METROPOLA - Band 1 - Der Jahr...

By The_Crowstorm

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Auf dem Wüstenplaneten Carth erbauen die Reste der Menschheit die Millionenstadt Metropola. Knapp vierhundert... More

METROPOLA - Band 1 - Der Jahrhundertsturm
Prolog: Schatten im Untergrund
Kapitel 1: Waffengeschäfte
Kapitel 2: Sektoren
Kapitel 3: Panic at the Disco
Kapitel 4: Vanilleschnaps
Kapitel 5: Prinzipien
Kapitel 6: Die Tischtennisplatte
Kapitel 7: Der Soldat
Kapitel 9: Dave
Kapitel 10: Die Hackerin
Kapitel 11: Um dir zu helfen
Kapitel 12: Ende des Theaters
Kapitel 13: Die Einbrecherin
Kapitel 14: Gute-Nacht-Geschichten
Kapitel 15: Der Sensenmann
Kapitel 16: Elaine
Kapitel 17: Undercover
Kapitel 18: Sicherheitsrat
Kapitel 19: Monster
Kapitel 20: Gesetze
Kapitel 21: Der Deal
Kapitel 22: Kalpa
Kapitel 23: Carths Wut
Kapitel 24: Der Coup
Kapitel 25: Wäschetrockner
Kapitel 26: Die schlimmste Droge
Kapitel 27: Impulse
Kapitel 28: Haftstrafe
Kapitel 29: Sektkorken
Kapitel 30: Bruderliebe
Kapitel 31: Krisen
Epilog: Rock Lobster
Schlussworte & Danksagungen

Kapitel 8: Unsere Familie

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By The_Crowstorm

Es war spät geworden, wieder einmal. Doch die Ruhe war nötig gewesen, um einen klaren Kopf zu bekommen. In dunklen Kneipen und düsteren Absteigen fühlte er sich paradoxerweise sicher und frei. Der Abstand zu seiner Familie war wichtig, um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. So war es auch an diesem Abend gewesen. Curtis kam wie immer betrunken nach Hause. Elaine schläft bestimmt schon. Manchmal wartete sie im Wohnzimmer, auf der Couch sitzend, während Curtis versuchte, sich ungesehen ins Haus zu schleichen. Überraschenderweise wirkte sie von Mal zu Mal weniger wütend, als verliere sie allmählich das Interesse, was ihr Ehemann des Nachts so trieb. Es war ein Glück für Curtis' Gesicht, das bereits mehrmals ihre heftigen Ohrfeigen zu spüren bekommen hatte, wenn Elaine auf ihn lauerte, nur um ihm ihre Wut zu zeigen. Doch lieber würde er sich ein Dutzend Mal von ihr ohrfeigen lassen, als dass sie ihm die kalte Schulter zeigte, so wie heute, wo niemand auf ihn wartete.

In den letzten Wochen und Monaten war Elaine ein festes Mitglied der Davut-Familie geworden. Etwa zur selben Zeit hatte sie sich immer weiter von Curtis entfernt. Wo einst Liebe war, herrschte nun nur noch ein gemeinsamer Haushalt ohne Emotionen, und das Einzige, was ihre brüchige Ehe zusammenhielt, waren ihre gemeinsamen Kinder. Er sollte mit ihr sprechen, das hätte er bereits vor längerer Zeit tun müssen, das wusste er. Zu wichtig war ihm allerdings die Stille und vermeintliche Harmonie im eigenen Zuhause, auch wenn sie nur noch künstlich am Leben gehalten wurde.

Dass Curtis seine Sorgen mit niemandem teilen konnte, machte ihm zu schaffen. Curtis war eigentlich kein Mensch, der Dinge unausgesprochen ließ, auch besonders dann nicht, wenn sie Menschen betrafen, die ihm nahe standen. Die Nähe zu Elaine, mental wie körperlich, fehlte ihm Tag für Tag mehr. Curtis' Anker waren seine beiden Sprösslinge, die dreizehnjährige Vivien und der achtjährige Tom, der von allen nur Tommy genannt wurde. Nur spärlich erinnerte sich Curtis daran, wie es war, ohne Elaine und seine Kinder zu sein. Als er so alt war wie seine Tochter am heutigen Tage, hatte Curtis bereits einiges auf dem Kerbholz. In jenem Jahr hatte er seine erste Waffe bekommen. Ungefähr ein Jahr darauf musste er sie zum ersten Mal einsetzen. Und wieder rund ein Jahr später trug er sie täglich bei sich. Amir Jet, das große Oberhaupt der Familie und dem kriminellen Unternehmen der Davut-Familie, kümmerte sich um die Mitglieder der beiden Familien. Dabei machte er kaum Unterschiede zwischen seiner leiblichen Familie und der Familie, die er sich selbst gesucht und aufgebaut hatte.

