Die Legende der Nachtigall 1...

Por CaptainPaperShip

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Eine Prinzessin, die vor eine Entscheidung gestellt wird. Ein kompromissloser Rebell mit einer Mission. Ein t... Más

Widmung
Mavie - Windenbach
Prinzessin Dilara - Die fünf goldenen Türme
Mavie - Der Rabe
Prinzessin Dilara - Die Prophezeiung
Mavie - Der Ruf des Waldes
Prinzessin Dilara - Der Rebell
Mavie - Etwas Seltsames geschieht
Prinzessin Dilara - Nagende Fragen
Mavie - Die Reiter der Königin
Prinzessin Dilara - Der Ball
Mavie - Das Zischeln der Flammen
Prinzessin Dilara - Eine schwierige Flucht
Dilara - Die Spiralstraßen
Mavie - Die Augen des Waldes
Dilara - Die Krieger der Gassen
Dilara - Die Brücke
Mavie - Die mit dem Wolf kämpft
Dilara - Die Dächer der Stadt
Mavie - Ein Freund ist der Mensch, mit dem man das Abendrot teilt
Dilara - Verfaulte Eier
Mavie - Aufbruch ins Abenteuer
Dilara - Die Fabrik
Charaktäre Teil 1

Mavie - Der Junge in der Höhle

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Por CaptainPaperShip

Diesmalkonnte sie sich ihre Hand nicht schnell genug vor den Mund halten. Sie schrieauf. Und dann rannte sie, so schnell, wie sie noch nie gerannt war.

Dicht hinter sich konnte Mavie ein leises Gebelle hören. Esmussten mindestens ein Dutzend sein. Sie glitten durch die Nacht, geschmeidigwie der Wind. Mavie stolperte, während sie rannte, Äste schlugen ihr insGesicht, sie prallte gegen Baumstämme.

Ihr Herz raste. Es machte nicht viel aus, dass sie nichtssehen konnte. Vor Panik wäre sie so und so wie blind gewesen. Die Wölfe dagegenverließen sich auf ihre Nasen und Ohren und fanden sich in der Finsterniszurecht, als seien sie ein Teil von ihr. Sie verfolgten Mavie von allen Seiten,bis sie links und rechts dicht neben ihr waren. Dicht neben ihrem Bein hörtesie eine Schnauze nach ihr schnappen. Genau in dem Moment, als sie dachte, nunsei es um sie geschehen, stolperte sie. Aber diesmal landete sie nicht in einerweichen Mulde. Sie flog durch die Luft und landete auf harter Erde. Harter,rutschiger Erde. Mit dem Kopf voran rutschte sie einen Hang hinunter. Und bevorihre Hände nach Halt suchen konnten, landete sie zum zweiten Mal auf feuchtem,erdigen Boden. Dem dumpfen Klang nach zu urteilen mitten in einer Höhle. Mavieblieb angespannt liegen und lauschte. Sie musste einige Astlängen weit nachunten gerutscht sein. Denn das Scharren von Wolfspfoten und das leise Bellendrang gedämpft an ihr Ohr. Es entfernte sich und kam wieder näher.

Sie suchten nach ihr.

Einige Minuten lang hörte die Wölfe oben scharren undbellten und winselten. Es ging und ging nicht weg. Würden sie nie aufgeben?

„Wie lange werden die noch da oben rumlungern, Krächz?",murmelte sie, kaum lauter als das Wispern des Windes, und strich dem Raben miteinem Finger über den Rücken. Sein kleiner warmer Körper fühlte sich tröstlichan, so ganz allein in dieser kalten, finsteren Höhle. Krächz krächzte leise zurAntwort. Er schien es auch nicht so genau zu wissen.

Der Eingang der Höhle musste ziemlich eng sein. Oder aufeine Art verschlungen, dass die Wölfe nicht direkt riechen konnten, wohin genausie verschwunden war. Sonst hätten sie sie längst gefunden. Mavie wagtejedenfalls nicht, sich zu bewegen. Sie durfte jetzt nur ja kein Geräusch vonsich geben. Auf einmal kam ihr ein furchtbarer Gedanke. Vielleicht waren sie jaschon längst hier? Vielleicht schlichen sie sich bereits den Eingang herunter,unsichtbar in der Finsternis?

