Er schmunzelt, als hätte er bemerkt, wie sehr mich seine Worte aus der Fassung gebracht haben. Oder ist es die Röte auf den Wangen, die mich verrät?

„Das weiß ich. Aber vielleicht würdest du dich besser fühlen, wenn du darüber redest."

Mit darüber meint er gewiss meine überstürzte Flucht aus dem Salon, als ich den kleinen Avoxjungen gesehen habe. Wieder bahnt sich der Schmerz seinen Weg durch meine eiserne Wand, die ich mir mühsam errichtet habe. Tränen brennen mir in den Augen. Ein fremdes Gefühl, das längst der Vergangenheit angehörte.

Ja, vielleicht bin ich wirklich lange stark gewesen und ja, vielleicht würde es mir gut tun mit jemanden darüber zu reden. Aber ...

„Warum sollte ich dir davon erzählen?" Mein Blick wandert von seinen lässig übereinander geschlagenen Beinen zu seinem muskulösen Oberkörper, der sich auch noch unter seiner schwarzen Trainingsjacke abzeichnet. Sein ganzer Körper strahlt Kraft aus, doch sein Gesichtsausdruck spiegelt etwas wider, das ich noch nie an dem Schönling aus Distrikt 4 gesehen habe. Eine gebrochene Seele gefangen in dem weiten Ozean seiner meeresgrünen Augen.

Er hält meinen Blick stand, als er wispert : „Vielleicht, weil ich weiß, wie es ist jemanden verloren zu haben."

Dann, ohne eines weiteren, erhebt er sich und wendet sich dem Gehen zu, doch noch bevor er die Tür erreichen kann, sprudeln die Worte schon unaufhaltsam aus mir raus.

„Ich habe meine Eltern schon früh verloren. Sie starben, als wir noch ziemlich jung waren. Ich und mein Bruder. Er war sechs und ich 12. Wir zogen zu meinem Onkel, den einzigen Verwandten, den wir noch hatten. Ein jämmerlicher Kerl, war grausam und hat gestunken wie ein Fass Bier. Ich habe jedoch ohne Widerwillen alles getan, was er von mir verlangt hat. Doch ich schwor mir noch am ersten Tag, es ihm irgendwann alles heimzuzahlen.

Als dann mein Name bei der Ernte aufgerufen wurde, setzte ich meine Strategie des harmlosen Mädchens fort, zähmte den Sturm, der in mir Wurzeln geschlagen hatte. Mein Plan ging auf und ich gewann die Spiele. Ich wollte es allen zeigen, es ihnen heimzahlen, was sie aus mir gemacht haben."

Heiße Tränen rinnen über meine Wangen. Doch Odair sitzt einfach nur ruhig da und wartet, bis ich meine Geschichte fortsetze. Und jetzt, wo der Damm gebrochen ist, schlagen meine Gefühle wie eine Welle über mich zusammen und drängen mich weiterzureden.

„Er hat ihn verkauft an das Kapitol, als Druckmittel, damit sie mich vor den Kameras bändigen können für die Tour der Sieger. Und da ich alles für meinen kleinen Bruder getan hätte, spielte ich Snow's Spielchen mit..." Ich machte eine kurze Pause um tief Luft zu holen.

„Doch einmal habe ich meine Fassung verloren, als sie einen Rebellen vor meinen Augen ausgepeitscht haben und dafür haben sie mir das einzige genommen, was ich noch hatte. Und als ich heute den Avoxjungen gesehen habe..."

Ich brauche nicht weitersprechen. Ich brauche nicht sagen, dass das Aussehen des Jungen mich unwillkürlich an meinen kleinen Bruder erinnerte, der ebenfalls von kleiner und zerbrechlicher Statur war. Ich brauche nicht sagen, dass sich sowohl Angst und Leere in den Augen des Jungen widerspiegelten, die ich auch in den Augen meines Bruders gesehen habe, als sie ihm eine Kugel in den Kopf jagten ... Die unausgesprochenen Worte hängen in der Luft.

Dann spüre ich kaum merklich hitzige Finger, die sanft mein Kinn anheben, damit ich ihm direkt in die Augen blicke, die mich freundlich hinter den angesammelten Tränen anlächeln. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als sich sein Gesicht nähert. Bevor ich begreife, was er vorhat, legen sich seine Lippen behutsam auf meine. Es ist kein leidenschaftlicher Kuss, mehr ein Hauch einer sanften Meeresbrise, die einen salzigen Geschmack auf meine Lippen zurücklässt.

Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich meine benebelten Gedanken wieder sortieren kann und ich mir ins Bewusstsein zurückrufe, was gerade passiert ist. Ich weiß nicht, ob mir das behagen soll.

Einerseits spüre ich das Kribbeln in meinen Fingern ihn zu ohrfeigen, dass er mich in meinem schwachen Moment ausgenutzt hat. Andererseits ... Ich wische mir die Tränen fort, als ich mich aufrichte und zur Tür stolziere.

„Okay Finnick, denk jetzt nicht ... dass du irgendwas ... bei mir erreicht hast. "

„Hey Johanna"

Ich drehe mich ein letztes Mal zu ihm um und hoffe, dass die Röte aus meinem Gesicht gewichen ist.

Dann sagt er mit einem breiten Grinsen, wieder ganz er selbst: „Du hast mich zum ersten Mal bei meinem Namen genannt. Wir machen Fortschritte. Vielleicht -"

„Vergiss das Vielleicht", sage ich bevor ich aus den Gang hinaustrete um das Weite zu suchen.

~ ~~

Vielleicht, hatte er gesagt. Und Vielleicht, hatte er recht behalten, denn vielleicht habe ich nie einen Menschen so sehr geliebt wie Finnick Odair.

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Dankeschön, dass du sie dir durchgelesen hast :)

Johanna Mason & Finnick Odair - VielleichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt