Herz gegen Leben

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Gedankenverloren schritt sie durch den Wald, es sah aus, als würde es schneien. Ihr Winterzauber im Frühling. Hier war sie Zuhause und fühlte sich endlich angekommen, als würde sie mit dem zarten Grün verschmelzen. Dabei roch es nach feuchtem Moos, modrig und satt. Die ersten Sonnenstrahlen erwärmten die Erde und der Dunst der Aufstieg, machte die Luft feucht und schwer. Sie atmete tief ein und nahm auch den Duft der Blüten wahr, die um sie herum schneiten. Sie konnte die Kirschbäume noch nicht sehen und doch zogen die Blütenblätter, wie riesige und sehr einsame Schneeflocken durch den Wald. Mila nahm ihre offenen Haare über die Schulter und klaubte die verlorenen Blätter zusammen. Egal wie schnell sie pflückte, sie kam nicht ach. Wie bei Riku und unserem Haus, dachte sie.

Leise und auf ihre Schritte bedacht, schlich sie zu der Lichtung, auf der die Kirschbäume wuchsen. Sie verkroch sich ganz am Rand zwischen dicken alten Wurzeln und frischem Laub, so konnte das Wild sie kaum riechen. Den Pfeil legte sie auf die Sehne und den Bogen hatte sie schussbereit, aber noch nicht erhoben oder gespannt.

Die meiste Zeit beim Jagen verbrachte sie damit, zu warten. Als ihr Fuß einschlief, wusste sie, dass sie schon zu lange in einer Position verharrt hatte, aber da hörte sie es schon rascheln.

Langsam hob sie den Pfeil an, den Bogen noch immer nicht gespannt, aber sie suchte, die umliegenden Büsche ab. Auf dem hinteren Teil der Lichtung, zwischen den alten knorrigen Bäumen, die kaum noch Blätter und Blüten trugen, trat ein helles Tier heraus. Der Moment zwischen dem Spannen des Bogens und der, wenn Mila ihr ziel ins Visier nahm bis zum Schuss, da starb etwas in ihrem Herzen. Jedes Mal traf sie die Entscheidung gegen sich selbst und für ihr Leben, es war ein Kampf, den sie niemals gewinnen konnte.

Das Tier war fast weiß, aber irgendwie sah es schmutzig aus. Mila kniff die Augen zusammen, sie wusste, was sie dort sah, aber ihr Verstand konnte es nicht begreifen.

Es war ein Nebelfuchs, der einem Schmetterling nachjagte. Ein Nebelfuchs.

Das konnte nicht sein.

Mila erinnerte sich an die Geschichten und Legenden über die Wächter des Waldes. Ihr Vater hatte sie ihr, als kleines Kind gerne erzählt. Sie waren gütig, aber sie waren es auch, die für jede Gabe einen Tribut forderten. In ihrer Funktion als Wächter waren sie gnadenlos. Es gab schon seit Jahrzehnten keine Füchse mehr und in diesem Teil des Waldes hatte es noch nie weiße Füchse gegeben, auch keine grauen Füchse. Aber ein Nebelfuchs hatte weder graues noch weißes Fell. Es schimmerte bläulich und erinnerte Mila an die bewölkten Tage, an denen die Sonne mit aller Kraft durch die Wolken schien, sodass man immer die Augen zusammenkneifen musste. Nur seine Pfoten, die Spitze seines Schwanzes und der Ohren waren dunkel wie die Nacht. Starker Wind kam auf und blies ihr die Haare ins Gesicht, aber Mila bewegte sich nicht. Sie atmete ganz flach und langsam spannte sie den Bogen. Ein Meer aus weißen Kirschblüten spülte über die Lichtung und der Nebelfuchs hielt in der Bewegung inne.

Mila konnte ihn genau sehen, wie er die kleine schwarze Nase in den Wind hielt, seine ebenfalls dunklen Tasthaare und schnupperte. Der Nebelfuchs stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief, er schaute in Milas Richtung. Nein, er schaute direkt in Milas Augen. Nun war Mila sich absolut sicher, dass das kein normales Tier war. Der Fuchs hatte tiefblaue Augen, sie konnte keine Iris oder Pupille sehen, alles war blau bis auf die hellen Lichtpunkte darin. Wie eine sternenklare Nacht, dachte Mila bei sich. Eigentlich war es unmöglich, dass sie all die Details über diese Entfernung wahrnehmen konnte. Mila sah einen Wächter. Nein, eine Wächterin. Diese Erkenntnis flutete ihr Hirn einen Moment zu spät. Sie kniff die Augen zusammen und schoss ...

Als Mila die Augen wieder öffnete, war es Nacht. Der Mond beschien die herab fallenden Blütenblätter, die wirkten, als wären sie lumineszierend wie Glühwürmchen. Mila hörte, wie die Blätter raschelten, sich das Blütenblatt löste und zu Boden segelte. Sie hörte sie alle. Plopp, plopp, plopp ...

Sie setzte sich und legte den Kopf schief, als die Erinnerung und die Scham über sie herfielen. Sie hatte auf die Wächterin des Waldes geschossen. Sie wollte das nicht, aber würde das Fell einer Nebelfüchsin nicht alle ihre Probleme lösen? Sie könnte mit ihrem Bruder und ihrer Mutter ein neues Haus beziehen. Riku könnte seine Freundin mitnehmen, wenn er wollte. Sie hätten immer Essen und Mila müsste nicht mehr jagen.

