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,,Das macht dann 12,58 Euro."

Die alte Dame tut das, was so viele Kunden neuerdings tun, sobald der Betrag nicht ganz gerade ist und sie irgendeinen wahrscheinlich göttlichen Wink bekommen, wie sie mir am besten auf die Nerven gehen können. Sie öffnet mit zittrigen Fingern das Kleingeldfach ihres Portemonnaies und wühlt lange darin herum. Sie legt einzelne Münzen auf die Plastikwanne und nimmt sie teilweise wieder an sich, oder tauscht sie aus. Da ich am wohlverdienten Ende meiner Schicht angekommen bin, liegen meine Nerven eigentlich mehr als blank, doch aus Erfahrung weiß ich, dass ein gut einstudiertes freundliches Gesicht bei dieser Generation eher zu einem schnellen Ergebnis führt, weil es sie in ihrem Handeln bestätigt und sie sich nicht dazu genötigt fühlen, sich zu rechtfertigen. Also unterlasse ich das genervte Augenrollen, auch wenn es mehr als verdient wäre. Sie ist ohne Zweifel meine letzte Kundin, da kommt es auf die 3 Minuten auch nicht mehr an. Sie schiebt mir die Wanne entgegen und ich nehme die Münzen an mich.

,,Das sind 15,70 Euro, das macht 3,12 Euro Wechselgeld. Einen schönen Abend Ihnen noch!"

Die Dame lächelt mich an und nimmt noch die Tüte Milch an sich, die sie nicht in ihrer Rolltasche untergekriegt hatte. Seufzend erhebe ich mich von dem Stuhl, der an und für sich wirklich bequem ist, doch nach 6 Stunden dauersitzen tun mir trotzdem jedes Mal außnahmslos alle Knochen weh.

,,Bis bald, Leute!"

Meine Kollegen erwiedern meine Verabschiedung fröhlich und wünschen mir einen guten Heimweg. Ich strecke mich ausgiebig, nehme meine leere Thermoskanne an mich, die mal randvoll mit Kamillentee war, und will gerade die Kasse verlassen, als jemand wie ganz selbstverständlich eine Flasche Alkohl, Chips und Weintrauben auf das Band donnert.

,,Entschuldigung, die Kasse ist geschlossen! Sie müssen zu Kasse 3 gehen."

,,Aber du bist doch noch hier und so lange dauern die paar Teile jetzt auch wieder nicht."

Ich kenne die Argumente der gestressten Kunden, die einfach die Schlange vermeiden wollen und generell nie genügend Zeit für irgendwas haben, aber davon lasse ich mich ganz sicher nicht beeindrucken. Es ist nicht meine Schuld, dass an einem Freitagabend um 21 Uhr nur noch zwei der sechs Kassen besetzt sind. Allerdings sind auch kaum Kunden hier.

,,Nein, gleiches Recht für alle."

,,Wenn du das eben machst, vergesse ich vielleicht die Anzeige wegen meinem Auto, Lora Gioria."

Mein Blut gefriert mir in den Adern. Woher kennt der Mistkerl denn meinen Namen?  Erschrocken fahre ich zu ihm herum.

,,Aber ich war das doch gar nicht!"

,,Kassier meine Sachen und lass mich dich nach Hause fahren, dann überlege ich mir, ob ich dir deine Geschichte glauben kann."

Ich drücke meinen Kiefer fest zusammen und lasse mich widerwillig wieder auf diesen Teufelsstuhl fallen. Schnell sind seine Sachen über den Skanner gezogen, dann reicht er mir auch noch allen Ernstes einen 50iger Schein.

,,Hast du es nicht kleiner?"

,,Nein, gerade nicht, Darling."

Ich verkneife mir einen bissigen Kommentar und suche mehr als genervt das Wechselgeld zusammen, das beinahe nicht mal in meine Hand gepasst hätte. Ich haue es ihm beinahe mit brachialer Gewalt in die offene Hand, dann stehe ich ohne einen weiteren Kommentar auf und nehme die Kassenschublade an mich und alles, was ich noch brauche. Ich würdige dem Mann nur einen kurzen Blick und erblicke große klare blaue Augen, einen leichten Bartansatz am Kinn, volle Lippen, eine gerade Nase und ordentlich frisierte dunkelblonde Haare. Der Schnösel trägt heute sogar einen dunklen Anzug und ein gemustertes Hemd unter einem hochwertigen Mantel. Verächtlich schnaubend lasse ich ihn stehen und begebe mich zum Mitarbeiterbereich. Innerlich koche ich vor Wut und muss mich stark zusammenreißen, sonst hätte ich die Tür sicherlich gegen die Wand schlagen lassen, womit ich sicherlich nicht die Erste gewesen wäre, immerhin klafft auf Höhe der Türklinke bereits ein Loch in der Wand dahinter, trotzdem würde es nicht gut bei meinem Chef ankommen und ich brauche diesen Job wirklich. Verzweifelt stelle ich Thermoskanne und Schublade auf der niedrigen Holzbank ab und fahre mir durch die Haare, die teilweise ganz verknotet sind, doch das hält mich nicht auf. Vereinzelte dunkle Strähnen fallen mir ins Gesicht, doch ich ignoriere sie so gut es geht und lasse meine Gedanken zu einem ganz anderen Thema schweifen. Woher kennt dieser Mistkerl meinen Namen? Wie hat er mich hier gefunden? Wieso muss ich so viel Pech haben? Mit den Gedanken ganz woanders, lasse ich mich auf den Boden sinken und schüttele den Kopf. Mit einer Vorstrafe kann ich diesen Job vergessen, genau wie mein Studium und meine ganze Zukunft. Jeder Traum würde wie eine Kaugummiblase zerplatzen, einfach so, obwohl ich das Auto nicht mal berührt habe. Mich würde trotzdem jeder verhaften. Dabei bin ich unschuldig, das wird mir nur nahezu niemand glauben, der sich erst mit meiner Familiengeschichte beschäftigt hat. Da brauche ich mich gar nicht erst zu äußern, da fällt der Hammer schon und das war's mit meiner weißen Weste und all meinen Träumen. Langsam tausche ich meine Abreitskleidung gegen meine eigene und setze mir meine Mütze auf. Tränen der Verzweiflung bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Wieso musste ich auch dort stehenbleiben? Wäre ich sofort mit Erec wieder gegangen, hätte der Fahrer mich nicht gesehen und ich hätte diesen ganzen Mist nicht an der Backe. Der Konjunktiv hilft mir nur nicht weiter. Vielleicht kann ich einer erneuten Konfrontation mit diesem Typ aus dem Weg gehen, wenn ich mich aus dem Hintereingang raus schleiche, damit wird er bestimmt nicht rechnen und dort in der Nähe ist sogar eine Bushaltestelle. Zufrieden mit dieser Idee, öffne ich die Metalltür langsam und blicke mich vorsichtig um, doch ich erblicke niemanden. Erfreut fasse ich meine Handtasche fester und stiefel motiviert in die kühle Nacht hinaus. Doch weit komme ich nicht, da ertönt ein Ruf.

,,Lora, hier bin ich!"

Erschrocken bleibe ich stehen und drehe mich um. Er befindet sich tatsächlich noch immer auf dem Parkplatz, an sein Angeberauto gelehnt und an einer Zigarette ziehend. Als er mich erblickt, hat er sich aufgerichtet und mir zugewunken, als könnte ich ihn auf dem nahezu leeren Parkplatz übersehen.

vorurteilhaftOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz