14 | Unangenehme Überraschung

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Frustriert lasse ich den Föhn sinken und werfe einen Blick auf die Uhr.

Wahrscheinlich hofft ein kleiner Teil von mir, dass die Zeiger vielleicht stehen geblieben sein könnten, aber das sind sie nicht. Es sind nur weitere vier Minuten meiner ziemlich knappen und damit äußerst kostbaren Zeit vergangen.

Emily holt mich mit ihrem Auto um neun ab, also in siebzehn Minuten und sechsunddreißig Sekunden, und bis dahin muss ich es noch schaffen, eine Lösung für die fadenartigen Strähnen auf meinem Kopf zu finden.

Meine Augen suchen wie von selbst nach den Zopfgummis, die in einem Fach in der Schublade meines Schminktisches liegen. Verlockend leuchten sie mir entgegen. Ich gebe nach. Wie von selbst greifen meine Finger nach einem davon, ich bürste mir meine Haare erneut durch und dann binde ich mir einen hohen Zopf.

Als ich gerade mein Zimmer verlasse, klingelt es unten.

Anscheinend hat meine Mutter ihr schon aufgemacht, denn Emily steht in der Haustür und winkt mir zu, während ich gehetzt die Treppe herunter stolpere und dabei zurück winke.

Sie trägt ein hochgeschnittenes Kleid zu einer Jeansjacke und ich frage mich, ob ihr das nicht etwas zu kalt ist, ganz gleich ob es echt gut aussieht.

»Tschüss, Mum«, rufe ich in den Flur Richtung Wohnzimmer, wo ich sie vermute, und ziehe hinter mir die Haustür zu.

Für einen Herbstabend ist die frische Luft sogar einigermaßen warm und ein angenehm leichter Wind streicht mir über die Haut. Einen kurzen Moment bleibe ich stehen und beobachte, wie die bunten Blätter der Äste sanft hin und her schaukeln. Es hat etwas Friedliches.

»Kommst du?«, ruft Emily mir zu. Sie ist bereits beim Auto — wahrscheinlich ein Wagen ihrer Eltern, denn ihr eigener ist noch nicht wieder aufgetaucht.

Ich nicke, laufe zur Beifahrerseite und steige ein.

»Sagst du mir endlich, wo wir hinfahren?«, frage ich, während sie den Motor startet und von unserem Grundstück fährt. »Jetzt kann ich sowieso keinen Rückzieher mehr machen.«

»Hab Geduld, du wirst es gleich erfahren«, antwortet Emily geheimnisvoll und lächelt dabei in sich hinein.

Stöhnend lasse ich meinen Kopf gegen den Sitz fallen. »Lass mich raten«, schlage ich dann vor, »Tess' Eltern sind gerade verreist und gemeinsam mit ein paar Typen aus der High School werden wir das Haus auseinander nehmen.«

»Vollkommen daneben«, triumphiert sie, setzt den Blinker und biegt von der Hauptstraße ab.

Das Gelände hier kenne ich nicht und auch die Häuser sehen immer weniger vertrauenswürdig aus.

Als wir das alte Sportgelände erreichen, parkt Emily am Straßenrand.

Verwundert sehe ich zu ihr. Hier ist außer verwilderten Football-Feldern, sowie Unkraut befallenen Tennisplätzen und dem großen, mit Graffiti besprühten Gebäudekomplex weit und breit nichts.

»Was machen wir hier?«, will ich schließlich entsetzt wissen, als mich so langsam eine böse Vorahnung beschleicht.

»Komm einfach mit, Tess meinte, sie würde am Eingang auf uns warten«, fordert das blonde Mädchen mich zuversichtlich auf.

Hat sie denn keinen Schiss, in dieser Gegend das Auto auch nur für ein paar Sekunden zu verlassen? Ich selbst habe diesen Teil der Stadt immer gemieden, was auch nicht schwer ist, wenn man bedenkt, dass es der einzige ist, der in irgendeiner Weise heruntergekommen ist.

»Komm einfach«, sagt sie nur, stößt die Autotür auf und schwingt energiegeladen die Beine auf die Straße.

Einen Moment bleibe ich noch sitzen und starre nur in die dunkle Gegend, bis ich mich schließlich ergebe und ebenfalls den Wagen verlasse — wenn auch mit einem durch und durch schlechten Gefühl im Magen.