Und vor allem wäre sie nicht allein. Sie fürchtete sich davor, allein zu sein. Aber das rechtfertigte nicht, dass sie dieses kleine Wesen verletzt hatte. Etwas blitzte hinter ihr auf und sie drehte sich herum, als sie über ihre eigenen Pfoten stolperte. Ihr Blick glitt an ihrem Fell hinab und blieb an ihrer dunkeln Blume hängen. Jetzt war Mila verrückt geworden. In ihrem Dorf gab ein Haus für Verrückte. Riku wollte ihre Mutter schon seit Monaten dorthin bringen, aber Mila wollte das nicht. Sie wollte nicht, dass es alle wussten, dass ihre Mutter verrückt war. Sie wollte den Schein wahren und der Preis dafür war, dass sie nun für immer alleine war. Vermutlich hatte sie die Wächterin nicht getroffen und nun musste sie auch keine Angst mehr haben allein zu sein. In dem Haus teilte man sich sogar das Zimmer, es gab nur ein Bad auf dem Flur und einen großen Speisesaal. Als ihr Vater noch Zuhause war, ging Mila manchmal in das Haus um den Menschen vorzulesen. Nun konnte sie selbst einziehen. Sie schaute wieder an sich herab, aber sie hatte immer noch Fell.

Der Mond scheint so silbern, dass es fast taghell war. Mila sprang auf ihre Pfoten und lief hinunter zum Fluss. Obwohl sie davon ausging, dass sie ihren Verstand verloren hatte, Erstaunte es sie, wie schnell ihre Pfoten sie trugen. Der Wald flog an ihr vorbei und sie konnte alles hören, wie ihre Pfoten auf den feuchten Erdboden aufschlugen, die Tiere, die davon huschten und sogar den Flügelschlag der Nachtfalter. Sie roch nicht nur die feuchte Erde, der Duft der schlafenden Blumen und des Wassers kitzelten in ihrer Nase.

Sie nahm den Geruch von Menschen und Tieren wahr, die den Wald schon lange wieder verlassen hatten und in ihren Betten schliefen. Sie spürte den Wald in jeder Zelle ihres Körpers, sie schmeckte den Wald auf ihrer Zunge und ihre Tasthaare zuckten.

Als sie am Wasser ankam, war sie nicht erschöpft, sie war glücklich und fühlte sich frei. Und halt etwas verrückt. Der Mond spiegelte sich groß und rund im Wasser.

Gestern oder ein paar Tage zuvor schien Vollmond gewesen zu sein. Vorsichtig trat Mila an das Wasser heran, sie fürchtete sich davor, was sich im Wasser spiegeln könnte. Zaghaft beugte sie sich über den improvisierten Spiegel und sah einen Nebelfuchs. Sie beugte sich tiefer hinab und sah die großen Ohren, die dunklen Augen ohne Kontur. Plötzlich schlug sie mit all ihrer Pfote auf das Wasser, ihr Spiegelbild löste sich auf und sie starrte auf die Wellen, bis sich das Wasser wieder beruhigte. Sie war noch immer das Abbild einer Wächterin. Oder war sie nun eine Wächterin? War sie vielleicht nie ein Mensch gewesen, sondern nur ein Fuchs, der durchdrehte. Ihr Kopf brummte vor ungedachten Möglichkeiten und sie fühlte sich überfordert. Schnaubend legte sie sich ins Gras am Ufer. Dort lag sie bis zum Morgengrauen, sie bewegte sich nicht und atmete den Wald. Mit jedem Atemzug fühlte sie sich mehr mit den Bäumen, der Erde und dem Wind, der durch den Wald streifte, verbunden. Sie spürte jede Energie und alles um sie herum lebte. Sie war die Wächterin, etwas hatte einen Wandel herbei geführt. Sie musste einen Weg zurückfinden. Sie konnte kein Fuchs sein oder bleiben, besonders kein Nebelfuchs. Die Verantwortung dieser neuen Rolle lastete wie eine dunkle Regenwolke über ihrem Kopf. Außerdem würde ihre Familie sie suchen, davon abgesehen war das alles zu verrückt. Wer würde sie schon suchen? Ihre Mutter? Das war lächerlich. Aber Riku würde sie suchen und wenn er sie nicht fand, machte er sich schlimmer Sorgen. Oder? Unter der erdrückenden Last ihrer Sorgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Aber als sie erwachte, war sie noch immer die Wächterin des Waldes. Mila wusste nicht, wie sie das, was passiert war, rückgängig machen konnte. So lief sie wieder zurück zur Lichtung. Sie konnte nicht um Hilfe rufen, also nutzte sie ihre neuen Sinne. Besonders ihre Ohren und ihre Nase waren nun deutlich besser als vorher. Sie schnupperte, aber sie konnte nichts entdecken. Es gab keine Fährten, die ihr hätten helfen können, weil sie nicht wusste, was sie suchte. Also lief sie tiefer in den Wald hinein, so weit war sie als Mensch nie gekommen. Der Wald wurde immer dichter und wilder, an manchen Stellen kam sie kaum durch das Dickicht. Kletten hingen in ihrem Fell, sie war schmutzig und sie hatte Hunger, weil sie nicht wusste, was sie essen konnte. Sie wollte keine Maus jagen und bei lebendigem Leibe fressen, das fühlte sich falsch an. Anderen Tieren ging sie aus dem Weg. Sie fragte sich, ob man sie Zuhause schon suchen würde und ob sie überhaupt jemandem fehlte.

NebelfüchsinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt