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„Ich möchte so gerne vergessen, was war. In die Zukunft sehen. Genießen. Mich freuen.“ „Aber?“ „Ich kann nicht.“ „Noch kannst du nicht.“ „Noch.“

 

Am nächsten Morgen wachte ich von meinem Handy auf, was schrill klingelte. Es hatte nur diesen einen Klingelton. Verschlafen orientierte ich mich, dann fiel mir wieder ein, wo ich war. Ich griff über den Mann neben mir hinweg und angelte nach dem Telefon. War es der Wecker? Musste ich arbeiten? Wie kam ich überhaupt dahin von hier aus? Doch es war ein Anruf. Die Nummer war aus dem Krankenhaus. Schlagartig saß ich aufrecht und hellwach im Bett und nahm den Anruf an. Es war Marie. Meine Schwester höchstpersönlich rief mich an. Dann konnte sie nicht in Lebensfahr schweben. Sie brüllte mich an, ob ich den Verstand verloren hätte. Ich wäre gestern nicht an mein Telefon gegangen und hatte auch sonst nichts von mir hören lassen. Sie hätte ja nur noch mich und müsste ja schließlich heute irgendwie nach Hause kommen. Außerdem dürfte sie nicht ohne eine Begleitung nach Hause gehen. Sie schimpfte noch etwas weiter. Chris blinzelte zunächst, dann hielt ich mir aufgrund der Lautstärke den Hörer etwas vom Ohr weg und sah ihn peinlich berührt an. Stumm formte ich das Wort Entschuldigung. Er streckte sich, sah auf die Uhr seines Handys und strich mir dann stöhnend über den Rücken, während Marie mich weiterhin beschimpfte. Was ich denn für eine schlechte Schwester sei, die sich einfach nicht meldet und sich nicht darum kümmert, was mit ihr sei. Sie wolle nach Hause und ich würde ihr das nun schließlich verwehren. So unbeachtet und links liegen gelassen habe sie sich noch nie gefühlt. Ich solle mich gefälligst schämen. Chris fuhr hoch. Er hatte das Ganze mit zusammengekniffenen Lippen verfolgt. Er riss mir das Handy aus der Hand. „Wir holen dich später ab.“ Dann legte er auf. Ich war den Tränen nahe. „Was kann ich denn für das kaputte Handy? Sie weiß doch, dass es nicht richtig funktioniert und der Empfang so oft nicht gegeben ist, weil was darin kaputt ist. Sie weiß das doch…“ Nun schluchzte ich auf. „Aber sie hat Recht. Ich hätte da jeden Tag hinmüssen und für sie da sein müssen. Ich hätte nicht stattdessen den Tag mit dir verbringen dürfen.“ Tränen rollten mir über mein Gesicht. „Du hättest den Tag nicht mit mir verbringen dürfen? Ist es denn nicht dein Leben? Hast du nicht auch ein Recht auf ein Leben?“ Verletzt sah er mich an. Er war gestern so nett zu mir. Ich hatte seit dem Tod meiner Eltern wieder eine Geburtstagsfeier gehabt. Mein Benehmen war irgendwie furchtbar. „Es tut mir leid. Du warst so lieb gestern. Du hast mir den schönsten Geburtstag geschenkt, den man sich wünschen kann!“ Misstrauisch sah er mich an. „Warte mal ab, wie das aussieht, wenn man wirklich eine schöne Feier macht. Das gestern war doch nichts.“ „Für mich schon. Danke!“ Ich umarmte ihn und er ließ sich mit mir im Arm einfach nach hinten in die Kissen fallen. Berauscht von dem kurzen Schrecken lachte ich los. Er lag noch immer unter mir und in meiner Umarmung gefesselt. Seine Augen hatten diesen warmen Ausdruck, die Lachfalten verrieten, dass er loslachen wollte und kurz danach entblößte er seine weißen Zähne und lachte mit. Ich spürte die Erschütterungen, die seinen Körper erfassten. Langsam zog ich mich jedoch zurück. Das war mir zu viel. Als mein Gesicht einfror, nahm sein Ausdruck etwas besorgtes an. „Alles gut? Habe ich was falsch gemacht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es ist nur… zu viel Nähe gewesen. Das ist so… merkwürdig.“ „Nicht gut?“ „Doch. Irgendwie schon.“ „Und warum ziehst du dich dann zurück, statt zu genießen?“ „Weil ich nicht vergessen kann vielleicht.“ „Dann schaffen wir neue Erinnerungen.“ Damit zog er mich zurück an seine Seite. Sachte verteilte er Küsse auf meinen Armen und auf meinem Gesicht. Langsam strich er an meinem Hals entlang, bis zum Kragen des Shirts. Weiter nicht. Den Fingern folgten seine Lippen. Zunächst lag ich angespannt da und traute mich nicht, zu atmen. Zu groß war die Angst, gleich würde wieder etwas Schlimmes geschehen. Doch es geschah nichts. Nichts weiter, als das Chris mir diese zarten Berührungen schenkte. Dabei kam er mir mit keinem anderen Körperteil näher. „Vergiss das Atmen nicht“ flüsterte er mir ins Ohr und ich stieß die Luft aus und atmete hektisch wieder ein. „Weiter?“ fragte er. Bevor ich über die Konsequenz nachdachte, nickte ich schwach und schloss die Augen, als sein Bart wieder über meine Haut strich. Das Atmen fiel mir immer leichter, die Augen hielt ich jetzt auch geschlossen. Etwas Anspannung war dennoch im Körper. „So, Kuschelstunde vorbei. Jetzt bin ich dran.“ Schlagartig öffnete ich die Augen. „Guck nicht so. Du kannst mir gerne auch was Gutes tun.“ Er zwinkerte mich an und zeigte auf seine Wange. Ich gab ihm mit einem Lächeln einen Kuss auf die Stelle. Er zeigte auf die andere Wange. Dann auf weitere Stellen in seinem Gesicht und an seinem Hals. Immer mehr musste ich lächeln. „So gefällst du mir“ flüsterte er. „Und jetzt du. Entscheide selbst. Aber denk bitte an meine nicht ganz so unendliche Selbstbeherrschung.“ Bei diesen Worten wurde ich knallrot. Dennoch ging ich auf Wanderschaft. Mit den Händen strich ich seine Arme entlang. Ich strich durch seine Haare und zog an der blonden Strähne. Mit geschlossenen Augen lag er da. Ein Grinsen im Gesicht. Ich entdeckte seine beiden Ohrlöcher. Wie er so dalag, die Brust sich hob und senkte, verspürte ich den Wunsch, ihn auch dort zu berühren. Zögerlich hielt ich die Hand über sein Herz und kämpfte kurz mit mir, sie abzulegen oder nicht. Letztendlich tat ich es. Er öffnete überrascht die Augen. Doch ich sah auf meine Hand und spürte, wie sein Herz schlug und seine Atmung ging. Einige Minuten verharrte ich so. Meine Hände fingen wie von selbst an, zu wandern. Sein Bauch war ganz weich unter dem Stoff. Ich erfühlte seine Brustwarzen. Als ich an seinem Bauchnabel war, sog er die Luft ein. Ein Grummeln war zu hören. „Hast du Hunger?“ „Nein, in erster Linie Bauchkribbeln. Aber auch etwas Hunger.“  Er grinste. „Solange du bei mir kein Bauchweh bekommst…“ gab ich zurück und beugte mich hinunter, um seinen Bauch zu küssen. Alles in ihm verspannte sich sofort. Trotzdem war es anders, als sonst. Als früher. Ich bekam keine Angst. „Los aufstehen. Frühstück. Sonst vergesse ich mich doch noch.“ Schnell richtete er sich auf, gab mir einen Kuss und sprang aus dem Bett. Aus dem Augenwinkel war die Auswirkung auf ihn nicht zu übersehen. Aber auch mein Körper reagierte auf ihn. Ob er das merkte?

