4

184 9 39
                                    

,,Guten Morgen!"

Noch immer sichtlich erschöpft von der vergangenen Nacht, bahne ich mir meinen Weg zwischen den hochgeklappten Tischen und Sitzflächen hindurch. Der Zeichensaal ist schon ordentlich gefüllt und ich erblicke einige mir bekannte Gesichter. Wir sind als Gruppe beinahe seit drei Semestern in dieser Konstellation zusammengewürfelt und trotzdem sind mir nicht alle Namen geläufig. Zu manchen Personen hält man wohl ganz intuitiv einen gewissen Abstand. Ich werfe meinen Rucksack unter meinen Platz und bereite dann, als mein heißer Pappbecher seinen Platz auf der Tischplatte gefunden hat, meine restlichen Utensilien aus. Der Block nimmt zwar beinahe den ganzen Tisch ein, aber da zwischen uns immer noch freie Plätze sind, kann ich den Nachbartisch ohne schlechtes Gewissen mit meinen Stiften und Farben überhäufen. Kaum habe ich einen Schluck von der kochenden Flüssigkeit zu mir genommen und mich darüber gewundert, dass der Kaffeeautomat in der Eingangshalle zunehmend heißere Ergebnisse in die dünnen Becher abgibt, wird die Tür schon zugeschlagen. Ein Blick auf die große Wanduhr an der Kopfseite des Raumes bestätigt meine Vermutung. Der Professor ist pünktlich und das war er noch nie im ganzen letzten Jahr. Um seinen kahlen Kopf hat er einen großen roten wallenden Schal geschlungen und beinahe verheddern sich seine Arme darin, als er sich mit großen Gesten die Jacke von den Armen schüttelt. Der Mann in den 50igern macht schon immer einen etwas zerstreuten und chaotischen Eindruck, aber fachlich kann ihm wohl kaum jemand das Wasser reichen. Als er dann in Hemd vor uns steht, bittet er einen Antonin zu sich nach vorne. Der Genannte erhebt sich aus der ersten Reihe und stolziert mit geradem Rücken nach vorne. Er hat ein breites Kreuz, das den hellblauen Stoff des dünnen Pullovers spannen lässt. Seine Haare sind auffallend vulominös, mehr kann ich nicht erkennen, zumal er vor dem Professor stehen bleibt und auf ihn herunterblickt. Antonin überragt den Mann um gute 20 Zentimeter, doch davon lässt sich dieser nicht beirren. Er tritt einen Schritt zur Seite und deutet mit großen Gesten auf den Unbekannten.

,,Meine lieben Schüler, viele von Ihnen haben sich in der Vergangenheit die Studie eines lebendigen Körpers gewünscht. Unsere nächste Reihe wird sich allerdings mit der Arbeit am Objekt beschäftigen, weshalb ich keine Fotografien dulde und hier ist meine Lösung für das Problem. Ich möchte Ihnen meinen Neffen Antonin vorstellen. Er wird in den kommenden Stunden Ihr Modell darstellen. Ich bitte Sie darum, sich besonders auf seine Ausstrahlung, die Proportionen und die Körperhaltung zu konzentrieren. Sie müssen auch keine Angst davor haben, ihn mal aus der Nähe zu betrachten. Gibt es Fragen? Nein? Gut, dann ist alles gesagt. Bei Fragen stehe ich natürlich wie immer zu Ihrer Verfügung."

Als sich der von hinten betrachtet wirklich attraktive Mann zu uns umdreht, rutscht mir mein Herz in die Hose. Ausgerechnet er?! Der Professor könnte jeden möglichen Mann in diesem Alter als Neffen haben, aber Antonin muss ausgerechnet der eine Mann mit der zerkratzten Angeberkarre sein? Viele der interessierten oder gar hingerissenen Betrachter, überschlagen sich beinahe, als sie aufspringen, um möglichst schnell zu dem optisch attraktiven Mann zu gelangen. Wenn sie wüssten, wie er sein kann, dann wäre die Mehrzahl von ihnen sicherlich weniger euphorisch. Die Hoffnungslosen würden dann behaupten, dass er sich für sie ändern würde, was theoretisch möglich wäre, aber bis sie ihn nach ihren Vorstellungen geformt hätten, hätte ich an ihrer Stelle längst Reiß aus genommen. Ich betrachte aus sicherer Entfernung, wie beinahe der ganze Kurs den Mann umringt wie aufgescheuchte Hühner.