Doch niemand überfiel sie aus dem Nichts heraus. Und mit derZeit wurde das Winseln und Scharen und Tapsen von Draußen immer leiser undleiser, bis es völlig verstummte.

Eine ganze Weile lang blieb Mavie noch liegen und lauschte,bis sie sich traute, aufzuatmen. Erst dann begann sie, sich über ihrunglaubliches Glück zu wundern. Sie war wahrscheinlich in den einzigen Ort imganzen Wald hineingerutscht, der sie hatte retten können! Wie wahrscheinlichwar es, mitten in der Nacht diese Höhle zu finden? Was war das überhaupt füreine Höhle? Sie setzte sich auf, immer noch darauf bedacht, kein Geräusch zumachen, und sah sich um. Was nicht besonders viel brachte, da es jastockfinster war. Plötzlich kam sie sich ziemlich dumm vor, dass sie sich überdie Höhle gefreut hatte. Eine Höhle, lang genug, dass sie darin ausgestrecktauf dem Bogen liegen konnte, mitten im Waldboden... und auch noch gut genugversteckt, dass die Wölfe nicht einfach so hereinfinden konnten. Ihr Herz, dasssich gerade ein wenig beruhigt hatte, begann, wieder lauter zu schlagen. Nervöstastete sie nach der Decke. Doch egal, wie weit sie die Finger ausstreckte, siekonnte sie nicht erreichen. Was war das hier? Wie groß musste das Wesen sein,das hier lebte? Mavie dachte an die Legenden über den Kolim oder dieRiesenfledermäuse... Wahrscheinlich war sie den Wölfen entkommen, um direkt vordie Schnauze eines viel größeren, schrecklicheren Wesens zu stolpern. Unruhigstarrte sie in die Finsternis. Vielleicht waren die Bewohner des Bausausgeflogen. Oder auf der Jagd. Oder – erleichtert atmete sie auf –wahrscheinlich waren sie bereits tot. Wenn jemand hier wäre, hätte er Maviedoch gehört. Und er hätte sie bestimmt nicht einfach so in sein Zuhause platzenlassen.

Sollte sie hier warten, bis am nächsten Morgen vielleichtein Ungeheuer von seinem Beutezug zurückkam – und sie hilflos in seiner Höhlevorfand? Oder sollte sie versuchen, hinauszuklettern, nach oben in den Wald, wodie Wölfe lungerten und vielleicht noch warteten, dass sie zurückkehrte?

Nein, sie musste hier bleiben. Es behagte Mavie ganz und garnicht und sie hätte in diesem Moment mit jedem Menschen in ganz Endiargetauscht (selbst einem, der im Kerker der Königin schlafen musste). Hierdarauf zu warten, dass der Bewohner der Höhle den seltsamen Eindringlingentdeckte, war das letzte, was sie tun wollte. Aber wenn sie versuchte, imDunkeln hier hinauszuklettern, würde sie viel zu viel Lärm machen. Falls hierdoch jemand schlief, würde sie sowohl ihn als auch die Wölfe auf sichaufmerksam machen.

Also legte sie sich, so eng zusammengekauert wie irgendwiemöglich, auf den Boden. Krächz setzte sich, ohne ein Geräusch zu machen, inihre Armbeuge hinein. Mavie berührte mit ihren Fingern die Federn ihres letztenGefährten. Und sie trösteten sie ein wenig, bis sie irgendwann einschlief.Eigentlich ist er doch ein ziemlich kluges Tier, dachte sie noch.

Mavie war so erschöpft, dass sie trotz ihrer Angst in einentiefen Schlaf gefallen war. Als sie wieder erwachte, drangen bereits die erstenStrahlen des Morgens in die Höhle hinein. Sie blinzelte in das dämmrige Lichthinein. Dass es wirklich eine Höhle war, konnte sie jetzt erkennen. Sie lagdirekt unter dem schmalen, steilen Eingang, einige Astlängen über ihrem Kopf.Ein enges Loch führte nach draußen in den Wald hinaus. Wurzeln wuchsen in eshinein und über das Loch hinweg, sodass es von außen tatsächlich kaum zu sehensein musste.