Nach dem Frühstück mit reichlich Kaffee für uns beide lieh ich mir eine warme Jacke von ihm, denn draußen war es schlagartig sehr kalt geworden durch einen eisigen Wind. Er machte Ernst, rief bei Andreas an und erklärte ihm die Lage, fuhr dann erst mit mir zu Bärbel und Bernd, um Maries Sachen zu holen und von da aus sollte es ins Krankenhaus gehen. „Wir haben für heute Nachmittag einen Kuchen und Kaffee mit euch eingeplant. Du hattest doch gestern Geburtstag. Das müssen wir natürlich auch nochmal in dieser Runde feiern. Erfreut sah ich beide an. „Wir müssen nur Marie aus dem Krankenhaus holen und nach Hause bringen. „Sie kann gerne auch mitkommen“ schlug Bärbel vor. „Besser nicht. Marie sollte sich schonen und ihr Verhalten tut Miriam nicht gut.“ Chris Stimme klang ziemlich bestimmt und kalt gegenüber Marie. Bärbel zog die Augenbrauen hoch. Ich konnte nichts sagen. Er sprach aus, was ich nicht in Worte fassen konnte.

„Ist ja toll, dass du dich auch endlich mal hierher bequemst. Da sind meine Sachen. Hoffentlich steht das Auto wenigstens vor der Tür!“ Marie blökte mich übel gelaunt direkt in der Tür an. Langsam schob ich mich in den Raum, Chris hinter mir. Seine Augen funkelten gefährlich, sein Kiefer war angespannt. Im Auto hatte ich ihn darum gebeten, wenigstens nichts zu sagen, denn er hatte sich standhaft geweigert, mich alleine gehen zu lassen. Eine Schimpftirade nach der anderen folgten, während ich die Tasche nahm, ihr ihre Handtasche überreichte und sie zum Auto brachte, welches Chris extra vor die Tür fuhr. Der Arzt hatte ihr jede Menge mit auf den Weg gegeben und fragte noch, ob sie alleine sei. Sie hatte bestimmt, dass ich auf sie aufpassen würde. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und der Arzt nahm dies auch wahr. Im Auto ging das Spiel weiter. Chris fuhr wie ein Bekloppter. Den vorsichtigen Fahrstil hielt er wohl nur für mich bereit. Auf der Rückbank hielt ich mich verzweifelt an den Griffen in der Tür fest. Marie schimpfte so richtig los. Chris hakte Marie unter, ich nahm die Tasche aus dem Auto. Dann brachten wir beides nach oben in ihre Wohnung. „Redest du jetzt nicht mal mehr mit mir? Hallo? Geht’s noch? DU hast hier den Scheiß gebaut, Madame!“ „So, wir gehen jetzt. Wenn du wieder auf der Erde gelandet bist, darfst du dich gerne bei deiner SCHWESTER melden. Ansonsten erwarten wir deine Krankschreibung und sehen uns dann, wenn du gesund bist, im Büro.“ „Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? Du weißt ja gar nicht, was du dir da zum Spielen mit nach Hause genommen hast! Die ist doch zu Nichts nutze. Oder hast du etwa daran deinen Spaß im Bett?“ „Jetzt hör mir mal zu, Marie. Ich bin immer noch dein Chef! Und zum anderen weißt du scheinbar nicht, was deine Schwester für ein toller Mensch ist!“ Ich stand, völlig neben mir, da und hörte, wie Marie ihren Chef anschrie, mich dabei beleidigte und er ihr total unterkühlt antwortete. Diesen Tonfall hatte er ganz am Anfang von Maries Arbeit bei deren Firma mir gegenüber an den Tag gelegt. „Ach so ist das also. Was willst du nur mit der? Ist ja lachhaft!“ „Hör auf, Marie. Ich gehe jetzt. Ich bin zum Kuchenessen eingeladen. Es tut mir leid.“ „DU bist eingeladen? Von wem? Und wieso? Du hast doch nur keine Lust, dich um mich zu kümmern, was deine verdammte Pflicht ist, du bist schließlich meine Schwester!“ „Es wäre sehr unhöflich, abzusagen. Es tut mir leid. Ich komme morgen wieder. Und wenn etwas ist und du mich nicht erreichst, rufe ihn an. Mein Handy ist doch nicht in Ordnung.“ „Dann besorg dir mal eins, was in Ordnung ist. Ne neue Jacke war ja auch drin, wie ich sehe.“ „Die ist nur geliehen. Wirklich. Ich habe bald das Geld zusammen, um mir ein anderes Handy zu besorgen. Versprochen.“ „Du leihst dir Sachen? Wie armselig.“ „Komm, wir gehen jetzt. Sonst platze ich gleich. Außerdem wartet dein GEBURTSTAGSKUCHEN auf dich“ sagte mir Chris, legte die Hand in meinen Rücken und drückte mich zur Tür raus. Im Treppenhaus nahm er mich fest in den Arm. „Du kannst die Jacke behalten und mein altes Handy haben. Ich würde dir alles geben.“ „Danke“ flüsterte ich tonlos und schluckte die Tränen herunter. In der Wohnung flogen Sachen durch die Gegend. Wir fuhren, ohne uns umzudrehen, zu Bärbel. Ich hatte jedoch einen dicken Kloß im Hals und Atemnot. Mein Kopf fuhr sehr schnell Karussell.

 

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