8| Elody

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Mit einem kurzen Aufatmen löse ich meine schmerzenden Hände. Kurz darauf wird mein Kopf kräftig durchgeschüttelt, während meine Füße eine schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Boden haben. Stöhnend lege ich meinen Kopf in den Nacken, als die Schmerzen an meiner Schläfe wieder einsetzen. Vor mir erstrecken sich die sechs Stockwerke, die Mara und Mark erklommen sind. Darüber kann man ein paar vereinzelte Sterne erkennen, die den Nachthimmel erhellen.

„Langsamer ging es echt nicht, oder?", begrüßt mich Dennis missmutig.
Bevor ich zu einer Antwort ansetzen kann, lässt sich Mara neben mir zu Boden fallen. „Sagt der, der gar nicht erst mit ist", keucht sie. Ihr Zopf hat sich durch den Weg nach unten gelöst, sodass ihre rötlichen Locken wild in alle Richtungen abstehen. Außerhalb der Halle kam sie mir sympathisch vor, schließlich haben wir uns gegenseitig beim Klettern geholfen, doch jetzt meine ich schon wieder dieses bösartige Funkeln in ihren Augen zu erkennen.
Schnell drehe ich mich zur Seite. Lynn und der blonde, sommersprossige Junge, ich meine den Namen Luke aufgeschnappt zu haben, blicken sich verunsichert um. Die beiden sind erst eingetroffen, als Mara, Mark und ich schon fast wieder unten waren. Kurz hatte ich Zweifel, ob dies daran liegt, dass sie die Nachrichten auf den Uhren versendet haben, aber erstens waren beide anwesend, als die allerersten Nachrichten gesendet wurden und zweitens könnte man die Verzweiflung, die ich von ihren Gesichtern ablesen kann, nicht fälschen: Sie sind mit den Nerven vollkommen am Ende. Kein Wunder, schließlich weiß niemand, was im Fall einer Niederlage geschieht.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie sich Mark vom Gerüst schwingt. An seinem breiten, entspannten Grinsen kann man erkennen, dass das für ihn alles nur ein kurzer Ausflug auf ein Dach gewesen zu sein scheint. Gott, ich wäre gern so sportlich und geschickt wie er.
Da an meinen Armen keine plötzlichen Muskeln auftauchen, nehme ich an, dass Gott sich heute anscheinend freigenommen hat oder schlicht und ergreifend keine Lust auf mich hat. Wofür habe ich mich eigentlich konformieren lassen? Schuldbewusst wende ich mich wieder den anderen zu. Wenn meine Eltern wüssten, wie oft und gerne ich Späße auf Kosten von Gott mache, sie würden mir glatt mein Armband, dass sie mir damals nach dem Gottesdienst schenkten, abnehmen und mich in ein Kloster stecken.
Meine Finger tasten nach dem silbernen Schmuckstück, dass die Kletterpartie glücklicherweise überstanden hat, während ich die anderen mustere. Nun sind wir alle versammelt, könnten fast als Gruppe von Freunden durchgehen. Ich verspüre den Drang nach Hause zu gehen mehr denn je.
„Was jetzt?", schallt Marks Stimme durch die Nacht. Sie ist erstaunlich sanft und verständnisvoll. „Meint ihr, wie dürfen gehen?"
Schulterzucken und ein leises Raunen als Antwort. Ein paar von uns blicken verunsichert auf die Uhren. Keine neue Nachricht.
„Ich denke wir sind durch...zumindest für heute Nacht", meint Dennis stirnrunzelnd, was sein Muttermal seltsam verformt. Auch er klingt weniger feindselig. Vermutlich schweißt das alles uns einfach zusammen.
„Also ich gehe jetzt"
...Oder auch nicht.
Still beobachte ich, wie Mara sich in Bewegung setzt.
Nach einem kurzen Moment des Zögerns trotten wir ihr hinterher.
Keiner möchte hier länger als nötig bleiben.

***

Erschöpft lasse ich mich auf die harte Bank fallen und presse meine Hände an das kühle Metall unter mir. Jetzt, wo ich vorerst alleine bin und die anderen nicht mehr misstrauisch mustern kann, spüre ich, dass der Schock immer noch in meinen Gliedern sitzt.
Ich hätte sterben können.
„Ja, das hättest du", ertönt plötzlich eine Stimme neben mir. Verdammt, habe ich das laut gesagt?
Erschrocken blicke ich auf, sehe in zwei blaue Augen, die hinter einen Vorhang aus unordentlichen schwarzen Haaren versteckt sind. Ich habe gar nicht gehört, das Dennis von seiner Erkundungstour zurückgekommen ist. „Und?", frage ich und blicke auf meine roten Schuhe.
„Nur die eine Bahn. Wenn wir die verpassen, sitzen wir bis morgen, fünf Uhr hier."
„Immerhin", murmle ich und mustere Dennis vorsichtig von der Seite. Jetzt wo ich weiß, dass er in meiner Nähe wohnt und sogar auf meine Schule geht, tauchen Erinnerungen an ihn auf, so als hätte ich nur diesen Auslöser gebraucht. Ich bin mir inzwischen sogar ziemlich sicher, ihn erst letzte Woche an der Essensausgabe gesehen zu haben. Es ist absurd, dass ich ihn erst jetzt erkannt habe, jedoch gibt es gleichzeitig ein paar logische Erklärungen dafür: Die Schule ist riesig und ich bin schließlich erst vor eineinhalb Jahren hierhergewechselt. Außerdem hat Dennis mir eröffnet, dass er kurz vor seinem Abschluss steht, womit er ein Jahrgang über mir ist.
„Gehst du morgen? In die Schule meine ich", frage ich. Zwar mag ich seine griesgrämige Art nicht, jedoch beruhigt es mich irgendwie zu wissen, dass jemand in meinem unmittelbaren Umfeld dasselbe durchmacht. „Muss vermutlich", murmelt er und saugt die Nachtluft scharf ein,
"Wenn ich noch ein Stunde Chemie verpasse lässt Hofmann mich durchfallen."
"Du hast den auch?", grinse ich. Herr Hofmann ist an unserer Schule ziemlich bekannt, da er dort immer seinen zwei Lieblingsbeschäftigungen nachgeht: Heimlich rauchen und Schüler demütigen. Früher mochte ich Chemie eigentlich ganz gerne, aber nun hat der Unterricht immer einen bitteren Beigeschmack, da man für jedes falsche Wort angeschrien werden könnte.
"Ja, er ist wundervoll, nicht wahr?", lacht Dennis kurz. "Ich muss Mal kurz etwas holen", imitiert er Hofmann anschließend ziemlich gut. Jeder, wirklich jeder Schüler weiß, dass er in den fünf Minuten, die er weg ist, mindestens die Hälfte der Zeit raucht.
Ein leises Kichern entweicht mir. Vielleicht ist Dennis ein unhöflicher Idiot, aber immerhin kann er ganz lustig sein. Und seine Schauspielkünste sind auch nicht schlecht.
"Wollen wir vielleicht...", setze ich an, verstumme jedoch, als wir von grellen Lichtern geblendet werden. Ohne das meine Lippen ein weiteres Wort verlässt beobachte ich, wie der Junge sich aus seiner zusammengekauerten Haltung erhebt und auf den Bahnsteig zugeht, wo die Bahn mit quietschenden Bremsen stehenbleibt. Zwei zwielichtige Gestalten torkeln heraus. Schnell folge ich Dennis, bevor ich alleine hier zurückbleibe und nach Hause laufen muss.

Spiel oder StirbWhere stories live. Discover now