Kapitel 17

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Anmutig und beinahe lautlos landete Michaela Seite an Seite mit Dariel auf dem Rasen vor Elena und Raphael. Der Herrscher von New York hatte immer noch seine Arme um die Jägerin gelegt, doch sein schönes Gesicht zeigte keine Regung. Er war ein Erzengel durch und durch. Dennoch war die Liebe zwischen ihm und seiner Gemahlin nicht zu übersehen. Für Elena war er ein kleines Bisschen sterblich geworden und es störte ihn nicht, dass die anderen Mitglieder des Kaders davon wussten.

„Raphael", begrüßte Michaela ihr Gegenüber mit dem strahlenden Lächeln, das sie sich für Auftritte in der Öffentlichkeit angeeignet hatte. „Michaela", der Erzengel von New York klang höflich und doch distanziert. Ganz anders als wenn er mit seiner Jägerin alleine war. Die hellgrünen Augen huschten weiter zu Raphaels Gemahlin: „Gildenjägerin."

„Lady Michaela." Elena hatte große Mühe, den Blick auf das schöne Gesicht zu richten. Viel lieber hätte sie offen die bronzefarbenen Flügel angestarrt, denn nun war es nicht mehr zu übersehen. Beinahe überall glitzerte es blau. Es war unmöglich, dass es der anderen Frau nicht aufgefallen war. Entweder störte sich die Königin von Konstantinopel nicht daran oder sie trug ihre neueste Eroberung absichtlich offen zur Schau. Die Zähne der Jägerin knirschten leise. Der Gedanke, dass Dariel dem weiblichen Erzengel ins Netz gegangen war, missfiel ihr.

„Danke, dass Ihr uns empfangt, Sire", brach der Fährtensucher das aufkommende Schweigen. Zu sehen, wie offen Raphael seine Gemahlin berührte, weckte in ihm das Verlangen die bronzefarbenen Flügel neben ihm zu streicheln. Dass Michaela diese Berührungen zuließ, wenn sie alleine waren, bedeutete nicht, dass sie es auch in der Gegenwart anderer gestattete. So behielt Dariel seine Finger für sich und begnügte sich mit dem Wissen, dass Elena immer wieder verstohlene Blicke auf die Schwingen des weiblichen Erzengels warf.

„Lasst uns beim Frühstück darüber sprechen, weswegen ihr hier seid", schlug Raphael vor und löste sich von seiner Gefährtin. Mit einer einladenden Geste deutete er auf den reichlich gedeckten Tisch auf der Terrasse seines Anwesens. Während sich der Erzengel und sein Fährtensucher sofort in Bewegung setzten, zögerte Michaela für einen Augenblick.

Diese Stadt und dieser Kontinent waren sein Zuhause. Dariel schätze seinen Sire und Raphael brachte dem jüngeren Engel großen Respekt entgegen. Es war kein Vertrag, der den Fährtensucher an den anderen Erzengel band. Sie waren Freunde, stellte Michaela überrascht fest. Viel härter traf sie jedoch die Erkenntnis, dass sie sich in dieser Konstellation wie ein Eindringling fühlte.

Elena bemerkte das Zögern des weiblichen Erzengels, genauso wie den Schatten, der sich für eine Sekunde über ihre hellgrünen Augen legte. So hatte sie die Hohepriesterin von Byzanz bisher nie gesehen. Für diesen kurzen Moment war sie nicht perfekt und das machte Michaela nur noch schöner. „Kommt, Lady Michaela, wenn wir uns nicht beeilen ist bestimmt alles aufgegessen, bevor wir den Tisch erreicht haben."

Die Stimme der Jägerin riss den Erzengel von Zentraleuropa zurück in die Realität. Ihre Flügel raschelten leise, als sie diese neu sortierte. Der Schatten war verschwunden. Nichts erinnerte daran, dass Michaela etwas anderes war als perfekt. Ohne auf ein Gespräch mit der Gildenjägerin einzugehen folgte sie den beiden Männern.

Kopfschüttelnd musterte Elena die andere Frau. Aus Michaela würde sie wohl niemals schlau werden. Genauso wenig würden sie jemals Freunde werden. Erst recht nicht, wenn der weibliche Erzengel das Gewitterwölkchen verletzte. Die Jägerin fand, dass die Herrscherin über Budapest diese Tatsache wissen sollte.

„Blau steht Euch gut, allerdings solltet Ihr es nur tragen, wenn es Euch wirklich ernst mit ihm ist", murmelte Raphaels Gefährtin, kurz bevor Michaela außer Hörweite war. Beinahe wäre diese gestolpert, doch ihre jahrelange Erfahrung hielt sie aufrecht. Die bronzefarbenen Flügel streckten sich kurz, bevor sie in perfekter Haltung am Rücken anlagen. Bestimmt wusste die Jägerin, dass der weibliche Erzengel sie gehört hatte.