Voller Wehmut betrachtete er den Treppenaufgang, der hinauf in den ersten Stock führte und somit auch ins Schlafzimmer. Curtis zog die Klamotten aus und warf sie über den kleinen Hocker neben der Couch. Nicht einmal das Licht wollte er einschalten, um weder Elaine noch Vivien oder Tommy zu wecken. Er überlegte mehrmals, die Treppen nach oben zu steigen, sich zu seiner Frau zu legen und sie wieder einmal um Verzeihung bitten. Von Erfolg wäre dieser Plan nicht gekrönt, stank er doch nach Whiskey-Cola und Zigarettenqualm. Also ließ er sich auf die Couch nieder, legte die Füße hoch und nickte innerhalb kürzester Zeit ein.

Tageslicht fiel ihm wie ein wärmender Weckruf ins Gesicht. Mit schmerzenden Gliedern setzte sich Curtis auf, der sich am liebsten wieder hingelegt hätte. Mir ist so schwindelig. Sein Magen rebellierte, und das Durstgefühl brachte ihn beinahe um den Verstand. Wasser, ich brauche Wasser. Zitternd kam er auf die Beine, nur um anschließend zur Küche zu wanken. Das eiskalte Leitungswasser war eine wahre Wohltat, als es seine trockene Kehle erfrischte. Er fror, wahrscheinlich nicht zuletzt wegen des Wassers, weshalb er zurück ins Wohnzimmer tapste, wo er sich dieselben Klamotten überstreifte, die er gestern noch getragen hatte. Curtis musste den Brechreiz unterdrücken, als ihm die prozenthaltige Duftnote in die Nase stieg. Nur solange, bis ich ins Schlafzimmer kann, um mir neue Sachen zu holen. Eine Dusche ist auch bitter nötig, dachte er sich und durchwanderte das Wohnzimmer, während er sich das befleckte Hemd überstreifte. Ich muss warten, bis Elaine aufgestanden ist. Ich will ihr nicht gerade so unter die Augen treten ... nicht schon wieder.

Gerade betrachtete Curtis das große Familienportrait über dem unbenutzten Kaminofen, als sich seine Tochter versuchte an ihm vorbeizuschleichen. Aus dem Augenwinkel hatte er sie dabei erwischt, wie sie ihre Schuhe vom Boden aufhob und Richtung Tür schlich. „Wohin geht die Reise?", rief er ihr hinterher, während er mit dem Finger über den Rahmen des Portraits wischte und wie erwartet kein Körnchen Staub vorfand.

Zunächst blieb eine Antwort aus. Als Curtis schließlich um die Ecke lugte, sah er seine grübelnde Tochter mit ihren weißen Schuhen in der Hand vor der Eingangstür stehen. „Ich treffe mich nur mit Candra", meinte Vivien und warf ihm einen geradezu verächtlichen Blick zu.

Derselbe wütende Gesichtsausdruck wie ihre Mutter. Als sie geboren wurde, war sie überdurchschnittlich groß gewesen. Als die Hebamme meinte, er habe eine kerngesunde Tochter, war dies einer der wenigen Augenblicke, in denen Curtis die Tränen gekommen waren. Von jenem Moment an, habe ich die Welt mit anderen Augen gesehen.

Dreizehn Jahre später war Vivien zu einer hübschen jungen Teenagerin herangewachsen. Sie hatte rehbraune Augen und leichte Sommersprossen im Gesicht, genau wie ihre Mutter. Ebenso von ihrer Mutter vererbt bekommen hatte sie die dunkelbraunen Haare, die ihr in leicht gelockten Strähnen über die Schultern fielen. Wie üblich trug sie eine Bluse, heute eine ihrer besonders bunten. Eine moderne hellblaue Jeans durfte bei ihrem Outfit natürlich nicht fehlen, für Curtis' Geschmack etwas eng und viel zu körperbetont.

Er bemerkte gar nicht, dass er sie für einen Moment anstarrte, als hätte er ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. „Papa?", hauchte Vivien mit verwirrter Miene und machte einen Schritt von ihm weg.

