sachen zu packen.

Asavi blinzelte ihm irritiert hinterher. »Hast du den Engel schon geköpft?«

»Ja, den Anblick wollte ich dir ersparen.«

Asavi hob die Schultern. »Das wäre nicht die erste Engelsleiche, die ich gesehen habe. Oder eine Leiche im Generellen«, fügte sie murmelnd hinzu und trat aus dem Haus in den ewig währenden Sommer.

Seit die Engel auf die Erde gefallen waren, gab es keine Jahreszeiten mehr und die Welt selbst hatte sich jenseits der tropischen Klimazone in eine immergrüne Landschaft verwandelt.

Es regnete zwar nicht ständig, doch die Luft war stets erfüllt von einer drückenden Schwüle, als drohte jede Stunde ein Gewittersturm über die gesamte Welt herein zu brechen. Die Sonne brannte unerbittlich Tag für Tag auf die Erde nieder, als wolle sie diese Strafen. Der Mond hingegen war spurlos verschwunden. Als versteckte er sich hinter einer Milchglasscheibe.

»Du meinst die Hüllen, oder?«, fragte Zar, als er seinen Seesack auf die Ladefläche des Chevy-Trucks warf, auf der sich die zuvor gehörte Plastikplane über den vermeintlichen Engelskopf wölbte. Das Metall darunter war blutbefleckt und Asavi wandte den Blick ab.

»Nein, ich meine nicht die Hüllen.«

Es war ein sehr dehnbarer Begriff für das, was die Engel zurückließen, wenn sie einem Menschen die Seele aus dem Körper geschlürft hatten. Immer noch menschlich und dennoch völlig anders. Die Leichen verrotteten nicht, kein Tier wagte sich an das langsam aushärtende Fleisch, das sich eher verhielt wie der heruntergebrannte Glutherd eines Kamins. Irgendwann zerfielen die von Engeln getöteten Menschen zu nichts weiter als Asche.

Zar öffnete ihr die Beifahrertüre und sie stieg zögerlich ein. »Danke.«

»Wessen Leichen hast du denn dann gesehen?«, fragte Zar weiter, seine hellgrauen Augen ruhten neugierig auf ihrem Profil, als er selbst einstieg und den Zündschlüssel herumdrehte.

Asavi kniff die Lippen zusammen. Sie hob eine Schulter und drückte ihre Tasche fest an die Brust. Das Hello-Kitty-Motiv fühlte sich rau unter ihren Fingern an, so zerfranst war es mittlerweile.

Zar bohrte nicht weiter nach, legte den Rückwärtsgang ein und lenkte aus der überwucherten Ausfahrt. Auf der Landstraße wandte sich Asavi ein letztes Mal um und betrachtete die schweigende Stadt, die langsam immer kleiner wurde.

~

In Zars Auto roch es nach Staub und Holz, nach Schießpulver und Polierwachs. Vielleicht auch ein wenig nach Mensch. Asavi war, seit sie den Bauernhof verlassen hatten, in keinem Auto mehr gesessen. Sie hatten ihren Truck stehen lassen und die Pferde genommen in der Hoffnung, dass man sie dann nicht verfolgen würde. Ein Wagen würde liegen bleiben, wenn ihm der Sprit ausging, ein Pferd hatte in dieser Welt des ewigen Sommers genügend davon.

Dass sie beide Gäule im Endeffekt dennoch schlachteten, war anderen Umständen zuzuschreiben. Sie hatte an der Hand ihres Großvaters geweint, während ihr Vater auf der staubigen Straße voranging. Er hatte ihr nie alles erzählt, bis zum Ende nicht.

Der Brief in Asavis Tasche umfasste zwei Seiten. Eine zu Tränen rührende Bitte ihrer Mutter, zu ihr zu finden und eine zweite voller Zahlen. Über die Bedeutung hinter diesen hatte ihr Vater nie ein Wort verloren und Asavi hatte nicht nachgefragt. Jetzt, da er nicht mehr da war, wünschte sie sich, sie hätte ihn zu seinen Lebzeiten darauf angesprochen.

