22 "Überfällige Gespräche"

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„Warum hast du Jean damals den letzten Brief nicht gegeben? Ich frage mich jetzt schon den ganzen Sommer, wieso G, also du, ihn hat sitzen lassen."
„Er war einfach nicht gut für mich zu der Zeit. Weißt du, er war damals ein richtiger Frauenheld. Stolzierte am Strand auf und ab und sammelte die verliebten Blicke wie Trophäen", sie lächelte. Ihr Blick war verträumt. „Jedenfalls war er sehr leidenschaftlich"
„Oh Gott Oma. Das möchte ich doch nicht hören." Sie lachte kurz auf, bevor sie weitersprach.
„Ach das meine ich doch gar nicht. Seine Gefühle waren immer extrem. Er hat mich extrem geliebt und wurde dann genauso schnell wütend wie verletzt. Na ja und so hab ich dann entschieden meine Reise ohne ihn fortzusetzen."
„Hast du es später bereut?"
„Nein. Unsere Zeit war dieser Sommer. Dann habe ich deinen Großvater getroffen und war sehr glücklich mit ihm."
„Und jetzt ist eure Zeit wieder da?", fragte ich.
„Wer weiß. Wir haben uns beide verändert und ich wüsste nicht, wieso wir nicht noch eine Chance haben sollten. Wahre Liebe ist wunderschön, aber manchmal reicht sie nicht ganz aus. Wir waren einfach nicht gut füreinander und das war zu dem Zeitpunkt wichtiger als unsere wilden Gefühle". Meine Großmutter schaute mir tief und vielseitig in die Augen. „Verstehst du was ich meine?"
„Oh, soll ich das auf Marc und mich beziehen? So ist das bei uns nicht."
„Habt ihr euch denn wieder vertragen?", fragte meine Großmutter und ich schüttelte den Kopf.
„Lieben und geliebt zu werden, ist genauso einfach wie es kompliziert ist", sagte sie und der Kontrast zwischen ihren kitschigen Worten und ihrer kühlen, resignierten Art war so absurd, dass ich lachen musste.
„Danke für diesen tollen Ratschlag", sagte ich und verdrehte die Augen. „Weißt du Oma, ich glaube ich geh nochmal zum Strand. Mir fällt hier die Decke auf den Kopf."

Ich brauchte einfach mal Ruhe um wieder zu verstehen, wo mein Blick überhaupt hinführte. Bevor ich den Raum verließ, drehte ich mich noch einmal zu meiner Großmutter um. „Danke, dass ich diesen Sommer hier bleiben durfte. Ich hatte eine tolle Zeit." Sie erwiderte mein Lächeln und ein Sonnenstrahl spiegelte sich in unseren so unähnlichen Gesichtern.

***

Ich setzte mich auf die tiefe Mauer der Strandpromenade und zog meine Beine unter mir an. Gedankenverloren kratzte ich an dem Nagellack, der sich von meinen Zehen löste. Kleine Spuren von rotem Glanz landeten auf dem Stein. Der Strand lehrte sich langsam. Man konnte dem Ort ansehen, dass der Sommer sein Ende nahm. Die Wolken hatten sich vermehrt und zogen sich wie ein löchriges Netz über den grauen Himmel. Selbst die Sonne blieb an dem trüben Netz hängen und schaffte es nicht bis zum Wasser zu glitzern. Erst nach einer Weile bemerkte ich das unweit von mir ein anderes Mädchen saß. Noah hatte die Beine wie ich angezogen und umklammerte sie mit einem Arm. In der anderen Hand hielt sie eine Zigarette, die sie langsam an ihre feinen Lippen führte. Bevor ich überhaupt überlegen konnte, was ich tun wollte, richtete sie ihren Blick vom Horizont und entdeckte mich. Sie löste sich aus ihrer verschlungenen Position und kam zu mir herüber. Ich bemerkte zum ersten Mal, wie zerbrechlich ihre kleine Gestalt wirkte.