„Mit wem triffst du dich nochmal?" Er wusste genau, dass sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte und sie wusste, dass er es wusste. Oder mein Verstand spielt wieder Spiele mit mir. Noch immer klingelten ihm die Ohren von gestern Nacht.

„Willst du wieder damit anfangen?" Wütend verzog sie das Gesicht. „Ich darf mich treffen, mit wem ich will!"

„Rechtfertigt das, dass du mich belügst?"

„Setz mir doch einen Mikrochip ein. Oder noch besser, lass ne' Drohne über mir kreisen."

„Vivien", sagte Curtis in ermahnendem Ton, gefolgt von einem Seufzer. „Du darfst dich selbstverständlich mit deinen Freunden treffen. Aber nicht außerhalb des Viertels."

„Hatte ich nicht vor."

„Und was verheimlichst du mir dann?"

„Du musst ganz bestimmt nicht alles wissen!", rief sie mit zorniger Stimme und schleuderte ihre Schuhe zu Boden.

Curtis war überrascht. „Was ist mit dir los?"

Tränen traten in ihre Augen. „Dein dämlicher Kumpel hat meinem Freund fast den Arm gebrochen!"

„Shawn?" Shawn war bereits vor seinem Eintritt in die Davut-Familie ein Freund der Familie und besonders von Curtis gewesen. Da Shawn selbst drei Kinder in die Welt gesetzt hatte und sie allesamt wohlerzogen waren, ließ er seine Tochter hin und wieder von ihm bewachen. Zu groß war die Sorge, Vivien in dieser Stadt allein und ohne Schutz zu lassen, wo Drogen und Kriminelle lauerten. Von einem Lebensweg wie dem Seinen wollte er sie fernhalten, und das um jeden Preis. „Was genau hat Shawn getan?"

Vivien begann zu schluchzen. „Es war so ein schöner Moment. Gabriel ist ... er war mein Freund. Wir haben uns auf der Tischtennisplatte geküsst. Keine zwei Sekunden später kommt dieser hässliche Lockenkopf von woher auch immer und stürzt sich auf Gabriel. Er hat ihm den Arm verdreht und sein Gesicht auf den Steinboden gedrückt. Ich wäre am liebsten gestorben vor Scham."

„Warte mal einen Moment. Wann ist das passiert?"

„Gestern Mittag. Und jetzt möchte Gabriel nichts mehr mit mir zu tun haben. Und ich kann es ihm nicht einmal verübeln!"

„Warum hast du mich nicht angerufen?" Und warum hat mich Shawn nicht kontaktiert?

„Habe ich! Und du bist nicht rangegangen. Wahrscheinlich ist dein beschissenes Handy wieder mal kaputt."

Curtis griff in seine linke Hosentasche und zog sein Handy hervor. Es war ausgeschaltet. „Ich muss vergessen haben, es wieder einzuschalten. Es tut mir leid, mein Schatz. Nur, bist du dir sicher, dass das alles war, was passiert ist? Shawn würde niemals ohne Grund ..."

„Da! Du glaubst mir ja nicht einmal!" Wutentbrannt stampfte sie an ihm vorbei und kickte einen der Schuhe dabei durch den Flur.

Sanft hielt er sie an den Schultern fest. „Ich glaube dir doch", versuchte er sie zu besänftigen und beugte sich zu ihr runter. „Hör mal, es ist nicht so leicht für einen Vater, seine Tochter zu beschützen. Bitte versteh das."

„Ich kann auf mich selbst aufpassen. Und wenn du das nicht verstehst, brauchst du mich überhaupt nie mehr anquatschen!" Mit ungeahnter Kraft riss sie sich von ihm los und raste die Treppen nach oben. Curtis zuckte zusammen, als sie ihre Zimmertür mit voller Wucht zuknallte. Schüsse, Explosionen ... all diese Dinge ließen Curtis mittlerweile fast kalt. Doch wenn Vivien ihre Wut zur Schau stellte, erschreckte er sich nicht nur, sondern er fürchtete sich regelrecht, vor allem vor sich selbst. Ich enttäusche so langsam jeden in dieser Familie. Fest umklammerte er sein Handy, um irgendwie irgendwo ein Ventil für seine Wut zu finden. Beinahe hätte er es zerquetscht, wären da nicht die großen Kulleraugen seines kleinen Jungen gewesen, die ihn aus der Küche her anstarrten.