Mavies erster Gedanke war: Ich lebe noch. Und ihr zweiter:Sind die Wölfe noch da? Sie lauschte. Draußen zwitscherten friedlich ein paarVögel. Leise rauschte er Wind hoch oben durch die Bäume. Ansonsten war esvollkommen still.

Bei ihrem dritten Gedanken rappelte sie sich auf und sahsich um. Der Rest der Höhle war immer noch zu finster, um etwas – oder jemanden– zu erkennen. Aber es sah nicht so aus, als gäbe es einen zweiten Eingang. Werimmer hier lebt, so groß kann er nicht sein, wenn er durch dieses Loch passenmuss, dachte sie. Vielleicht... sie wagte es kaum zu hoffen. Aber wenn niemandhierher zurückkehrte... dann war sie vielleicht tatsächlich noch einmal davongekommen. Und dann hatte sie vielleicht sogar einen Unterschlupf. Einen, dersie tatsächlich schützen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass esirgendwo im Wald ein besseres Versteck gab als dieses hier. Wenn sie nur nichtimmer noch so furchtbar Durst...

Auf einmal hörte Mavie aus dem hinteren Teil der Höhle einleises Geräusch. Eine Art... Stöhnen. Sie zuckte zusammen. Erschrocken tastetesie nach ihrem Messer. Mist. Es musste irgendwo unten im Beutel sein.

Noch ein leises Geräusch drang aus der Dunkelheit zu ihr.Was war das? Angespannt lauschte sie. Aufeinmal raschelte etwas. Sie konntesehen, wie sich in der Finsternis etwas bewegte. Mavie drückte sich gegen dieWand der Höhle. Ihr Herz raste. Was sollte sie tun? Ihr Messer zücken und lautschreien? Oder versuchen, hinauszuklettern, bevor es bemerkte, dass sie hierwar?

Selbst wenn sie gewusst hätte, was klüger war, sie hätte esnicht tun können. Vor Angst gelähmt stand sie da und starrte. Das Wesen bewegtesich durch die Höhle. Dann hielt es auf einmal innen. Mavie spürte, dass es sieanblickte. Es änderte seine Richtung, direkt auf sie zu. Mavie konnte nichtanders. Sie tat das Dümmste, was sie in diesem Moment tun konnte. Sie schlossdie Augen und schrie.

„He! Psst! Sei leise!"

Mavie riss die Augen wieder auf, als sich eine warme Handauf ihren Mund legte. Es war die Hand eines Jungen, kaum größer als sie. Siestarrte ihn an.

Ein Junge war so ziemlich das Letzte, was sie erwartethatte. Im schwachen Licht konnte sie nicht viel von ihm sehen. Aber sie sah,dass er lange Haare hatte und sie eingehend betrachtete.

Nach ein paar Sekunden nahm er seine Hand wieder aus ihremGesicht und machte einen Schritt zurück.

Er setzte sich auf den Boden und grinste. Langsam, ohne ihnaus den Augen zu lassen, setzte sich Mavie ebenfalls hin. Und dann starrten sieeinander eine Weile lang an. Als könnten sie beide nicht fassen, hier, mittenim Wald, einen Menschen zu finden.

Mavie war es schließlich, die das Schweigen brach.

„Lebt... hier sonst noch wer?", flüsterte sie zögernd.

Der fremde Junge schüttelte den Kopf und grinste nochbreiter. „Das ist meine Höhle."

Erleichtert ließ Mavie die Schultern sinken. Sie rieb sichüber die Stirn und schüttelte den Kopf. Das alles war einfach zu unglaublichfür sie. Sie fragte sich, ob sie wieder von einem Traumfalter gestochen wordenwar. Oder war sie bereits tot?

„Was machst du hier?", fragte sie.

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ich lebe hier."

„Wie kommst du hierher?"