Der zweiseitige Brief hatte sich als ironischer und dennoch passender Vergleich zur Welt entpuppt. Auf den ersten Blick war sie verständlich und nachvollziehbar, wie der sehnliche Wunsch einer Mutter ihre Familie bei sich zu haben, ehe alles endete. Auf den zweiten Blick jedoch, verschlüsselte sich die wahre Bedeutung dieser simplen Welt. Flucht war nicht mehr gleich Flucht, die Sicherheit in den Klanstädten, wider der menschlichen Natur, ein Trugbild. Nähe wurde gleichbedeutend mit Gefahr und das, was die menschliche Zivilisation über Jahrzehnte vernetzt hatte, zum Sinnbild ihrer Vernichtung.

Sicherheit, so hatte sie gestern festgestellt, war relativ und schändlich situationsbedingt. Was heute als vernünftig galt, konnte morgen der letzte Fehler sein.

Sie saß mit angewinkelten Beinen auf dem Beifahrersitz und ließ ihren Blick über die endlose Landschaft der pannonischen Tiefebene schweifen. In weiter Ferne erkannte sie flache Hügelketten und lichte Wälder, einsame Baumgruppen und verwilderte Weinbaugebiete. Eine verfallene Winzerei, ein Farmhaus oder ein überwucherter Ziehbrunnen zwischen den ehemaligen Feldern.

Wenngleich der Ursprung der Brachwiesen kein schöner war, konnte sich Asavi dennoch nicht an den bunten Schwertlilien, Küchenschellen und glänzenden Pfriemengräsern sattsehen, welche die ebenfalls verwitternden Straßen umgaben. Als wäre hier nicht der Weltuntergang hereingebrochen, sondern das Artenschutzprogramm und die Förderung der Biodiversität zur Gänze umgesetzt worden.

Die Sonne kletterte höher und immer höher und tauchte die staubige Luft voller Pollen in blendendes Licht.

Wieso hatte ihre Mutter nicht schon früher Bescheid gegeben? Vielleicht hätten sie es dann rechtzeitig geschafft, den Truck zu nehmen, weil sie nicht fürchten mussten, durch Kriegsgebiete zu ziehen, in denen Sprit teurer war als Essen.

Sie blinzelte wieder zu Zar hinüber, der in seiner vollen Montur auf den Horizont starrte. Er hatte eine Stupsnase, die seinen hohen Wangenknochen ein wenig an Schärfe nahmen. Sein Mund wiederum war ebenso kantig geschnitten wie sein Kiefer und obwohl er einen steten Zug von Belustigung um die Lippen trug, erkannte Asavi die passive Härte auf seinen Zügen.

Ein rascher Blick in den Seitenspiegel hatte Asavi beim Einsteigen gezeigt, dass sie ebenso verhärmt aussah. Und zerzaust. Ziemlich zerzaust. Sie kämmte sich durch die Haare und fragte sich, wie Zar in so einer grauenvollen Welt nicht den Mut verlor, sondern mit einem Gemüt durchs Leben spazierte, welches der Sonne Konkurrenz machte.

Hochkonzentriert, oder völlig unbeeindruckt von der Natur neben der Fahrbahn, blickte er aus seinen schmalen mit dichten Wimpern umrahmten Augen in den Farben schmutzigen Packeises hinaus in die Landschaft.

Schon bald erkannte Asavi in der Ferne eine breite Silhouette zwischen den Wiesen aufragen, bei der es sich um den Verteidigungswall der Klanstadt handelte. Trotz Zars Zuversicht wurde Asavi unruhig. Die hohe Mauer aus Stacheldraht und einigen befestigten Stahlbetonabschnitten, die an der Außenseite mit Teer übergossen worden waren, versprachen zwar Sicherheit, doch riefen Asavi die Worte ihres Vaters in Erinnerung. Sie nehmen dich aus, wie ein abgestochenes Schwein oder hängen dich in ihre Fallen.

Der Teer stank fürchterlich, aber hielt die Engel davon ab über die Wände zu klettern. Ihre Flugunfähigkeit bedeutete nicht, dass sie ihre übrigen Stärken eingebüßt hatten, und die Kraft, die ihren schweren Körpern innewohnte, glich samt ihren akrobatischen Fähigkeiten der eines Olympia-Athleten.

