LOVE LETTERS TO A STRANGER

12 - Freundschaft

Jetzt schlägt er wohl Alarm.

Silas sieht aus, als würde er am liebsten etwas zu mir sagen, lässt es sein und fährt sich einfach nur durch die Haare. Er zieht sein Handy heraus und tippt hastig etwas ein.

Silas:
𝖠𝗅𝗅𝖾𝗌 𝗌𝖼𝗁𝗂𝖼𝗄 𝖻𝖾𝗂 𝖽𝗂𝗋?

Mein Handy vibriert in meiner Jackentasche, zum Glück habe ich es auf Vibration, statt den Ton wie die meisten laut zu haben. Irgendwann, ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal mehr wann genau, hat Violet mir einen eigenen Klingelton gesprochen. Wir beide haben schon immer gemeinsam diverse amerikanische Trash TV-Serien angesehen. Während einer Werbung bei Love Island hat sie mir das typische »Naaaachricht!«, was die Kandidaten bei Erhalt einer Nachricht rufen, aufs Band gesprochen und als meinen neuen Klingelton eingerichtet.

Nach ihrem Tod habe ich es nicht über mich gebracht, den Klingelton zu ändern, auch wenn ich immer eine halbe Nahtoderfahrung hatte, wenn mir jemand geschrieben hat. Mit der Zeit habe ich es mir angewöhnt, mein Handy lautlos zu haben.

Du:
𝖩𝖺 𝗄𝗅𝖺𝗋, 𝗆𝗂𝗋 𝗀𝖾𝗁𝗍'𝗌 𝗀𝗎𝗍.

Auch wenn ich mir mehr als nur sicher bin, dass Silas von Violets Tod weiß – jeder, der in den letzten Monaten nicht auf dem Mars war, weiß schließlich davon –, hat er mich nie explizit darauf angesprochen. Ich glaube, Silas gehört zu den Menschen, die dich nicht dazu zwingen, etwas zu thematisieren oder zu erzählen. Er würde mich nicht dazu nötigen, über etwas zu reden, wenn ich selber das nicht möchte; wofür ich mehr als dankbar bin.

Nicht mal meiner Schwester, meiner engsten Vertrauten gegenüber, lasse ich all die unausgesprochenen Wörter in meinem Kopf entfliehen. Wie könnte ich es jemals schaffen, Silas all die schweren Gedanken in mir zu erklären? Doch er scheint zu ahnen, dass ich es einfach nicht schaffe, noch nicht schaffe.

Mein beharrliches Schweigen ist das Meer; seine Geduld und Zuneigung sind die Wellen seiner ozeangleichen Augen, die meinen ungesagten Worten trotzdem einen Boden, einen Bestand geben.

Silas:
𝖲𝖾𝗅𝖻𝗌𝗍 𝗂𝗇 𝖽𝗂𝖾𝗌𝖾𝗋 𝖾𝗂𝗇𝖾𝗇 𝖭𝖺𝖼𝗁𝗋𝗂𝖼𝗁𝗍 𝗁𝗈̈𝗋𝖾 𝗂𝖼𝗁 𝖽𝗂𝖾 𝖫𝗎̈𝗀𝖾; 𝖽𝖺𝖻𝖾𝗂 𝗁𝖺𝖻𝖾 𝗂𝖼𝗁 𝖽𝖾𝗂𝗇𝖾 𝖲𝗍𝗂𝗆𝗆𝖾 𝗇𝗈𝖼𝗁 𝗇𝗂𝖾 𝗀𝖾𝗁𝗈̈𝗋𝗍.

Meine Mundwinkel zucken unweigerlich leicht, das erste Mal heute. Nur mit Mühe verkneife ich mir ein leichtes Lächeln.

»Was macht ihr da, hm?«, unterbricht Penelope uns amüsiert.

»Digital Dirty Talk oder Sexting?«, schlägt Kassian als Antwortmöglichkeiten vor.

Silas schnaubt nur genervt, rollt mit den Augen und gibt Kassian einen Schlag in die Brust. »Aua!«, ruft Kassian entsetzt und reibt sich über die betroffene Stelle.

»Immer gleich so gewaltbereit!«

Silas erwidert nichts, sondern steht nur lachend auf. »Wir sollten langsam los, wir haben jetzt gemeinsam Chemie«, erinnert er seinen besten Freund. »Ach du Scheiße!«, ruft dieser panisch aus. »Glaubst du, wir kriegen den Test wieder?«

Silas nickt. »Es wird Mr. Garcia sicherlich eine Freude sein, uns einen weiteren misslungenen Test vor die Nase zu knallen.«

»Mein Beileid«, sagt Penelope und beißt von ihrem Bagel ab. »Ich bin bei ihm am ersten Tag zu spät gekommen und seitdem hasst er mich.«

»Wie eigentlich alle Lehrer«, neckt Kassian sie und grinst frech. Penelope schnappt nach Luft und wirft einen Krümel nach ihm. »Das stimmt gar nicht!«, protestiert sie und verschränkt die Arme vor der Brust. »Und jetzt zischt ab! Sonst hackt Mr. Garcia euch noch die Köpfe ab oder so.«