„Ich bin durch den Wald gezogen und hab nen sicheren Ort zumSchlafen gesucht. Da hab ich diese riesige Wurzel da oben entdeckt. Unter ihrwar die perfekte Mulde, weich und voller Gras und gut versteckt... Man konntedort so gut schlafen, dass ich mir dachte, warum bleibe ich nicht hier. Unddann habe ich angefangen zu graben, damit ich ein paar Vorräte verstauen kann. Is'im Winter nicht toll, wenn dir die Flughörnchen dauernd deine Nüsse klaun. Unddann hab ich das Loch immer tiefer und tiefer gegraben, weil ich immer mehr undmehr Essen entdeckt hab – und weil die Flughörnchen mir auf die Schlichegekommen sind..."

Jetzt, wo er einmal zu reden begonnen hatte, sprudelten dieWorte nur so aus dem Jungen heraus. Als hätte er das schon seit Jahren jemandemerzählen wollen, und das sei seine erste Gelegenheit. Mit Staunen lauschteMavie seiner Geschichte. Und mit jedem Wort, das er sagte, wuchs ihr winzigesBisschen neuer Hoffnung. Dieser Junge musste schon seit Jahren im Wald leben.Das bewies, dass es möglich war. Und vielleicht konnte er ihr zeigen, wie.

Als er schließlich geendet hatte, fragte er: „Und wie bistdu hierher gekommen?"

Mavie zögerte. Sollte sie ihm ihre Geschichte erzählen? VonArx und den Windenbachern und dem Raben, wegen dem sie sie weggejagt hatten?

Sie beschloss, diesen Teil lieber wegzulassen. Er war ihreeinzige Hoffnung, zu überleben. Sie wollte nicht, dass auch noch er sie vertrieb, damit sie ihm kein Unglück brachte. Außerdem, fiel ihr auf, dass auch er noch nicht erzählt hatte, weshalb er eigentlich im Wald lebte. „Vielleichtist er ja einer der verschwundenen Jäger und es gibt sie doch noch", dachteMavie. Aber die wären jetzt schon über hundert Jahre alt.

„Als ich gestern eingeschlafen bin, haben mich die Wölfegefunden und durch den Wald gejagt", erzählte sie. „Sie hätten mich fasterwischt, da bin ich über die Wurzel gestolpert und muss hier irgendwiereingefallen sein. Jedenfalls bin ich plötzlich durch das Lochheruntergerutscht, bis ich hier am Boden lag. Ich wusste nicht, dass hierjemand wohnt", fügte sie entschuldigend hinzu.

„Reingefallen?" Der Junge zog staunend die Augenbrauen hoch.„Aber das ist unmöglich, da sind überall Wurzeln... Und die Wölfe haben dichgejagt?"

Er blickte zum Eingang hinauf und starrte in das Licht.Beunruhigt folgte Mavie seinem Blick. „Meinst du, sie sind noch da oben?",flüsterte sie.

„Die Wölfe geben nie eine Jagd auf, die sie einmal begonnenhaben. Niemals", gab der Junge zurück, ohne den Eingang aus den Augen zulassen.

„Das heißt... sie werden für immer Jagd auf mich machen?"Entsetzt starrte Mavie ihn an.

„Entweder, du versuchst davonzulaufen und sie nehmen deineFährte auf, um dir zu folgen, bis sie dich kriegen. Ich hab mal beobachtet, wiedas Rudel wochenlang eine riesige Bärin verfolgt hat und sie dann zur Streckegebracht hat."

Mavie fragte sich, wie er das beobachtet haben wollte, ohneselbst angegriffen zu werden.

„Oder?", fragte sie und drückte die Daumen, dass es dazuirgendeine Alternative gab.

„Oder du kämpfst gegen sie."

Mavies Hoffnung verschwand so schnell, wie sie gewachsenwar. Sie war verloren.

„Die einzige Chance, die wir haben, ist eigentlich, denAlphawolf herauszufordern."

„Den Alphawolf herausfordern?"

„Wer ihn in einem Kampf besiegt, ist der neue Chef desRudels. Das ist Wolfsgesetz."

„Aber... wie soll ich das machen? Ich kann mit keinem Wolfkämpfen." Ihre Stimme klang ziemlich verzweifelt. Aber das war ihr egal.

Die Wölfe hatten ganze Dörfer überfallen und vernichtet.Niemand hatte sich gegen sie wehren können. Niemand hatte den Kampf mit ihnenaufgenommen. Sie waren doppelt so groß und zehnmal so schnell wie sie. Wiesollte sie gegen so ein Tier kämpfen? Das war verrückt!