Tommy war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Dunkel waren seine Augen und hell die fahlen Lippen. Er besaß die tiefschwarzen Haare seines Vaters und die bronzefarbene Haut der Familie Jet, wenn auch sein Gesicht etwas bleicher wirkte. Im Gegensatz zu seiner älteren Schwester war Tommy bereits im Mutterleib ein krankes Kind gewesen. Die Vermutung lag schon damals nahe, dass Elaine mit einem bislang unbekannten Virus infiziert war und dieser auf den Fötus übergegangen war. Somit wurde Tommy mit einem geschwächten Herz geboren. Während andere Kinder voller Kraft und Leben steckten, war Tommy bereits nach einigen wenigen Metern des Laufens aus der Puste. Noch vor ein paar Jahren war er regelmäßig im Schlaf hochgeschreckt, da der Blutdruck des Jungen auf ein gefährliches Niveau absank und sein Körper mit einer Art Schocksignal darauf reagierte. Auch sein Appetit hielt sich schon immer zurück. Ein paar Kilos weniger und er wäre nur noch Haut und Knochen. Auch war er kleiner als andere Kinder in seinem Alter. Andere Achtjährige waren um die einhundertdreißig Zentimeter groß. Tommy kam in jenem Alter auf schlappe Einhundertzehn. Nicht selten kam es vor, dass Vivien sich vernachlässigt fühlte, das wusste Curtis. Und es wunderte ihn nicht. Vivien war bereits kurz nach Tommys Geburt zu einem großen Teil selbstständig. Sie packte ihre Schultasche selbst, schmierte sich ihre Brote, räumte ihr Zimmer auf, ohne dass man sie allzu oft ermahnen müsste und kümmerte sich um ihren kleinen Bruder. Curtis verdrückte sich jedes mal eine Träne, wenn er an seine beiden Sprösslinge dachte und wie sehr sie zusammenhielten. Statt die Eifersucht auf Tommy abzuwälzen, wurde Vivien, gerade mit Beginn der Pubertät, ihren Eltern gegenüber immer jähzorniger und rebellischer. Doch egal wie sehr sie auch tobte, ihren Zorn richtete sie nie auf ihren kleinen Bruder. Einen solchen Zusammenhalt zwischen Geschwistern hätte ich mir für mich und Sharif auch gewünscht.

Behutsam, als würde er nach einem rohen Ei greifen, legte Curtis die Hände auf Tommys Schultern. „Hey, mein Schatz", sagte er mit väterlicher Liebe in seiner Stimme und ging vor Tommy in die Hocke. „Was treibst du denn in der Küche?"

„Ich habe Hunger", antwortete der kleine Junge heiser. „Und im Keller rumpelt es wieder so laut. Deswegen konnte ich nicht mehr schlafen." Tommy fürchtete sich schon von jeher vor dem Untergeschoss.

„Der Trockner", erklärte ihm Curtis verständnisvoll. „Es ist nur der Trockner. Soll ich es dir wieder zeigen?"

„Nein!" Der Junge schüttelte vehement den Kopf. „Ich will da nicht runter. Nie wieder."

„Wenn wir mal in Gefahr sind, müssen wir aber in den Keller. Erinnerst du dich an den Panikraum?"

„Nein."

„Doch, das tust du. Und was habe ich damals zu dir und deiner Schwester gesagt?"

Darüber dachte Tommy einen Moment lang nach. „Wenn böse Menschen hier herkommen, sollen wir uns in dem Raum einsperren."

„Genau. Und das geht nur, wenn du keine Angst mehr hast, in den Keller zu gehen. Wollen wir es mal versuchen?"

Tommy schüttelte sich regelrecht. „Ich ... muss vorher etwas essen. Danach vielleicht."

Curtis fuhr ihm mit der Hand über die kurzen pechschwarzen Stoppeln. Es war ein gutes Zeichen, wenn Tommy von Hunger sprach. „Auf was hast du denn Lust?", fragte er seinen Sohn und lächelte.

„Waffeln."

„Waffeln", wiederholte Curtis und nickte. „Dann machen wir jetzt welche. Dazu brauch ich aber deine Hilfe."

„Hast du das Rezept wieder vergessen?"

Mit gespielter Scham rieb sich Curtis den Hinterkopf. „Ich glaube schon."

„Na schön", seufzte der kleine Tommy und öffnete einen der Schränke. Die Küche war blitzblank. Sie bestand aus künstlichem hellgrauen Holz und Griffen aus Edelstahl. Curtis war kein besonders guter Koch. Doch das hielt ihn nicht davon ab, mit seinem Sohn die besten Waffeln Metropolas zu machen.