»Die Stadt hier gehört Joska«, erklärte ihr Zar und drehte den Kopf in ihre Richtung, ohne von der Straße aufzublicken. »Er ist noch misstrauischer als die US-Amerikanische Passkontrolle. Und dieses Misstrauen färbt auf all seine Häscher ab. Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber Joska greift härter durch, als andere Städte, in denen ich Kopfgeld gesammelt habe. Sprich am besten nicht mit dem Führungskader, also allen offensichtlich bewaffneten Kerlen.«

Asavi schluckte, als sie das offene Tor passierten und zwischen den bewaffneten Menschen hindurch fuhren, die sie misstrauisch musterten, doch fürs Erste schweigend einließen.

»Solange du in seiner Gunst stehst, haben wir sicherlich nichts zu befürchten«, stellte Asavi mit fragendem Unterton fest.

Zar hob die Schulter. »Er will meine Dienste jedenfalls nicht missen. Erwähne bloß nicht die Varai.«

»Das klingt weniger viel versprechend, als gestern«, murmelte Asavi und sank in ihren Sitz.

»Nur keine Panik, die vermiest mir sonst den ganzen Spaß.« Er schenkte ihr ein kokettes Grinsen und Asavi hob eine Augenbraue. Asavi kam der leise Verdacht, dass sie an einen waschechten Adrenalinjunkie geraten war.

Hinter dem Stacheldraht standen die Traubeneichen, Ginsterbüsche und Bibernell-Rosen ebenso in ihrem ewigen Kleid aus sommergrünen Blättern gefangen und Zar lenkte den Truck unter den tanzenden Sonnenflecken hindurch die breite Straße an heruntergekommenen Hütten und zusammengefallenen Gebäuden vorbei auf einen kleinen Platz. Überall in den ausgebrannten Häuserleichen tummelten sich Menschen, kehrten den Staub zurück auf die Straße, verspachtelten rissige Wände und wichen fußballspielenden Kindern aus.

Machte man sich in den Klan-Städten nützlich, genoss man den Schutz des Führungskaders, wie Zar die Gesetzgeber dieses Klans nannte. Asavi verstand den Reiz der Gemeinschaft, aber sie musste nun einmal in den Westen gehen. Von irgendwoher drang laute, traditionelle Musik durch die schmalen Gassen und das Schnattern einiger Hausgänse gliederte sich in die Geräuschkulisse ein. Es war unangenehm laut, vor allem, weil Asavi die durchdringende Stille der Ebene gewohnt war. Außer Zikaden und Heuschrecken hörte sie oft tagelang nichts.

Mit einem Seufzen versuchte sie ein wenig zu entspannen und blickte wieder zu Zar hinüber, der den Wagen schließlich vor einer Kirche hielt, deren Fensterläden offen standen oder komplett fehlten. Das Gebäude war überdurchschnittlich stark ausgebaut, die Fenster im Glockenturm glichen Schießscharten und die gedrungene Form des Anbaus erinnerte mehr an ein Fort, als ein Gotteshaus. Asavi kannte diese Wehrkirchen, sie hatte im Geschichtsunterricht gelernt, dass die Ungarn damals viele ihrer Sakralbauten gegen die Türken verstärkt hatten, um so den Vormarsch aufzuhalten. Gleichzeitig bildeten die befestigten Kirchen einen Zufluchtsort für Bürgerliche, sodass sich Asavi fragte, ob das der Grund war, weshalb manche Städte besser geeignet waren, den Engeln zu trotzen.

Auf den durchgetretenen Stiegen der kleinen Reihenhäuser, welche den Kirchenplatz einschlossen, saßen in Kampfmontur gekleidete Soldaten mit Maschinengewehren im Schoß, spielten Karten, Würfel oder brachten den abgemagerten Hunden unter Gelächter Tricks bei.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie und sofort war Zars Grinsen zurück.

»Immer gerne. Ich hole mir nur mein Kopfgeld und dann zeige ich dir, was du die letzten Jahre verpasst hast.«

Asavi rollte mit den Augen. »Wie viel kann das sein, wenn sich seit dem Niederfall rein gar nichts mehr verändert hat? Und Calais-Spitze muss ich echt nicht sehen.«

Zar hielt inne, seine Tür zu öffnen, und ließ sich langsam zurück in seinen Sitz sinken. Er bedachte Asavi mit einem starren Blick, der sie zum Weitersprechen aufforderte.