Der Junge zuckte mit den Schultern. Er grinste immer nochbreit.

„Besser, als wenn wir mit nem ganzen Rudel kämpfen müssten,oder nicht?"

 „Wir?", fragte Mavieüberrascht. „Du willst mir dabei helfen?

„Natürlich helfe ich dir!" Der Junge sah sie an, als sei sieverrückt. „Ich kann hier schließlich auch nicht mehr raus sonst!"

Mavie schluckte. Ihretwegen waren sie nun beide hiereingesperrt. Wahrscheinlich hasste dieser Junge sie dafür, dass sie in seineHöhle gestolpert war.

„Tut mir leid. Mit deiner Höhle und den Wölfen."

Doch der Junge grinste nur breit und streckte ihr seine Handhin. „Ich bin Luan Höhlensohn. Wie heißt du?"

Mavie lächelte schüchtern. „Mavie Silverschnavel."

Luan betrachtete sie noch einen Moment lang verlegen. Mansah ihm an, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.

Er schien nicht besonders oft mit jemandem zu reden. Wielang es wohl her ist, dass er den letzten Menschen getroffen hat?, fragte sichMavie. Was machte er hier im Wald?

Doch dann fiel sein Blick auf den Raben. Mavie zucktezusammen. Bestimmt würde er jetzt Angst bekommen und sie fortjagen wie die Windenbacher. Mit einem Mal wurde ihr deutlich, dass sie eine Gebranntmarkte war. Egal, wohin sie ging.

Luan sah den Raben direkt an und stieß ein Krächzen aus. Es klang erstaunlich echt. Der Rabe legte den Kopf schief, betrachtete den Jungen,und dann antwortete er mit exakt demselben Laut. Mavie staunte, als Luan seinenArm ausstreckte und der Rabe aufflatterte, um darauf zu landen. Luan setzte ihnauf seine Schulter. Der Vogel rieb seinen Kopf an seiner Wange. Dann flatterteer zurück zum Handgelenk des Jungen und pickte in seiner Hand herum. Luanverschwand kurz im hinteren Teil der Höhle. Mavie konnte nicht sehen, was ertat. Aber als er zurückkehrte, war seine Hand voller Körner und Krächz picktesie einzeln heraus, um sie in die Luft zu werfen, den Schnabel aufzureißen undsie herunterzuschlucken.

Mavie sah den beiden neugierig zu. Dabei knurrte ihr Magenpeinlich laut.

Luan wandte sich ihr zu. „Wie heißt der Rabe? Muss ein echtkluges Tier sein!"

Mavie zuckte die Schultern. „Ich nenne ihn Krächz."

„Hallo, Krächz!"

Luan grinste den Raben ebenso breit an wie sie vorhin undstrich ihm über den Rücken. Aber Krächz pickte unbeirrt weiter, bis das letzteKorn verschwunden war. Dann flatterte er prompt auf Mavies Schulter zurück. Mitzusammengekniffenen Lippen sah Mavie ihn an. Für einen Moment hatte siegehofft, er würde einfach bei dem Jungen bleiben und sie sei wieder frei.

„Hast du Hunger? Oder Durst? Wie viele Tage bist du schon imWald?"

„Das ist der zweite." Mavie war froh, dass er sie nicht nachihrer Geshcichte fragte. Ihre krächzende Stimme (sie war noch heißerer alsKrächz' Krächzen) und ihr knurrender Magen beantworteten Luans andere Fragen. Erverschwand wieder in der Dunkelheit. Und zu Mavies großer Freude kam er diesmalmit einer seltsamen Schüssel voller Wasser und einem flachen Etwas, das ein verdächtignach Brot aussah, wieder.

Außerdem trug er einen seltsam geformten Pilz mit sich.

„Das ist ein Feuerpilz", erklärte er, als er Mavies Blickbemerkte. „Is ziemlich nützlich, wächst aber nur weit weg von hier, anbesonders dunklen Stellen im Wald. Und die Wildschweine fressen ihn gern, dieseDummköpfe, deshalb gibt's ihn selbst da nur noch selten. Ist echt eineSchande."

