20 - Aufziehender Sturm

Începe de la început
                                    

Manchmal, manchmal denke ich darüber nach, wie es sein kann, dass meine Gedanken einem anderen Gesetz der Gravitation folgen? Statt an den Erdboden gezogen zu werden, gleiten sie immer weiter in ungeahnte Höhen, entschwinden in die unendlichen Weiten des Universums.

Unendliche Höhen, unendliche Tiefen, unendliche Weiten. Wo endet meine Existenz, die nur eine Epoche der Endlichkeit ist? Wo enden die menschlichen Grenzen, die menschliche Macht und die menschlichen Gedanken?

Ich hinterlasse meine Spuren im frischen Schnee, der im milden Licht der Sonne glitzert. Jeder Mensch hinterlässt seine Spuren und auf jedem wurden schon Spuren hinterlassen. Manche tragen sie auf ihrem Körper, andere haben sie tief in sich. Mit jedem Schritt knirscht der Schnee leise, als würde er gegen das Gewicht meines Körpers protestieren. Vielleicht ist er ja erzürnt, von mir runtergedrückt zu werden.

Heute Nachmittag fing es an, der Wind frischte langsam auf, bis es draußen fast schon stürmisch war. Die Bäume biegen sich dem Wind entgegen, als wäre der Wind selber der Bestimmer, dem sich das Leben unter ihm zu beugen hat. Ein Sturm zieht auf. Er braut sich zusammen, auch jetzt, auf meinem Weg nach Hause, schlagen mir die Peitschen des Windes entgegen, fast schon, als würde er mich bestrafen wollen.

Silas ist den ganzen Tag nicht wieder in die Schule kommen. Ich glaube, ich wäre auch zu Hause geblieben, wenn sich die Möglichkeit geboten hätte. Der irrationale Teil in mir hält das und die Tatsache, dass die Briefperson auch nicht mehr geantwortet hat, für einen Wink des Schicksals.

Allerdings, und dessen sollte ich mir noch viel mehr bewusst sein, ist es die Hoffnung, die mit mir durchgeht. An der Patcham Highschool gibt es knapp 250 Schüler. Und meine Gedanken kreisen nur deshalb um Silas, weil mein Horizont an Leuten, die ich kenne, sehr begrenzt ist. Außerdem, eigentlich will ich gar nicht wissen, wer diese andere Person ist.

Ich will nicht, dass der Fremde ein Gesicht bekommt, in das ich sehen könnte, weil es das Abbild der Realität wäre. Und die Realität ist viel erbarmungsloser, als die Fantasie. Die Fantasie ist unendlich, die Realität eine Grenze, die ich überschreiten möchte. Weil sie so viel angenehmer ist.

Dass Silas heute nicht da war, bedeutet für mich auch, alleine nach Hause zu gehen. Mit meinem Ohrstöpsel in den Ohren, aus dem Musik wie Wasser in meine kreisenden Gedanken sickert. Ich passiere kleine Kinder im Park, die Schneeengel machen, sich mit Schneebällen bewerfen und freudig kreischen.

Manchmal, manchmal wünsche ich mir, ich könnte in eine Zeitmaschine steigen und die Zeit zurückdrehen. Nicht einmal unbedingt, um etwas anders zu machen, das könnte gar nicht funktionieren, sondern einfach, um solchen Momenten mehr Bedeutung beizumessen. Um die kleinen Dinge zu schätzen und im Hinterkopf zu behalten, dass sie die Schneeflocken des Lebens sind, die alle gemeinsam eine Lawine auslösen können.

Ein letzter Schritt, über die Bordsteinkante, und ich bin vor unserer Haustür. Die braune Farbe ist leicht abgeblättert, von den Jahren die sie schon auf ihrem Buckel hat. Mein Schlüssel dreht sich von alleine im Schloss, die Tür springt auf, das Geräusch hallt im Flur wider. Der Druck des Windes sorgt dafür, dass sie in einem lauten Knall zufällt. Ich stehe in unserer Wohnung, noch vor einigen Wochen hätte ich einfach nur die zwei Treppen hinaufsteigen müssen. Ein paar wenige Schritte. Und ich wäre bei Violet.

Die Zeit ändert Menschen, sie ändert alles. Was ist die Unendlichkeit der Zeit gegen das springende Glück einer einzigen Sekunde, einer einzigen Umarmung, eines einzigen Blicks? Nichts, flüstert die Stimme in meinem Inneren. Der Nachhall einer Person, die ich einst war. Denn die Zeit, sie ändert Menschen.

Die Wohnung ist erfrischend leer, ganz anders als mein Kopf. Weder Mom, Dad, noch Theodosia sind da. Nachdem ich aus meinen Stiefeln und meiner Jacke geschlüpft bin, laufe ich in die Küche, in der ein kleiner Zettel an den Kühlschrank befestigt wurde.

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