19 - Keine Antworten

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Sag mir Violet, wann haben wir angefangen, damit aufzuhören? Du gibst mir einen Drink, hältst möglichst unauffällig nach jemandem Ausschau. Nach ihm.

Und Seth bemerkt dich nicht einmal, beachtet dich nicht einmal, als du ihm überschwänglich zuwinkst. Dein Blick wird trüb, fällt in sich zusammen. Deine Schultern senken sich herab, als würden sie eine schwere Last ertragen müssen. Als würde er für den Augenblick deine ganze Welt dominieren und hätte sich dazu entschieden, sie mit all der Kraft, die du ihm zugestanden hast, dem Erdboden gleich zu machen.

Wir stoßen an, heben das Glas, setzen es an unseren Lippen an.

Wir stoßen an – auf deinen Untergang.

Nur wissen wir es noch nicht.

Ach Violet. Sich in den falschen zu verlieben ist nie gut. Und wir, wir sind alle die gleichen Narren, haben alle den gleichen Fehler begangen. Du. Seth. Ich nicht, nicht zu diesem Zeitpunkt. Damals hätte ich nicht geahnt, mich genauso wie du und Seth in die vollkommen falsche Person zu verlieben. Und doch ist es uns, früher oder später, allen widerfahren.

Hass kann einen antreiben. Liebe dagegen kann einen weiterbringen. Eure Liebe, unser aller Liebe, hat uns tatsächlich weitergebracht. Nur in verschiedene Richtungen. Sie hat uns auseinandergetrieben.

Ach Violet. Selbst jetzt, selbst jetzt wo er in unsere Richtung sieht, hat er keine Sekunde lang Augen für dich. Ich hasse ihn sowohl mich für die Art, wie er mit deinen Gefühlen spielt. Wie ich mit deinen Gefühlen spielen. Ungewollt, aber es ändert kein bisschen. Das Endprodukt ist das gleiche. Violet, du wirst verletzt.

Seth und mein Blick treffen sich. Meine Miene ist gleichgültig, wie sonst auch, nüchtern und platonisch.

In Seth Augen tobt ein Sturm, genauso wie in deinen. Nur wütet sein Sturm für die falsche Person. Er wütet für mich.

Ich hasse es, an diese Nacht zu denken. Ich kann nicht daran denken, ohne den gleichen Schmerz zu spüren, der sich wie ein Schraubstock in meinen Bauch bohrt und mich von innen heraus bluten lässt. Und nicht nur auf diese Weise blute ich. Ich blute auch im Herzen.

Ohne zu stolpern und ohne sonstige Zwischenstöße komme ich vor dem kaputten Schließfach an. Spind 86. Ich haue mit der Faust auf die Mitte des verbeulten Metalls, sofort springt das Fach auf. Ich weiß nicht, woran es liegt, an der hauseigenen Arroganz des Menschen oder an meiner nahezu revolutionär perfektionierten Art, unterzugehen, aber mich bemerkt niemand. Nicht einer scheint sich daran zu stören, dass ich, Honey Ambrosé, die in den letzten Wochen eines der Lieblingsgespräche für den Pausentratsch war, an einem Schließfach, welches offensichtlich nicht meines ist, herumdoktore.

Das Geflüster ist noch immer in meinen Ohren, ich kann es in meinen Ohren hören, spüre die Verachtung durch meinen Körper vibrieren und schmecke das Mitleid auf der Zunge.

Violet Torres ist bei einem Autounfall gestorben, sie hier saß am Steuer – die neutrale Variante.

Sie hat Schuld an dem Tod ihrer Freundin, sie hat das Auto in den Graben gefahren – die Richter, die über mich urteilen.

Ihre beste Freundin ist gestorben, die Arme, jetzt ist die ganz alleine – die, die Mitleid mit mir haben.

Die Person, mit der ich schreibe, stört sich nicht daran. Sie kennt mich nicht. Oder er? Es kennt mich nicht. Ich rufe mir meinen letzten Brief in Erinnerung. Beziehungsweise die kleine Botschaft.

Ich würde trotzdem gerne mehr über dich erfahren.

Und die Person, der oder die Fremde, hat geantwortet. Ich lese mir den ganzen Brief durch, das breite Grinsen weicht mir nicht aus dem Gesicht. Wie lange ist es her, dass ich mich so sehr über etwas derartiges gefreut habe?

LOVE LETTERS TO A STRANGERWhere stories live. Discover now