Der Pilz war etwa so lang wie sein Arm und bestand auszahlreichen trichterförmigen Türmchen, die auseinander herauswuchsen. Kurzdarauf sah Mavie, weshalb der Junge ihn Feuerpilz nannte. Als er ihn in dasLicht hielt, entflammte er sich sofort. Er zog ihn sofort zurück in dieFinsternis und setzte einen Haufen Brennholz in Brand. Dann pustete er kräftigauf den Pilz, bis er staubend und rauchend wieder aufhörte zu brennen. Aber deroberste Trichter war verschwunden.

Das Feuer breitete sich im Brennholz rasend schnell aus. DieFlammen wuchsen und wuchsen und streckten ihre beißenden, zuckenden Zungen nachMavie aus... Sie ballte die Hände zu Fäusten und gab sich alle Mühe, ruhig zubleiben. Als sie es schaffte, den Blick von den Flammen zu lösen, konnte siezum ersten Mal die ganze Höhle sehen. Und sie staunte nicht schlecht. Dieser Höhlenjungemusste wirklich lange an ihr gearbeitet haben. Sie war größer als ihre Hüttezuhause – Mavie schluckte bei dem Gedanken – und eine ganze Menge Dinge standendarin herum. Keine Dinge wie Krüge, Körbe und Messer oder andere Dinge, die esim Wald nicht gab. Aber viele Dinge, die Krügen und Messern und Körben ähnelten. Zum Beispiel war da einrostiger Helm, der verkehrt herum auf dem Boden stand. Er war voller Wasser.Oder ein kleiner Gegenstand, der wirkte, wie ein Splitter eines silbernenSchwertes, den jemand mit Baumharz an ein Stück Holz geklebt hatte. Oder eingeflochtenes Gestrüpp aus altem Schilfgras, in dem Äpfel, Nüsse, Pilze undseltsame Früchte lagerten. Bei ihrem Anblick floss Mavie der Speichel in denMund. Den letzten Apfel hatte sie gesehen, da war sie erst fünf Jahre altgewesen. Und er war so klein und verschrumpelt gewesen, dass sie die prallen,roten Früchte aus dem Geflecht beinahe nicht erkannt hätte.

Außerdem lagen da eine Menge alter, seltsamer Gegenständeherum, von denen Mavie nicht wusste, wozu sie gut sein sollten. Der Jungemusste sie irgendwo gefunden haben. Zum Beispiel lagen dort ein paar rostigeNägel in der Ecke. Oder ein zerrissener Ledersattel.

Schon der erste Bissen schmeckte in Mavies Mund wie einFestmahl. Und obwohl sie das Stück Brot hinunterschlang wie ein hungrigesLöwenkind, genoss sie jede Sekunde, in der es sich in ihrem Mund befand. Esschmeckten nach Harz, Nüssen, Früchten, nach Nadeln und nach Wald und vielenanderen Geschmäckern, die Mavie nicht kannte.

„Was ist das?", fragte sie mit vollem Mund, als sie esgeschafft hatte, alles in sich hinein zu stopfen. Arx hätte ihr jetzt einenmissbilligen Blick zugeworfen. Aber Luan grinste nur. Er riss sich mit ebenso dreckigenFingern Stücke von dem Brot ab und stopfte es sich ebenso ungeniert in sichrein – allerdings wesentlich weniger gierig als sie. Mavie beschloss, dassTischmanieren überflüssig waren, wenn man im Wald lebte, und kippte sich diehalbe Wasserschale hinterher. Dabei rann mindestens die Hälfte des Wassers überihr Kinn auf den Boden hinab. Am liebsten hätte sie auch noch das Wasser vomBoden aufgeschlürft. Aber der Junge stand auf, um Nachschub zu holen, bevor sieernsthaft darüber nachdenken konnte.