Schon auf dem Weg zum Gebäude bin ich extrem froh, mich für meine Sneaker entschieden zu haben, denn mit meinen High Heels hätte ich wahrscheinlich kaum einen Schritt machen können, ohne in einer der losen Bodenplatten hängen zu bleiben.

Es ist gruselig, wie die hochgewachsenen Büsche große Schatten an die abblätternde Farbe der Wände werfen und jedes Mal wenn auch nur ein Ast knackt, zucke ich zusammen.

Die große zweiflügelige Tür des Haupteingangs taucht aus der Finsternis auf und ich kann schemenhaft die Umrisse einiger Personen, die davor stehen, ausmachen.

Selbst Emily klingt eine Spur erleichtert, als sie, »Da sind sie ja«, murmelt.

Die Menschen, die dort herum lungern, haben uns wohl ebenfalls entdeckt, denn einer von ihnen setzt sich in Bewegung und kommt auf uns zu. Bei näherem Hinsehen erkenne ich doch tatsächlich Tess; nur dass sie ganz anders aussieht, als noch vor wenigen Stunden in der Schule; statt den Kopf gesenkt zu halten, strahlt sie uns entgegen, anstelle von ihren Jeans und T-Shirt und einem Alltags-MakeUp-Look trägt sie ein schwarzes Skaterkleid, Boots und ihre Augen hat sie dramatisch mit Kajal umrandet.

»Hey«, begrüßt sie uns und zieht dann Emily kurz in ihre Arme.

Unweigerlich wirft sich mir die Frage auf, warum die beiden beinahe vertraut wirken. Wie gut kennen sie sich eigentlich und woher? Und warum hat Emily dann Gerüchte über sie weiterverbreitet, wo sie doch allem Anschein nach sowas wie Freundinnen sein müssen?

Ich frage nicht nach, sondern stehe nur schweigend daneben, bis die beiden sich wieder voneinander lösen und Tess auch mich kurz drückt.

Dann dreht sie sich um und führt uns zu den fünf anderen Jugendlichen. Es sind drei Jungs und zwei Mädchen, die uns neugierig mustern.

»Vielleicht sollte ich euch einander vorstellen, wenn man auch etwas sehen kann«, lacht Tess und zeigt dann auf die Tür. »Die anderen sind schon drin, worauf warten wir noch?«

Einer der Jungs hält uns auf, als wir hintereinander ins Innere des Gebäudes schlüpfen. Eines der Mädchen leuchtet mit der Taschenlampe auf die verschiedenen Gänge, die zum ehemaligen Hallenbad, Umkleiden und normaler Sporthalle führen.

Unweigerlich steigen Erinnerungen in mir hoch, wie ich früher jeden Samstag mit meinem Vater hierher gekommen bin. Es ist unsere goldene Regel gewesen, dass er sich an diesem Tag der Woche ein paar Stunden Zeit für mich nehmen musste, meist so ziemlich die einzigen. Ich weiß nicht, wann wir damit aufgehört haben, aber ich vermisse es.

Das Mädchen führt uns weiter bis zum Schwimmbad. Staunend bleibe ich stehen und sauge den Anblick in mich auf; Die lange und auch ziemlich kaputte Fensterfront wurde mit schwarzem Stoff verhängt, das Becken ist natürlich nicht mit Wasser gefüllt, sondern stattdessen stehen an einer der kurzen Seiten mehrere alte Tische, die notdürftig mit Stücken aus Holz repariert wurden, und unter der Last an Snacks und Getränken ziemlich wackelig wirken und einige weitere Jugendliche wuseln herum und legen zerfetzte Kissen in einem Kreis auf dem Boden aus.

Das, was mich jedoch am meisten zum Staunen bringt, sind die Lichter, die ein wunderschönes Farbspiel an die Decke werfen.

Ich möchte mich gerade an Tess wenden und fragen, wessen gelungene Idee das ist und warum ich all diese Menschen nicht kenne, als jemand meinen Namen sagt. Überrascht drehe ich mich um und kann meinen Augen kaum trauen; Da steht Reece. Mit einem Mädchen im Arm.

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⏰ Last updated: Nov 10, 2021 ⏰

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