»Naja«, führte Asavi aus und machte eine Handbewegung zu den Bäumen hin. »Ich wünschte mir wenigstens, der Sommer ginge endlich mal vorüber. Es ist seit sechs Jahren durchgehend einfach furchtbar heiß. Und warum ich keine Calais-Spitze sehen muss, ist dir hoffentlich auch so klar.«

»Was?«, fragte Zar mit einer eisigen Ruhe in seiner Stimme und Asavi hob eine Augenbraue, als sie nach ihrer Tür griff und sie aufdrückte.

»Geht es dir denn nicht auf die Nerven?«

»Wiederhol das.«

Asavi runzelte irritiert die Brauen und wollte ihr Bein aus dem Auto schieben, doch Zar beugte sich blitzschnell über sie und zog die Türe auf ihrer Seite mit einer bestimmenden Geste zu.

»Ob dich das nervt?«, wiederholte sie zögerlich, als Zar sie praktisch in den Autositz drückte. »Was soll denn-«

»Das davor«, unterbrach er sie mit der gleichen, eisigen Ruhe.

»Dass ich wünschte, der Sommer ginge endlich mal vorüber? Oder dass ich keine Spitzenunterwäsche sehen muss?«

Zar spähte aus dem Autofenster und stemmte sich mit einem unschönen Fluch von ihr herunter. »Ach, fuck.«

»Fuck?«, fragte Asavi mit dem plötzlichen Gefühl, irgendetwas fundamentales zu übersehen, und warf zuerst einen Blick aus dem Fenster, dann zu Zar.

Zar aber fuhr sich nur durch die Haare und dachte kurz nach, ehe er endgültig ausstieg. Der harte Zug um seine Augen breitete sich über sein gesamtes Gesicht aus und nicht einmal die Stupsnase wirkte dem entgegen. »Bleib im Wagen«, wies er sie scharf an und schmetterte die Tür zu.

»Hey, warte!«, rief Asavi und drehte sich zu ihrer Tür um, als die Türriegel allesamt nach unten schnappten und sie einsperrten. »Hey

Asavi rüttelte am Türgriff, erreichte damit aber nichts. Sie warf sich sogar mit der Schulter dagegen, nur um dann fluchend zurück in ihren Sitz zu sinken. Zar war in dem Gebäude direkt vor dem Wagen verschwunden und als sie sich umblickte, erkannte sie einige der Soldaten, die sich nach ihr umdrehten. Sie fühlte sich wie ein gottverdammter Hund, den man für einen raschen Einkauf ins Auto gesperrt hatte.

Sie fluchte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Was fiel ihm ein? Unruhig griff sie in ihre Tasche und legte ihre Finger um den Revolver. Das ungute Gefühl in ihrer Magengegend schwoll zu einem soliden Klumpen Eis an und brachte ihr Herz zum Stottern.

Was hatte sie falsch gemacht? Was hatte sie diesem Irren auch vertraut! Ihr Papa hatte ihr hunderte, wenn nicht tausende Male eingeschärft sich auf nichts und niemanden zu verlassen, bevor man ihm die Brust zerlöchert hatte. Bloß weil er diesen planlosen Kerlen den Weg zeigen wollte. Und jetzt verscherbelte Zar sie samt des abgetrennten Engelkopfes an den meist Bietenden.

»Scheiße«, fluchte Asavi und spürte, wie sie langsam aber doch eine Panikattacke bekam. So schnell konnte es aus und vorbei sein. Sie rüttelte weitere vier Mal am Türgriff und mit einem Mal war das Innere des Trucks unglaublich stickig.

»Nicht ausflippen«, stieß sie zwischen zusammen gepressten Kiefern hervor und hieb mit der Faust auf das Handschuhfach, sodass es aufsprang. Sie wühlte mit zitternden Fingern durch den Inhalt. Leere Munitionsschachteln, eine Sonnenbrille und tatsächlich ein Paar fingerlose Handschuhe. Eine Brieftasche und ein Umschlag.

Asavi öffnete die Brieftasche und suchte in den ledernen Fächern nach irgendwelchen Hinweisen, die ihr Aufschluss geben konnten, mit wem sie sich eingelassen hatte. Kein Ausweis, keine alten Kreditkarten, die ohnehin nutzlos geworden waren, kein einziger, persönlicher Gegenstand. Sie fragte sich, was zur Hölle ihr die Identität dieses Typen nutzte, wenn er sie gleich anschließend hinterm Haus auf die Knie zwang und in den Kopf schoss. Oder Schlimmeres mit ihr anstellte.