„Waldbrot", antwortete er, als er die nächste flacheSchüssel aus Baumrinde neben Mavie abstellte. Sie fragte sich, wie er esgeschafft hatte, die Rinde durch den Höhleneingang zu transportieren, ohne dasWasser auszuschütten. Sie betrachtete das Wasser kurz, bevor sie es durstig ineinem Zug austrank. Es war weder pechschwarz wie das Wasser im Windenbach, nochtrüb wie das Wasser aus dem Brunnen. Es hatte eine leicht rötliche Farbe, fast,als käme es direkt aus der Erde. Und es schmeckte ganz anders als alles, wassie je getrunken hatte. Überhaupt nicht bitter oder giftig und es wurde einemkein bisschen übel davon. Es schmeckte rein und klar. Und leicht süßlich, wennman es lange im Mund behielt.

So sollte Wasser eigentlich schmecken, dachte Maviebegeistert. Sie war immer noch so durstig, dass sie ein ganzes Fass davon hättetrinken können.

Luan musste noch einige Brote und Wasserschalen opfern, bisihr Hunger und Durst endlich halbwegs gestillt hatte.

„Wo hast du das Wasser her?", fragte sie und pflückte dieKrümel von ihrem Mund, um sie auch noch aufzuessen. „Und aus was ist das Brotgemacht."

„An der Höhlenwand sammelt sich nachts Wasser. Aber ich habenoch andere Quellen. Ich kann sie dir zeigen, wenn wir das mit den Wölfenerledigt haben."

Er sprach von dem Kampf, als sei es nichts als eine Aufgabe,die man mal eben so erledigen konnte. Mavie dagegen hatte ein ungutes Gefühlbei der Sache. Ein sehr ungutes Gefühl. Doch im Moment war sie zu satt undzufrieden, um sich Sorgen zu machen und ihr Magen zu voll, um die Angst zufühlen.

„Wie genau sollen wir das eigentlich anstellen?", fragtesie.

Der Junge stand auf, um etwas aus seinem geheimnisvollenFundus herauszukramen. Er hielt den kleinen Gegenstand in den Schein desFeuers. Mavie konnte sich nicht erklären, wozu er gut sein sollte. Und schon garnicht, wie dieses kleine Ding ihnen gegen die Wölfe helfen sollte. Es wareigentlich nur eine Astgabelung mit einer Schnur, die um die beiden oberenAstansätze gebunden war. In der Mitte der Schnur war ein Stück Leder befestigt.Es sah nicht so aus, als würde es dort noch besonders lange halten.

„Eine Steinschleuder", erklärte der Junge, als würde dasschon alles sagen.

„Und... was bringt uns die?"

„Man schleudert damit Steine damit. Gegen wilde Tiere gibtes keine bessere Waffe."

Luan kramte einen kleinen Stein aus seiner Tasche. Er legteden Stein in das Lederstück, hielt die Schleuder neben sein Gesicht, blicktenach oben Richtung Höhleneingang, spannte die Schleuder, zielte und schoss. DerStein flog durch die Wurzeln hindurch aus der Höhle heraus. Mavie konnte einleises Geräusch hören, als er irgendwo einschlug. Von oben war ein Jaulen zuhören.

„Siehst du?" Luans Grinsen war sehr zufrieden.

Mavie war ein zugegebenermaßen ziemlich beeindruckt. Aberweshalb diese Schleuder besser gegen wilde Tiere sein sollte als ihre Armbrust,das verstand sie trotzdem nicht so ganz. Sie holte ihre Waffe und das Messeraus dem Beutel heraus und hob die Armbrust hoch. „Was ist damit?", fragte sie.

Luan nahm die Waffe an sich, um sie eingehend zu betrachten.

„Was ist das für ein Ding?", fragte er neugierig.

„Eine Armbrust", erwiderte Mavie stolz.

„Wie funktioniert sie?"

Mavie nahm einen der Pfeile aus dem Hohlraum und legte ihnin den kleinen Spalt im Griff. Unz hatte es einmal geschafft, einen Pfeil aufeinen Baum zu schießen. Besonders weit war er allerdings nicht geflogen. Sieversuchte, die Sehne anzuspannen. Es kostete deutlich mehr Anstrengung, als siegedacht hatte. Egal, wie viel Kraft sie aufbrachte, sie schaffte es nicht, siebis zum hinteren Ende des Pfeils zu ziehen. Schließlich gab sie auf. Luanbeobachtete ihre Versuche kommentarlos. Er deutete auf den seltsamen hölzernenGriff, der in der Mitte des Bogens die obere Spitze der Armbrust bildete.„Wofür ist eigentlich dieses Teil da oben?"

