Kapitel 10

803 63 0
                                    

Mit vom Wind zerzausten Haaren landete Michaela auf ihrem Balkon. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so frei gefühlt wie an diesem Abend. Immer war sie der Erzengel von Mitteleuropa und wurde auf Schritt und Tritt verfolgt. Ihr Leben fand in der Öffentlichkeit statt und doch verschanzte sie sich ständig hinter ihren schützenden Mauern.

Fliegen war ein Mittel zum Zweck geworden. Zum Spaß über den Himmel jagen? Den Wind an ihren Haaren ziehen lassen? Das konnte sich die Hohepriesterin von Byzanz nicht leisten, denn sie musste immer perfekt aussehen. Doch nicht in diesem Moment. Ihre Federn juckten, am liebsten wäre sie ewig weiter geflogen.

Elegant und mit höchster Präzision landete Dariel direkt in ihrem Blickfeld. Die Flügel bereits so eingezogen, dass sie keinen Blick darauf hatte werfen können. Kaum stand er sicher auf beiden Beinen, verneigte er sich tief vor ihr: „War meine Landung dieses Mal zu Eurer Zufriedenheit, Lady Michaela?"

Trotz der höflichen Anrede wusste sie, dass er nicht mit dem Erzengel in ihr sprach. Die Gewissheit darüber stieg, als er den Blick hob und sie das verschmitzte Grinsen auf seinen Lippen sah. Dieser Engel unterlief ihre Abwehr mit einer solchen Leichtigkeit, dass es sie beunruhigen sollte, doch stattdessen faltete sie die Flügel auf ihrem Rücken zusammen und legte den Kopf zur Seite. „Die Landung war ein wenig besser", der trockene Ton ihrer Stimme, brachte ihn beinahe zum Lachen.

Mit seinen katzengleichen Bewegungen trat der Fährtensucher auf sie zu. Seine Finger griffen nach einer Haarsträhne und spielten damit. Die türkisblauen Augen fesselten ihren Blick und machten sie völlig machtlos. „Ich gelobe zu üben bis meine Landungen Euch die Sprache verschlagen", die raue Stimme strich wie eine Liebkosung über ihre Haut. Von einer Sekunde zur nächsten zuckten bronzefarbene Blitze über ihre Flügel.

Fasziniert beobachtete Dariel das Schauspiel der in ihr steckenden Macht. Es sah nicht so aus, als würde sie es absichtlich tun. Ihre Federn leuchteten. Vorsichtig streckte er die freie Hand danach aus. „Dariel", Michaela klang unsicher, doch er ließ sich nicht beirren. Seine Finger strichen zärtlich über den empfindlichen Bogen ihres Flügels. Die Blitze sprangen auf ihn über, rasten durch seinen Körper und verletzten ihn doch nicht.

„Vertrauen, Mika", lächelnd trat er einen weiteren Schritt näher. Wieder fuhren seine Finger über ihren Flügel, bevor er die Hand auf ihre Hüfte legte. Türkisblau traf auf helles Grün. „Vertraust du mir?", erkundigte sich Dariel, während seine zweite Hand von ihren Locken abließ und stattdessen über ihre Wange strich.

Die Frage kam unerwartet und traf Michaela an einem wunden Punkt. Sie war nicht gut darin anderen zu vertrauen. Im Kader der Zehn wurde diese Eigenschaft als Schwäche angesehen und ein schwacher Erzengel überlebte nicht lange. Einem Mann hatte sie ohnehin noch nie vertraut. Dafür hatte es nie einen Grund gegeben. Bis zu diesem Moment: „Ich vertraue dir."

Seine Lippen trafen so plötzlich auf ihre, dass Michaela für einen Herzschlag erstarrte. Ihre Finger gruben sich in sein T-Shirt, während sie fast schon zaghaft ihre Mauern fallen ließ. Noch nie hatte ein Mann sie zuerst geküsst. Es war immer von ihr ausgegangen, denn dadurch hatte sie die Oberhand behalten, auch wenn ihre Partner das nicht alle bemerkt hatten. Doch Dariel ließ ihr nicht die Gelegenheit, in Gedanken zu versinken.

