Kapitel 19

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Der Hafen von New York war beinahe gespenstisch still, als Michaela auf einem der betonierten Stege landete. Raschelnd ordnete sie die bronzefarbenen Flügel auf ihrem Rücken. Der Himmel war grau, würde sich aber innerhalb der nächsten halben Stunde in den Farben des Sonnenaufgangs verfärben. Als Erzengel hatte sie nicht die Zeit sich ein solches Naturschauspiel in seiner vollen Pracht anzusehen, auch nicht an diesem Tag.

Ein Schatten löste sich von einem der Boote. Die Anwesenheit des geborenen Jägers war Teil des Plans. „Lady Michaela, es freut mich Euch wiederzusehen", grüßte Ransom den weiblichen Erzengel. Um seinen Hals baumelte eine Spiegelreflexkamera. Bestimmt war es nur eine Attrappe und der Gildenjäger bis auf die Zähne bewaffnet.

„Du wirst dich versteckt halten?", erkundigte sich Michaela ohne sich zu ihm umzudrehen. „Wenn Euer Verehrer sehr vorsichtig ist, werde ich zur vereinbarten Zeit einen filmreifen Auftritt als Fotograf hinlegen und mich als potentielles Opfer anbieten", bestätigte der Jäger mit einem Nicken, bevor er wieder mit dem Schatten verschmolz.

Ransom war Teil ihrer Tarnung. Offiziell traf sich Michaela an diesem Morgen mit einem New Yorker Fotografen, der die schönste Frau der Welt vor der Kulisse der Skyline beim Fliegen ablichten wollte. Da ihr Verehrer sein Ziel ausgezeichnet zu kennen schien, würde er wissen, dass sie sich vorab ansehen würde, worauf sie sich einließ. Nie hätte sie eine solche Situation in die Hände eines Sterblichen gelegt.

Neben dem geborenen Jäger hatten sich auch Sara, Illium, Elena, Raphael und Dariel in der näheren Umgebung unsichtbar gemacht. Bei ihrer Landung hatte Michaela die blauen Flügel des Kriegers aus dem Kreis der Sieben weit über sich am Himmel entdeckt. Für jeden Außenstehenden drehte er eine Runde seines Kontrollflugs über New York. Illium war derart flink, dass es nicht hinderlich war, wenn er sich während der Mission immer wieder in Schlaufen von ihr weg und auf sie zu bewegte.

Sara Haziz hatte sich bewaffnet mit einer Armbrust auf einem der Dächer verschanzt. Dies geschah sehr zum Missfallen von Raphaels Gemahlin, denn diese fand, dass sich ihre Freundin damit zu nahe an der Schusslinie aufhielt. Natürlich war Sara eine ausgezeichnete Jägerin und mehr als tödlich, doch Michaela konnte Elenas Sorge nachvollziehen. Während Ransom lediglich ein Gildenjäger und als solcher bestimmt ausgesprochen wertvoll war, handelte es sich bei der zierlichen Frau um die Direktorin der Gilde. Sie war das Herz und die Seele dieses wilden Haufens, wenn sie verletzt wurde, würde das die Jägerschaft hart treffen.

Bist du bereit, Mika? Dariels Stimme drängte sich in Michaelas Kopf. Seit dem vergangenen Tag hatte sie alle Versuch, ihn auszuschließen, eingestellt. Der Fährtensucher hätte ohnehin einen Weg gefunden, um sich durch ihre Schilde zu zwängen. Auch in diesem Moment hatte sie den Geruch nach Regen in der Nase, während dunkle Wolken in ihren Gedanken aufzogen. Ich bin bereit.











Dariel gab die Antwort des weiblichen Erzengels an seinen Sire weiter. Raphael stand neben ihm auf dem Dach eines Hochhauses. Sie waren weit genug entfernt, um von Michaelas Verehrer nicht entdeckt zu werden und doch nah genug am Geschehen, um im Bruchteil einer Sekunde eingreifen zu können.

Sollte es sich bei dem Engel um einen aus Raphaels Reihen handeln, würde er das Urteil vollstrecken. Auf diese Lösung hatten sich die beiden Erzengel am vergangenen Tag geeinigt. Obwohl seine Gemahlin es nicht mochte, wenn er kalt und grausam wurde, war es Elena gewesen, die Raphael gesagt hatte, dass er diesmal keine Gnade walten lassen durfte. Das hätte er ohnehin nicht getan, denn dieser Engel hatte ein uraltes Gesetz gebrochen. Ein Gesetz, das zum Schutz der Schwachen und Gebrechlichen aufgestellt worden war.