Sie warf die Brieftasche zurück und griff nach dem Umschlag. Er war schwer und Asavi vermutete weitere Munition, wurde jedoch eines Besseren belehrt.

»Was zum Kuckuck?« Asavi holte den metallenen Gegenstand hervor, der sich als alte Computer-Festplatte entpuppte und drehte sie in ihren Händen einmal um sich selbst. Das Gehäuse war leicht zerkratzt und auf der matten Oberfläche klebte ein weißes Etikett. Universität Birkenkirchen.

Sie warf einen weiteren Blick in den Umschlag und fischte zwei dünne Bücher hervor. Stirnrunzelnd las sie die Titel und schüttelte verwirrt den Kopf. Was machten Gedichtbände von Rilke in deutscher Sprache in Zars Besitz?

Sie steckte sie zurück und verstaute den Umschlag mit einer fahrigen Geste wieder im Handschuhfach.

Dann suchte sie unter ihrem und Zars Sitz, fand ein Sturmgewehr, drehte sich um und spähte auf die Ladefläche des Chevy, auf der immer noch die dubiose Plastikplane lag. Sie war knapp davor die Scheibe einzuschlagen, als sie Bewegungen im Kircheneingang erkannte und Zar erschien. Zwei bis an die Zähne bewaffnete Kerle flankierten ihn. Ihre kugelsicheren Westen waren mit Munitionstaschen für die schweren Maschinengewehre ausstaffiert, die sie einsatzbereit in Armen hielten.

Sie schluckte und ließ sich langsam zurück in den Sitz sinken. Zar führte die fremden Männer zur Ladefläche und deckte die Plane ab. Sie hörte ihre Stimmen als leises Gemurmel durch die Fensterscheiben. Die beiden Soldaten verluden den Kopf des Engels und wechselten einige Worte. Dann erkannte Asavi, wie die Soldaten wieder von dem Truck zurücktraten und Zar eine Reisetasche in die Hände drückten.

Kein freundlicher Schulterklopfer, kein Handschlag, nichts, das darauf hindeutete, dass sie Zar dankbar waren für seinen Dienst. Doch vermutlich reichte Zar das Geld, oder welche Art von Tausch es auch war, den sie ausgehandelt hatten.

Asavi folgte Zar mit ihrem Blick, als dieser zügig und mit Schritten, die eine gefährliche Eile signalisierten, zum Wagen zurückging. Er entsperrte das Auto, stieg ein und schlug die Türe zu. In derselben Bewegung steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor anspringen.

»Würdest du mir erklären, was hier vor sich geht?«, brachte Asavi mit scharfer Stimme hervor und war versucht, aus dem Auto zu springen, als Zar rücksichtslos aufs Gas trat und sie zurück in den Sitz gepresst wurde.

»Das selbe«, knurrte er und lenkte an der Gruppe an Schaulustigen vorbei, die sich um die beiden bewaffneten Männer scharten, »könnte ich dich fragen.«

Asavis Herz hämmerte ihr bis in den Hals und sie drehte sich nach der Gruppe Soldaten um, die ihnen düster hinterher starrten. Just in diesem Moment traf sich ihr Blick mit dem desjenigen, der sein Maschinengewehr so locker im Arm hielt, als würde er das Gewicht der Waffe nicht einmal bemerken. Seine wilden, schwarzen Locken bedeckten seine Stirn und hingen ihm zerzaust in den gebräunten Nacken. Er legte den Kopf schief und blitzartiges Erkennen schoss durch seine goldbraunen Augen, als er Asavis Blick begegnete.

Doch ehe er den Mund zu einem Schrei öffnete, bretterte Zar bereits die staubige Straße hinunter. Sie schossen in halsbrecherischem Tempo durch das bewachte Tor und Zar nahm auch danach seinen Fuß nicht vom Gas.

Asavi klammerte sich an den Sitz und tastete panisch nach dem Sicherheitsgurt. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer wovon du sprichst! Fahr langsamer!«

Zar wandte ihr den Kopf verärgert zu. »Du brauchst dich nicht dumm stellen.«

»Schau auf die Straße!«, kreischte Asavi.