Mavie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, damit man dieArmbrust besser festhalten kann."

„Im Kampf wär dieses Ding jedenfalls zu schwer", stellte erfest. „Und wenn sich der Wolf auf dich draufstürzt, kannst du ihn damit nichttreffen."

Da sie die Waffe nicht einmal bedienen konnte, musste Mavieeinsehen, dass sie sie nicht gebrauchen würde können. Sie legte sie enttäuschtzur Seite.

„Komm, ich zeig dir, wie man die Steinschleuder benutzt.Dann nehm ich das Messer da. Das ist sicherer."

Luan führte ihr noch einmal genau vor, wie man die Schnuranspannte und mit dem Stein auf einen bestimmten Fleck zielte. Er war sogeschickt darin, dass sein Stein den Fleck kein einziges Mal verfehlte. Erzeigte ihr, wie man seinen linken Daumen so auf die Astgabel legte, dass seineSpitze exakt den Punkt markierte, den man treffen wollte. Und wie man seinerechte Hand (die das Leder mit dem Stein hielt), an seine Wange legte, damitman die Schnur genau im richtigen Winkel zur Schleuder hielt. Und wie man sichdrei bestimmte Punkte auswählte, um auf weitere Distanz zu zielen.

Dann ließ er Mavie fast zwei Stunden lang zielen üben,während er das Messer durch die Luft warf und wieder auffing.

„Wenn du die Wölfe besiegen willst, zielst du am besten aufden Adamsapfel", sagte er, als er meinte, sie hätte nun lang genug geübt.

„Was ist ein Adamsapfel?", fragte Mavie.

Luan streckte sein Kinn in die Höhe und deutete auf einenPunkt auf seinem Hals. „Spürst du die runde Kugel auf deinem Hals?"

„Die, die ein wenig hervorsteht?", fragte Mavie.

„Genau die. Das ist der Adamsapfel. Adam war der ersteMensch, der je gelebt hat. Er hat einen Apfel gegessen, den er eigentlich nichtessen durfte. Man sagt, er sei ihm im Hals stecken geblieben. Deshalb ist dermännliche Adamsapfel seitdem viel größer als der bei Mädchen. Die Windi-Wölfehaben größere Adamsäpfel als jedes andere Tier, das ich kenne. Und sie sindziemlich verletzlich, sogar noch mehr als ihre Augen und die Schnauze. Wenneiner von uns den Adamsapfel trifft, haben wir schon fast gewonnen. Dazu brauchenwir aber besonders spitze Steine..."

Mavie verzog das Gesicht. „Bist du dir sicher, dass nichtdoch lieber du die Steinschleuder nehmen willst?"

„Wir wissen nicht sicher, ob der Alphawolf den Kampf gegenuns beide überhaupt annimmt. Du bist die, auf die sie Jagd machen. Es istbesser, wenn du vorbereitet bist."

„Und... wenn er den Kampf nicht annimmt... was mache ichdann?"

Die Angst hielt ihr Herz so fest umklammert, dass es sich anfühlte, als würde sie es zerquetschen wollen.

„Dann musst du vor allem schnell sein. Im ganzen Wald gibtes keine Tiere, die so schnell sind wie die Wölfe. Jedenfalls keine, die ichkenne."

„Gestern abend haben sie mich nicht rechtzeitig eingeholt."

„Da haben sie noch mit dir gespielt. Sie wolltenherausfinden, wer du bist und wo du hingehörst. Der Wald reagiert immer sehrneugierig auf Neulinge. Sie haben schon lange keinen Menschen mehr geschnuppertin ihrer Nase."

„Was ist mit dir?"

Luan grinste nun so breit, dass sie zwei seiner Zahnlückensehen konnte. Außerdem fiel ihr im Flackern der Flammen zum ersten Mal dielange Narbe auf, die sich mitten durch sein Gesicht zog. Und seine ungewöhnlichwilden, verfilzten Haare und dass er keinen Umhang trug, sondern lediglich einezerschlissene Hose aus Leder.

„Ich", antwortete er grinsend, „rieche schon lange nichtmehr wie ein Mensch."

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