„Was für ein Zufall dich hier zu sehen", sagte sie, während sie sich neben mir niederließ.
„Es ist schön, oder?" Wir schauten beide wieder zum dunkelgrünen Wasser.
„Ich hab mich noch nicht entschuldigt, wegen der Sache mit dem Unfall", sagte Noah.
„Nein, hast du nicht", erwiderte ich ohne zu Zögern. Sie atmete hörbar aus und lachte.
„Das hab ich wohl verdient. Ich weiß auch nicht wieso ich das gesagt habe, also wieso ich dir nicht erzählt habe, welche Rolle Marc wirklich gespielt hat an dem Tag. Es war ziemlich dumm von mir. Ich hätte mir denken können, dass du es sowieso schnell herausfindest. Und jetzt ist ja auch alles gut zwischen euch." Jetzt war ich an der Reihe, ironisch auszuatmen und zu schmunzeln.
„Was ist denn?", fragte sie und stieß eine kleine Rauchwolke in die Luft. Der bittere Geruch brannte mir in der Nase.
„Ich würde nicht sagen, dass gerade alles gut zwischen uns ist." Als Noah nicht darauf antwortete, entschloss ich mich noch etwas anderes zu sagen, dass mir auf der Zunge brannte. „Ich glaube übrigens, dass du weißt, warum du mich im Krankenhaus angelogen hast."
„Ist es so offensichtlich?", fragte sie nach einer Weile.
„Irgendwie schon."
„Es war einfach schwierig für mich. Marc hat mich nie auf diese Weise betrachtet, egal was ich versucht habe. Ich habe mich irgendwann damit abgefunden und mir überlegt, dass es nicht an mir lag und er vielleicht einfach kein Interesse an Mädchen hat oder so. Na ja und dann kamst du."
Ich überlegte was ich darauf antworten sollte. Das tut mir leid, kam mir wie die falsche Antwort vor. Nicht, weil es nicht meinen Gefühlen entsprach, sondern weil es wie die vorhergesehene Antwort wirkte.

Ich räusperte mich, aber Noah unterbrach mich: „Es ist okay. Mach dir keinen Stress."
„Hast du mitbekommen, was wir über Jordi herausgefunden haben?", fragte ich. Ich brauchte einen Themenwechsel. Sie schüttelte den Kopf. „Er hat die Buchungen des Hotels manipuliert, sodass es im Internet immer als ausgebucht angezeigt wurden." Noah hob ungläubig ihre Augenbrauen, während ich erzählte.
„Oh wow, das ist ja krass. Habt ihr ihn gefeuert?"
„Ja, ich hab es meiner Großmutter gezeigt und sie hat ihn sofort rausgeschmissen."
„Und wieso hat er das gemacht?", fragte Noah.
„Er sagt die neue Hotelanlage auf der anderen Seite der Bucht hätten ihn dafür bezahlt. Magret hat versucht die zu konfrontieren, aber der Manager hat es nur abgestritten und sie abblitzen lassen. Sie will es jetzt einfach dabei belassen und nicht weiter gegen Jordi oder das Hotel vorgehen."
„Krass. Das hätte ich echt nicht von ihm erwartet", sagte sie nachdenklich, nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette und schüttelte den Kopf.
„Ja, wir haben uns wohl alle ein wenig in ihm getäuscht", erwiderte ich.
„Früher war er nicht so."
„Wer? Jordi?"
„Mhm", sie nickte, „er war zwar immer frech, aber auch aufrichtig. Na ja ich schätze, er hat sich in den letzten Jahren verändert. Ich hab es dir gerade sofort geglaubt, also wusste ich wohl auch schon, wie er inzwischen ist. Man lebt sich einfach auseinander. Die Zeiten, in denen wir zu dritt am Strand gespielt haben sind vorbei", schloss sie seufzend. Sie schien nicht wehmütig, sondern ihr Gesichtsausdruck war klar und offen.
„Okay, ich glaube ich muss jetzt los." Noah drückt ihre Zigarette aus und warf einen letzten Blick auf den dunkler werdenden Himmel. Sie schwang ihre dünnen Beine über die Mauer und richtete sich auf.
Plötzlich hielt sie in ihrer Bewegung inne und drehte sich noch einmal zu mir. Noah zögerte kurz und sagte dann: „Ich habe ihn seit langem nicht mehr so viel Lächeln sehen. Ihr dürft euch das nicht kaputt machen."

Die heiße Luft war inzwischen einer kühlen Brise gewichen und die grauen Wolken hatten sich vermehrt. Dadurch hatte das Meer einen viel dunkleren, tieferen Blauton. Nachdenklich beobachtete ich die gleichmäßigen Bewegungen der Wellen.

Zurück in die Schule zu gehen war die vernünftigste Entscheidung. Aber vielleicht hatte Marc recht und es war nicht ich, die diese Entscheidung traf. Vielleicht war es auch nicht das, was ich wirklich wollte. Woher sollte ich wissen, was ich wirklich wollte?

Während meine Augen suchend den Himmel entlang wanderten, fiel mir plötzlich ein heller Streifen am Horizont auf. Eine gerade Linie gleißenden Lichts trennte das Meer von den Wolken und schien sich endlos in die Breite zu Ziehen. Der Horizont erinnerte mich an die vielen Meeren, Strände, Städte und Menschen, die hinter ihm lagen. Tausende Leben und alle waren sie hinter diesem Leuchten möglich.

Genau das wollte ich.

Sommer 68Where stories live. Discover now