»Du hast gesagt, du weißt nicht, wer die Varai sind«, warf er ihr über den Lärm des Motors hinweg vor.

»Das stimmt auch! Halt an!«

Aber Zar dachte nicht daran. Asavi fluchte und fühlte sich bereits wie eine Tote, zog ihren Revolver und richtete ihn auf Zar. »Halt sofort den Wagen an, oder ich töte uns beide.«

Zar schoss ihr einen Seitenblick zu und zuckte dann tatsächlich beim Anblick der Waffe, die auf seinen Kopf gerichtet war, zusammen.

»Shit«, fluchte er und für einen Moment geriet der Wagen gefährlich ins Schlingern. Er warf einen abwechselnd hektischen Blick in den Rückspiegel, zu Asavi, dann wieder auf die Straße, und nahm endlich den Fuß vom Gas.

»Lass mich aussteigen«, forderte Asavi mit einer so ruhigen Stimme, dass ihr selbst ein Schauer über den Rücken rann. Ob sie nun starb, weil er seine Meinung gegenüber ihrer Bekanntschaft geändert hatte, oder ob sie sich samt Wagen überschlugen, war ohnehin schon egal.

»Das kann ich nicht machen«, wandte Zar ein und streckte seine Finger beschwichtigend am Lenkrad aus.

»Und warum nicht? Wenn der Sommer deine Lieblingsjahreszeit ist, dann sorry, dass ich sie beleidigt habe, aber wegen so was banalem wie dem Wetter lasse ich mich nicht einfach umbringen.«

»Umbringen?«, stieß Zar hervor und lugte erneut in den Rückspiegel. Er hatte den Wagen zwar von seinen hundertachtzig auf hundertdreißig Kilometer pro Stunde gedrosselt, fuhr aber für Asavis Geschmack immer noch viel zu schnell. »Ich will dich nicht umbringen

»Sondern?«

Zar schluckte. »Du bist wirklich von der dunklen Seite des Mondes.«

»Beleidigungen retten dir nicht dein Leben«, fauchte Asavi und blickte ebenfalls in den Rückspiegel. Sie verzog die Brauen, als sie hinter der Staubwolke, die Zars Wagen verursachte eine zweite, größere Wolke am Horizont aufwirbeln sah.

»Du erinnerst dich an den Sommer. Und an die Jahreszeiten«, erklärte Zar nervös.

»Und?« Im gleißenden Sonnenlicht blitzten die Motorhauben zweier schwarzer SUVs auf und Asavi beschlich ein mulmiges Gefühl bei deren Anblick.

»Asavi. Niemand außer den Varai erinnert sich an eine Zeit davor«, sagte Zar bemüht ruhig.

»Ich verstehe nicht.« Die SUVs holten langsam aber doch auf.

»Weißt du, was die Klanstädte für ein Problem mit den Varai haben? Was Joska für ein Problem mit denen hat?«

»Lass mich raten – Ressourcen?«

Zar schnaubte und blickte wieder durch den Rückspiegel. »Menschen wie dich. Die Varai an sich

»Wie mich?« Asavi schluckte und ließ ihre Waffe langsam sinken.

»Ja, Leute wie dich. Diejenigen, die sich an eine Zeit davor erinnern. Diejenigen, die noch in der Ersten Wahrheit leben.«

»Was? Was meinst du?«

Zar seufzte frustriert. »Stell dir unsere jetzige Welt wie einen riesigen Organismus vor. Die Klans sind ihr natürliches Immunsystem und die Varai die Viren. Und jetzt rechne dir aus, was das für diejenigen bedeutet, die das Immunsystem zu den Viren zählt.«

Asavi stand der Mund sprachlos offen. Sie verstand rudimentär, was Zar ihr erklärte, doch begriff es nicht vollständig.

»Diese hübschen SUVs, die uns am Arsch kleben sind die Immunpolizei und du der Fremdkörper.«

»Das macht es nicht unbedingt klarer«, schnappte Asavi, doch klarer musste Zar auch nicht werden. Aus irgendeinem Grund wollte man sie töten.

»Darf ich jetzt wieder aufs Gaspedal treten?«, fragte Zar mit übertrieben höflicher Stimme.

»Fahr einfach«, schrie Asavi.

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