,,Ey, pass doch auf!"

Eine Hüfte ist mit meinem Tisch kollidiert, zwar unabsichtlich, aber doch provoziert durch unser Modell, denn die Übeltäterin war zu sehr damit beschäftigt, von seinen ach so tollen Lippen zu schwärmen und von den Venen auf den Unterarmen und erst Recht seine Augen, die ja funkeln wie die Sterne, die er für sie vom Himmel holen könnte, blabla. Durch die Schwärmerei hat sie nicht aufgepasst und meinen Tisch schwungvoll mitgenommen. Hoffentlich bildet sich ein großer blauer Fleck, der sie lange daran erinnert, dass Aussehen auch nicht alles gutmachen kann. Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, mich ihm nie mehr zu nähern, aber leider Gottes steigt meine ganze Umgebung mit in diese kindische Vergötterung ein und ich kann dieses Gerede nicht ertragen. Die sind regelrecht wie Geier. Sobald sie ein mögliches Opfer ausgemacht haben, stürzen sie sich alle auf ihn, bis er einer eine Chance gibt, dann lassen sie jeden fallen, um drüber zu lachen.

,,Na, genießt du die gierigen Blicke? Hilft das deinem Ego?"

Auf seinen vollen Lippen bildet sich ein selbstgefälliges Grinsen, als ich mich ihm nähere. Offenbar hat er mich schon vorher erkannt, oder er wusste von Beginn an, dass wir uns hier treffen werden. Hat er mich vielleicht deshalb gestern gehen lassen? Er setzt gerade an, um mir zu antworten, doch ich komme ihm entschieden zuvor.

,,Wenn du nicht nett zu mir bist, drücke ich dir mein Geodreieck ins Gesicht."

,,Das würde an Körperverletzung grenzen. Willst du echt unbedingt eine Anzeige?"

,,Quatsch, das wäre nur Grundlage für meine Zeichnung, ich kann nichts dafür, dass du noch lebendig bist. Ich vermaße meine Objekte."

Er sagt daraufhin nichts mehr und ich mache mir mit wenigen Linien eine Skizze der Proportionen seiner Augen und Nase. Aus der Nähe betrachtet, ist sein linkes Auge ein kleines bisschen höher als sein rechtes Auge. Meine Finger prickeln wegen seinem intensiven Blick. Jedes Mal, wenn ich meinen von dem Papier anhebe, treffen sich unsere Augen und sein Grinsen wächst weiter.

,,Hast du in der restlichen Nacht wieder gebrochen?"

,,Wie kommst du darauf?"

,,Naja, du siehst...  ziemlich erschöpft aus."

,,Es interessiert dich doch gar nicht, wie es mir geht. Du willst bloß Geld von mir für einen Schaden, den ich nicht verursacht habe. Das grenzt an Erpressung, also tu gefälligst nicht so, als würde dir mein Befinden am Herzen liegen."

,,Es ist mir nicht egal, ob du wieder gebrochen hast."

,,Ach Nein? Wieso? Hast du etwa doch Angst, dass es von dir sein könnte?"

Ich trete immer näher an ihn heran, keiner meiner Kommilitonen darf unserer Konversation weiter heimlich zuhören. Meine kommenden Worte sind nur an ihn gerichtet. Ich nehme meinen Bleistift zur Hand und fahre damit von seinem Ohr ausgehend, über die Wangenknochen, zu seinen Lippen.

,,Da musst du weiter von träumen."

Ich tippe auf seine Lippe, dann entferne ich mich wieder. Er starrt mich kurz wie hypnotisiert an, dann schüttelt er sich. Ich mache mich zufrieden auf den Weg zurück und mit jedem Schritt, der mich und den Mann mit diesen stechenden blauen Augen, den vollen Lippen, der gerade Nase und ordentlich frisierten dunkelblonden Haaren trennt, fühle ich mich befreiter.
Antonin verabschiedet sich kurz danach zu einer Raucherpause, die innerhalb der nächsten Stunden kein Ende findet.

vorurteilhaftМесто, где живут истории. Откройте их для себя