An Dariels Seite nahm Michaela am Frühstückstisch Platz. In ihrem Kopf braute sich eine Gewitterwolke zusammen. Ob Elena wohl genauso in Raphaels Kopf ein und ausging, wie der Fährtensucher in dem ihren? Wie es wohl sein würde, wenn er wieder verschwunden war? Ob sie die Stille ertragen konnte?

Kaum hatten sich alle gesetzt, trat Montgomery auf sie zu und schenkte Kaffee ein. Es wunderte den weiblichen Erzengel nicht, dass er sie nicht nach ihren Vorlieben fragte. Dieser Vampir wusste alles über jeden, der jemals im Territorium seines Sires zu Gast gewesen war. Lautlos zog sich der Butler nach vollendeter Tätigkeit wieder zurück.

Zähneknirschend wollte Elena ihrer Rolle als Gemahlin nachkommen und Michaela die Schale mit dem Gebäck reichen, als Dariel bereits nach den Mehlspeisen griff und dem weiblichen Erzengel ein Schokoladencroissant auf den Teller legte. Für einen Herzschlag spannte sich jeder Muskel der Gildenjägerin an. Alles in ihr rechnete damit, dass die andere Frau den Fährtensucher zurechtweisen würde, doch nichts geschah.

Rosen und Honig breiteten sich allumfassend in seinem Kopf aus. Tu das nicht, Dariel. Ihre Stimme war schneidend. Ich kann nicht zulassen, dass du mich umsorgst, während ein anderes Mitglied des Kaders anwesend ist. Ich bin immer noch ein Erzengel. Dieses Recht kann ich dir nicht zugestehen. Bronzefarbene Funken ihrer Macht tanzten an den unteren Rändern ihrer Flügel so, dass nur er sie sehen konnte.

Statt auf die Zurechtweisung zu reagieren überging Dariel sie einfach und begann mit seinem Bericht: „In den letzten Tagen konnte ich ausreichend Informationen zu Lady Michaelas heimlichem Verehrer zusammengetragen. Der Engel nähert sich Euch nur, wenn Ihr alleine seid. Er muss Euch genau beobachten und Euch gut kennen, um die passenden Orte auswählen zu können. Das können wir uns zunutze machen."

Alle Augen ruhten auf Dariel. „Du willst ihm eine Falle stellen", sprach Elena aus, was die anderen dachten. Sie war eine Jägerin. Ihr Verstand arbeitete ähnlich dem des Fährtensuchers. Mit einem Nicken stimmte er ihr zu: „Wir streuen das Gerücht, dass Ihr Euch an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aufhalten werdet. Wenn wir subtil genug damit umgehen, wird er sich zeigen. Zwischen den Opfern lagen nie zu große Abstände. Er will Eure Beachtung. Er wird nicht widerstehen können."

„Es muss ein Ort sein, den wir absichern können", warf Raphael ein, während seine Finger über den Flügelbogen seiner Gemahlin strichen. „Es darf keine weiteren Opfer mehr geben", stimmte Elena ihrem Erzengel zu, „wir könnten ein paar Jäger um Hilfe bitten. Sara stellt keine Fragen, wenn ich danach frage und es erweckt weniger Aufsehen, als eine Schar von Vampiren und Engeln."

Mit Sterblichen zusammenarbeiten? Eine solche Koalition hätte es in Europa niemals gegeben. Der Gildendirektor ihres Kontinents fürchtete Michaela viel zu sehr. Er war schwach, ganz anders als Sara Haziz. Diese Frau hatte es geschafft, dass Raphael ihr Zutritt zur Zuflucht gewährt hatte. Ohne zu zögern, hatte sie eines der mächtigsten Wesen der Welt bedroht, wenn es um ihre Familie ging, zu der auch Elena gehörte. „Welchen Ort schlägst du vor, Fährtensucher?", erkundigte sich der weibliche Erzengel.

„Der Hafen bietet sich an", erwiderte Dariel, während er sich lässig auf seinem Stuhl zurücklehnte, „im Morgengrauen treiben sich dort kaum Menschen herum. Illium und ich können unseren Kontaktleuten eine Warnung zukommen lassen. Wenn wir die Jäger miteinbeziehen, werden sich auch die Vampire fernhalten." Bestätigend nickte Elena.

„Es liegt an dir, Michaela", stellte Raphael mit seiner kristallklaren Stimme fest, „wenn du dich als Köder anbietest, können wir der Situation Einhalt gebieten, bevor der restliche Kader davon erfährt." Seine saphirblauen Augen waren kalt. Der Erzengel von New York konnte brutal sein, wenn sich jemand an Unschuldigen vergriff. Bilder der Opfer tauchten in Michaelas Kopf auf. Junges Leben einfach verschwendet. Ihre Macht brodelte wütend unter der perfekten Oberfläche: „So sei es."

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