Die saphirblauen Augen des Erzengels ruhten auf seinem Fährtensucher. Dariel hatte sich in den letzten Jahren entwickelt. Aus einem übermütigen, jungen Engel war ein starker und loyaler Krieger geworden. Der beste Fährtensucher, den Raphael jemals gesehen hatte. Noch nie hatte das Gewitterwölkchen eine Aufgabe nicht zu Ende gebracht. Er fand alles und jeden. Auch Dariel musste dabei manchmal gnadenlos werden. Mehr als einen Engel hatte er bereits im Namen seines Sires gerichtet und doch war er immer noch von dieser Welt.

Raphael folgte dem Blick der türkisblauen Augen. Michaela. Es wunderte ihn nicht, dass sein Fährtensucher wie hypnotisiert zu dem weiblichen Erzengel sah. Sie war wunderschön und mindestens genauso gefährlich. Auch an diesem Tag war Michaela der Inbegriff von Perfektion.

Die langen schwarzen Haare mit Strähnen aus unterschiedlichen Brauntönen und Kupfer fielen in sanften Wellen offen über ihre Schultern bis zu ihrer Taille. Ihr wohlgeformter Körper steckte in maßgeschneiderter Kleidung, die zwar alles verbarg und doch jede Kurve hervorhob. Das Oberteil ließ den Rücken frei und wurde nur von dünnen Bändern gehalten. Jede Spur des blauen Engelsstaubs war von ihren bronzefarbenen Flügeln verschwunden.

„Sie ist wirklich schön, aber ihr Herz ist nicht sterblich, Dariel." So offen sprach Raphael nur mit wenigen, doch er wusste, dass der Fährtensucher ihm genug vertraute, um sich dadurch nicht angegriffen zu fühlen. „Sire?" Ein Lächeln schlich sich auf die Lippen des Erzengels: „Um dich ahnungslos zu geben ist es etwas spät, mein Freund. Alle konnten den blauen Engelsstaub auf ihren Flügeln sehen."

Es raschelte, als Dariel seine Gewitterwolken-Flügel neu sortierte. „Sie ist vielleicht nicht sterblich, aber sie ist auch nicht kalt wie viele andere mächtige Wesen. Ihr Herz schlägt noch", antwortete der Fährtensucher ohne den Blick von Michaela abzuwenden. „Sie ist ein Erzengel", erinnerte Raphael seinen Freund, während er die Hände hinter dem Rücken verschränkte. „Das seid Ihr auch, Sire."

Der Fährtensucher hatte recht. Auch Raphael war seit Jahrhunderten ein Mitglied im Kader der Zehn. Bevor eine grauäugige Jägerin in sein Leben getreten war, war er noch weiter von der Menschlichkeit entfernt gewesen als Michaela. Dieses Risiko brachte die Kraft eines Erzengels mit sich. Mächtiger und unsterblicher zu sein als alle anderen Engel konnte einen aus dem wahren Leben reißen. Wenn man nicht achtsam war, verlor man sich in dieser Versuchung. Die Geschichte des Kaders hatte dies unumstößlich bewiesen.

„Wir werden darüber sprechen müssen, habe ich recht?", wollte Raphael wissen, sein Blick kehrte zu dem Engel neben ihm zurück. „Nicht heute und nicht hier", entschied Dariel. Türkisblau traf auf Saphirblau. Nur wenige Engel waren in der Lage dazu den Blick eines Erzengels zu erwidern. Schweigend nickte Raphael: „Wenn die Zeit gekommen ist."

Kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, löste sich der Erzengel von New York im Nichts auf. Sein Zauber versteckte ihn vor der Welt. Niemand würde ahnen, dass dieses tödliche Wesen ganz in der Nähe auf der Lauer lag. Selbst Michaela war nicht in der Lage Raphael in diesem Zustand aufzuspüren, doch Dariel fühlte, wie sich sein Sire in den Himmel erhob.

Wie von selbst glitt sein Blick zurück zu ihr. Michaela stand weiterhin mit dem Rücken zu ihm am Ende des Steges. Langsam aber doch kroch die Morgenröte den Himmel empor. Wenn Dariel sich nicht verschätzte, würde Michaelas Verehrer jeden Moment erscheinen. Zeit, ihm ein Ende zu bereiten.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now