In meinen Augen bilden sich Tränen. Ich will nicht von allem, was mich am Leben hält, weggerissen werden. Ich will das nicht. Ich klappe den Schirm zu, damit es nicht so aussieht als würde ich weinen. Nach wenigen Sekunden bin ich völlig durchnässt und friere. Jetzt bereue ich meine Entscheidung raus gegangen zu sein, aber es ist sowieso schon zu spät. Ich drehe nicht um. Am Bäcker vorbei, über die große Kreuzung, bald ragt die Kirche über mir in die Höhe. Es fühlt sich so endgültig an.

"Heulsustasia, was machst du denn hier? So kennt man dich ja gar nicht", höre ich eine hämische Stimme hinter mir und zucke zusammen. Nicht einmal in seinen letzten Stunden konnte man einer Person aus dem Weg gehen. Ich drehte mich um und schaute ihn skeptisch an. Meine Haare triefend nass, sah ich bestimmt aus wie eine Witzfigur und er hatte einen Grund mehr, sich über mich lustig zu machen.

"Am Schwänzen, so kennt man dich ja gar nicht", wiederholt er grinsend.
"Ich hab dich schon beim ersten Mal verstanden", meine ich provokant, jetzt, wo ich wegfahre, hindert mich nichts daran.
"Wo warst du denn heute?", fragt er nach und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
"Zu Hause." Wieso antworte ich überhaupt? Hier wird kein vernünftiges Gespräch zustande komme, dessen kann ich mir sicher sein. Aber irgendwie habe ich das Bedürfnis ihm mal meine Meinung reinzuhauen. Wenn er mir die Gelegenheit dazu gibt.

"Bist du etwa krank?", hakt er gespielt mitfühlend nach.
"Nein. Ich bin für das restliche Schuljahr von dem Unterricht befreit. Musst du deine Aufmerksamkeit wohl jemand anderem schenken, als mir. Wird dir schwer fallen, weil du so besessen von mir bist, aber es gibt noch andere tolle Menschen auf der Schule, weißt du?"

"Du denkst wirklich, dass ich besessen von dir bin und das weil du so toll bist?", stellt er direkt die Gegenfrage und ich bin überrascht, wie schnell er darauf reagiert hat. Ich dachte, die Neuigkeit würde ihn zumindest kurzzeitig aus der Bahn werfen, aber falsch gedacht. Leon ist, selbst nach all den Jahren, ein komplettes Mysterium.

"Ich habe dir nur meine Aufmerksamkeit geschenkt, damit du nicht in Selbstmitleid versinkst, damit du jemanden hast, an dem du deine Wut auslassen kannst."
Er zuckt nicht einmal mit der Wimper und ich bin mir mehr als sicher, dass er die Wahrheit sagt oder zumindest das, was er für die Wahrheit hält.
"Denkst du wirklich, das war die richtige Variante, einem Menschen zu helfen?" Irgendwie verunsichert mich seine Aussage. Dann hat er es nämlich nicht aus Eigennutz gemacht, sondern, um mir zu helfen. Aber was hat es denn gebracht, wenn er es mir jetzt gestanden hat? Jetzt ist meine Wut auf ihn merkwürdigerweise verraucht und ich beschuldige mich selbst.

"Nicht wirklich. Aber mir ist nichts anderes eingefallen, um dir zu helfen. Mit der Zeit hab ich gemerkt, wie du Stück für Stück über seinen Tod hinweg gekommen bist. Aber ich hab mich irgendwie gezwungen gefühlt, weiter zu machen. Lieber deine Aufmerksamkeit in Wut als gar nicht auf mich zu richten."
Ich blinzele. Wenn es stimmt, was er sagt...

"Würdest du aufhören, wenn ich dich drum fragen würde?", frage ich unsicher. Er nickt direkt. Es besteht also Hoffnung. Wenn er aufhören würde, würde ich klar kommen in der Schule, vielleicht Freunde finden, Menschen, die sich nicht getraut hätten, mich anzusprechen, aus Angst Leons Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten. Ich brauche also keine Therapie. Etwas wie Hoffnung keimt in meinem Inneren auf und ich lächele zum ersten Mal in einer Weile, weil mich ein postives Gefühl durchflutet. Hoffnung.

"Dann frage ich darum. Mir geht es gut. Du kannst aufhören."
"Mach ich", meint er und lächelt mir zu. Seine Brandnarbe, die sich über sein halbes Gesicht zieht, spannt sich an, wie immer, wenn er lächelt. Die Geschichte dahinter kenne ich nicht, aber ich glaube, zum ersten Mal überhaupt sein wahres Gesicht zu sehen.
"Nicht...", fügt er grinsend hinzu und meine Schultern sacken nach unten. Als er lauthals zu lachen anfängt und ich realisiere, dass alles nur ein Scherz war und er sich nie auch nur eine Sekunde um mich gesorgt hat, stirbt die Hoffnung so schnell, wie sie aufgekommen ist.

"Wie leicht du doch zu überzeugen bist", bringt er unter Gelächter hervor und ich drehe mich weg, damit er die Tränen nicht erkennen kann. Ein Fehler. Ich bin so dumm, so verdammt dumm. Ich hab mir doch geschworen, ihm niemals den Rücken zuzukehren. Ich werde an den Haaren zurückgezogen und Leon schaut mir von oben in die Augen. Das ursprüngliche, gerissene Funkeln im Blau ist zurückgekehrt und ich frage mich zum dutzendsten Mal, wie ich so naiv hatte sein können.

"Hast du nicht etwas vergessen?"
"Was denn?", bringe ich keuchend hervor.
"Eine Abschiedsumarmung vom lieben Leon abzuholen."
Wer so von sich in der dritten Person spricht und es nicht mit Humor meint, ist durchgeknallt.
"Wieso sollte ich das tun?"
Er reißt mir so stark an den Haaren, dass meine Kopfhaut höllisch brennt und mir ungewollt weitere Tränen in die Augen schießen.
"Weil wir uns wiedersehen werden", sagt er ernst. Es ist zwar keine Antwort auf meine Frage, aber eine Drohung und ein Versprechen. Und das macht mir Angst.

 Und das macht mir Angst

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cold time wishesWhere stories live. Discover now