„Wo ist deine Mutter?", fragte er Tommy, während sie die dampfenden Waffeln mit Puderzucker bestreuten.

„Auf der Zwischendachterrasse mit Aaron." Tommy biss genüsslich in das krosse Stück seiner sternförmigen Waffel.

Curtis verging schlagartig der Appetit. „Aaron ist da? Seit wann?"

Der Junge zuckte mit den Achseln.

Curtis rutschte von seinem Hocker. „Iss ruhig weiter. Ich muss was mit deiner Mutter klären."

„Kommst du nochmal zu mir, bevor ich schlafen muss?"

„Aber es ist doch erst Mittag."

„Du bist Nachts nie Zuhause."

„Ja ... du hast recht. Also gut, ich verspreche es dir", sagte Curtis mit einem Augenzwinkern. Noch während er sich umdrehte, verschwand das freundliche Gemüt des Vaters und wich dem eiskalten Blick des professionellen Gangsters.

Über die Treppe ging es hinauf in die obere Etage des Apartments. Laut polterte die basslastige Musik durch die geschlossene Tür zu Viviens Zimmer. Sie war sauer, keine Frage. Doch im Moment musste er sich um jemand anderen kümmern.

Er fand die beiden dort, wo Tommy sie zuletzt gesehen hatte. Auf der Zwischendachterrasse standen mehrere Liegestühle und ein niedriger Glastisch mit einer Ladestation für das Telefon darauf. Normalerweise konnte man von hier aus einige wenige Sterne am Nachthimmel erkennen, die vom Licht der Stadt überblendet wurden. Dicke Wolken hatten sich über sie geschoben und der frische Wind kündigte den baldigen Sturm an.

Auch Curtis spürte eine Art Sturm in sich, als er die beiden vor sich sitzen sah. Elaines lange dunkelbraunen Haare wehten sanft im Wind. Selbst im hellen Schein des mittägigen Helios, konnte man ihre süßen Sommersprossen sehen, die sich wie ein Sternfirmament über ihr Gesicht zogen. Damals waren sie ihm als erstes aufgefallen. Sie und die langen Beine und das schneeweiße Lächeln. Auch heute, selbst nach zwei Geburten, besaß sie die Figur eines Models. Doch ihr Wesen hatte sich über die Jahre geändert, zum schlechten, woran Curtis mitschuldig war.

„Curtis, mein Freund", sagte Aaron, der neben Elaine saß und das Sektglas auf dem Glastisch abstellte. Seine Haare trieften vor Haargel. Es wirkte fast so, als trage er einen glitschigen toten Igel auf dem Kopf. Ein dunkelbrauner Schatten bedeckte Kinn und Hals des Gangsters. Die schwarze Sonnenbrille trug er wohl wegen dem strahlenden Stern Helios, der hoch am bewölkten Himmel stand und durch einzelne Wolkenlöcher strahlte. Die hellbraune Lederweste schimmerte im Licht und unter ihr, direkt im Hosenbund, steckte eine Knarre, wie sie jeder in der Davut-Familie trug.

„Schon wach?", wollte Elaine von ihrem Ehemann erfahren.

„Es ist bereits Zwölf", brummte Curtis mit Blick auf Aaron.

„Also früher als sonst", meinte Elaine und kicherte dabei Aaron entgegen.

„Wow, wirklich schon Zwölf?", pustete Aaron und schaute auf sein Handydisplay. „Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich nett unterhält."

Curtis hätte ihm am liebsten eine gezimmert. Noch konnte er sich beherrschen. „Welches Thema könnte denn so umfassend sein, dass man stundenlang hier oben sitzt, frage ich mich?"

„Dein Bruder hat mal wieder einen riskanten Deal ausgehandelt", antwortete Elaine und deutete auf das Telefon in ihrer Hand, das sie auf die Ladestation zurücklegte. „Er brauch uns und ebenso dich."

„Ist das so?" Curtis presste die Lippen aufeinander. „Und das kann er mir nicht selbst sagen?"

„Du bist ja nie erreichbar während deiner Ausflüge."