Vorsichtig vertiefte er den Kuss. Sie schmeckte wie der beste Honig, während ihm gleichzeitig wieder der schwere Geruch nach Rosen in die Nase stieg. Als Michaela aus ihrer Starre erwachte und mehr forderte, drängte er sie ein Stück zurück. Es schien sie zu frustrieren, dass er ihr nicht gehorchte, doch daran würde sie sich gewöhnen müssen. Langsam küsste er sie weiter.

Eine ihrer Hände wanderte in sein vom Wind zerzaustes Haar. Das darauf folgende Lächeln spürte sie direkt an ihren Lippen, gefolgt von seiner Zunge, die um Einlass in ihren Mund bat. Zu gern ließ Michaela es zu. Beinahe hätte sie aufgestöhnt, denn Dariel küsste sie so besitzergreifend, wie kein Mann es vor ihm je gewagt hatte.

Die unkontrollierten Blitze um ihre Flügel nahmen mit jeder verstreichenden Sekunde zu. Doch sie waren nicht gefährlich, zumindest nicht für ihn. Während ihre Zungen einander umspielten, legte sich seine Hand erneut auf ihren Flügelbogen. Mit einer absoluten Selbstverständlichkeit streichelte Dariel die bronzenen Federn und entlockte ihr damit ein Keuchen.

Michaelas Finger gruben sich tiefer in sein Haar und sein T-Shirt. Ihre Flügel drängten sich seinen Berührungen entgegen, auch das eine neue Erfahrung für den weiblichen Erzengel. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie die Kontrolle verlieren. Der Fährtensucher war gefährlich, genauso wie seine Zunge, die wieder und wieder über ihre strich.

Genauso plötzlich, wie der Kuss begonnen hatte, endete er. Mit einem Mal zog sich Dariel von ihr zurück. Beinahe hätte Michaela das Gleichgewicht verloren. Sie presste die Handflächen gegen die Außenmauer des Turms in ihrem Rücken. Was? Selbst ihre geistige Stimme klang atemlos.

Innerlich fluchend wandte sich der Fährtensucher von dem weiblichen Erzengel ab. Er hatte etwas wahrgenommen. Schwach und undeutlich, denn Michaelas Lippen auf seinen hatten ihn unvorsichtig werden lassen, doch da war ein Luftzug gewesen. Ohne zu zögern, warf er sich vom Turm und suchte den Himmel ab.

Am Ende war es die Erde, die Antworten für ihn bereithielt. Wie ein Pfeil raste Dariel auf den Boden zu. Einige der Vampire, die als Sicherheitskräfte um den Turm postiert waren, hatten sich bereits genähert und traten nun hastig zurück. Keiner wollte dem Fährtensucher in die Quere kommen, denn sie wussten, dass er einen beinahe so hohen Rang bekleidete wie Raphaels Sieben. Wenn er zu einem Tatort kam, hatten sie ihm zu gehorchen.

Er wollte dir wieder ein Geschenk bringen. Dariels Gewitterwolke in ihren Gedanken grollte vor Zorn. Er muss uns gesehen und sie dann einfach fallengelassen haben. Sie ist tot. Die Blitze um ihre Flügel verschwanden sofort. Ein weiteres junges Leben verschwendet. Michaela löste sich von der Wand des Turmes und trat an den Rand des Balkons. Du musst dir das nicht ansehen, Mika.

Als sie keine Sekunde später neben ihm landete, verriet nichts mehr, dass sie an diesem Tag mit ihm am Himmel Fangen gespielt hatte. Michaela war wieder der Erzengel von Zentraleuropa. Ihre bloße Anwesenheit ließ die Vampire einen weiteren Schritt zurücktreten. Nur Dariel fielen die leicht durcheinandergeratenen Haare und die vom Kuss geschwollenen Lippen auf. Du musst mich nicht beschützen, Fährtensucher.

Ihre hellgrünen Augen flogen über den grässlichen Anblick. Der Körper der jungen Frau war immer noch sterblich gewesen und Menschen zersplitterten, wenn man sie aus großer Höhe fallen ließ. Das Blut hatte sich in einem weiten Radius verteilt. „Mach deine Bilder", befahl der weibliche Erzengel mit kaltem Ton. Als Dariel ihr wenig später mit einer Geste zu verstehen gab, dass er fertig war, legte Michaela eine Hand auf die Tote. Sie verschwand in bronzenem Licht und mit ihr alle Blutspritzer.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now