Curtis ignorierte Elaines Antwort und lieferte sich ein Blickduell mit Aaron, der unangefochtenen Nummer Drei in der Familie. Wer gerade so noch auf dem Siegertreppchen steht, möchte zweifelsohne weiter nach oben. Er war jung, jünger als Curtis. Elaine und er hatten sich schon immer prächtig verstanden. Sharif baute ihn bereits seit Jahren zu einem Capo der Familie auf, und des Öfteren betonte er, wie stolz er auf diesen jungen Mann war. Ohne Zweifel erkannte Curtis das Potenzial des jungen Gangsters, und ebenso die Gefahr, die von ihm ausging. Alte Gangster waren klug, weise und gefestigt in ihren Handlungsweisen. Junge, aufstrebende Menschen wie er, brachten eine Menge ungeahnter Veränderungen mit sich. Und Aaron steckte voll davon.

„Dann will ich mal nicht länger gestört haben", meinte Aaron, nahm die Sonnenbrille ab und reichte Elaine die Hand. Curtis musste sich zusammenreißen.

„Du störst zu keinem Zeitpunkt", erwiderte Elaine beinahe flüsternd und lächelte ihm entgegen.

Als Aaron Curtis die Hand reichte, starrte Curtis diese einen Moment lang an, bis er sie schließlich ergriff. „Curtis", verabschiedete sich Aaron von ihm, während sein Vorgesetzter so fest zudrückte, wie es ihm seine Kräfte erlaubten.

„Scher dich hier raus", knurrte Curtis ihm leise zu und zog die Hand zu sich.

Er erwartete eine kühne Antwort seines ungebetenen Gastes, eine ausgefallene Geste oder einen Wutanfall. Doch dieser setzte sich lediglich die Sonnenbrille wieder auf und grinste so verschlagen, dass es Curtis zur Weißglut trieb. „Bis bald", rief Aaron den beiden Jets hinterher, während er die Dachterrasse verließ.

Eine Weile lang starrte Curtis ihm nach, schweigend und brütend. Irgendwann schlenderte Elaine wortlos mit den beiden leeren Sektgläsern an ihm vorbei. Ihr Ehemann stellte sich ihr in den Weg. „Was wollte er hier?", fragte er sie zähneknirschend.

Unverständnis war ihr ins Gesicht geschrieben. Abkaufen konnte er ihr es nicht. „Wir haben über den Deal gesprochen und ein wenig geplaudert."

„Ein wenig geplaudert?"

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig."

„Aber eine Erklärung."

„Auch das nicht. Es gibt nichts zu erklären." Elaine machte eine gelangweilte Grimasse. „Was willst du von mir hören?"

„Die Wahrheit."

„Die hast du bekommen. Ich muss jetzt noch einige Dinge im Haus erledigen."

Gerade wollte sie weitergehen, als Curtis ihren Arm ergriff. „Tu mir das nicht an, Elaine."

Eiskalt war ihr Blick, als sie sagte: „Du tust dir das selbst an. Du driftest immer weiter von deiner Familie davon."

„Scheiß auf die Davut-Familie!", entwich es Curtis in einem plötzlichen Moment des Zorns. „Du hast noch immer keine Ahnung, wie gefährlich dieses Leben ist."

„Nein, Curtis", seufzte Elaine mit gerunzelter Stirn. „Ich meinte unsere Familie. Tommy liegt Nachts wach und kommt irgendwann zu mir ins Bett gekrochen, bis ich ihn, sobald er endlich eingeschlafen ist, in sein Bett zurückbringe. Vivien verbringt mehr Zeit unterwegs als Zuhause." Elaines Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe keine Ahnung, wo sie hingeht oder mit wem sie sich trifft. Und du lässt mich mit dieser Angst komplett allein. Dennoch schaffe ich es irgendwie, beruhigend auf Tommy einzureden, wenn er sich an mich kuschelt und nach seinem Vater fragt." Sie machte einen Schritt auf die Terrassentür zu, als sie plötzlich stehen blieb und sich noch ein letztes Mal umdrehte. „Ich weiß vielleicht nicht so viel über dieses Gangsterleben, aber mittlerweile verhalte ich mich engagierter in der Davut-Familie, als du in unserer Familie." Mit diesen Worten ließ sie Curtis allein zurück.

Eine heftige Böe riss Curtis fast von den Füßen. Einer der Liegestühle drohte vom Dach zu wehen. Curtis reagierte schnell und griff nach ihm, gerade rechtzeitig. Er klappte beide Liegestühle zusammen und legte sie flach auf den Boden, wo sie nicht heruntergeweht werden konnten.

Sich selbst vor dem Sturz zu bewahren, würde um einiges schwieriger werden.

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