Kapitel 6

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Jack führt mich in sein Zimmer. Wir sitzen auf seinem großen Bett. Keiner sagt was. Er hat aufgehört zu weinen. Am Ende bricht er das Schweigen, indem er sich räuspert.
"Ich finde es ist nur fair, wenn du alles genau bis ins kleinste Detail erfährst."
Ich stimme ihm mit einem Kopfnicken zu. Er atmet tief ein und beginnt zu erzählen.
"Justins Familie ist eine besondere Spezies. Sie sind nicht menschlich, aber das heisst nicht, dass sie böse sind. Wie bei den Menschen: Es gibt gute und böse von ihnen und Justins Familie gehört definitiv zu den guten. Genauso die von mir und die von den anderen Jungs. Bevor du einen weitern Schock bekommst, ja, wir sind auch keine Menschen. Die Sache ist die: Wir sehen aus wie ihr, altern genauso wie ihr, verbringen unsere Tage genauso wie ihr. Der einzige Unterschied ist, dass wir uns nicht so wie ihr ernähren. Wir trinken Blut. Komm jetzt bitte nicht mit den ganzen Vampirscheiß à la Twilight etc., wir sind keine Vampire. Wir ertragen Sonnenlicht, gehen im Sommer an den Strand und gegen Knoblauch haben wir auch nichts. Und wenn wir das Blut von jemandem zu uns nehmen verwandelt der sich nicht. Wir sind quasi psychokranke Menschen, die auf Blut stehen. Haha. Also deine Ururururgroßmutter hat mit Justins Ururururgroßvater einen sogenannten Vertrag abgeschlossen. Der Ehemann deiner Ururururgroßmutter war krank und Justins Opa hat ihr Hilfe angeboten, dafür musste sie aber das Blut des ersten weiblichen Nachkommens ihm versprechen. Und naja das bist du. Dein Ururururgroßvater war geheilt. Diese sogenannten Blutsammler schließen wann immer es geht diese Blutverträge ab, sie haben dann hunderte davon in Reserve und verteilen diese an ihre Nachkommen. Für Justin warst du an der Reihe und das Blutritual wurde gleich nach seiner Geburt durchführt mit irgendwelchen Zaubersprüchen. Bis zum 18. Lebensjahr spürt der Betroffene keinen Durst, aber Justin ist seit zwei Monaten 18..."
Wow, in was für eine Scheiße bin ich wegen meiner Ururururgroßmutter denn geraten? Irgendwie bin ich nicht sauer auf sie. Sie hat das für ihren Mann getan. Ich würde auch alles dafür tun, um eine geliebte Person zu retten.
Aber einige Unklarheiten sind da noch.
Ich wende mich an Jack.
"Was meinte Justin damit er würde nachts zu einem Monster werden?"
"Wenn der Dement, so heißt unsere Spezies, kein Blut bekommt, dann dreht er nachts durch. Er hat keine Kontrolle über seinen Körper und ist deshalb ziehmlich gefährlich. Justin ist wirklich sehr knapp bei Zeit. Er muss so schnell wie möglich trinken.."
"Und ihr?"
"Carly. Carlys Blut wurde mit dem von uns gebunden, weil ihre Vorfahren sehr viele Schulden bei den Blutsammlern hatten, diese konnten sie aber nicht bezahlen, weil Carly der
einzige weibliche Nachkommen ist. Zur Strafe muss sie mehrern Dementen ihr Blut geben."
"Ist das nicht gefährlich? Verliert sie nicht zu viel Blut?"
"Wir trinken keine Liter Kendra. Zwei, drei Schlückchen reichen vollkommen. Außerdem ernährt sie sich mit ganz viel Fleisch, das verhindert einen Eisenmangel."
Ich schaue ihn an und versuche zu lächeln. Jack kann nichts dafür. Ich kann nicht sauer auf ihn sein, außerdem ist er der einzige, dem ich hier vertrauen kann. Er nimmt mich in die Arme.
"Ich weiß das alles klingt total krank, aber so schlimm ist es gar nicht. Wir trinken ja nicht jeden Tag, sondern alle drei Tage. Kendra du darfst jetzt nicht gehen. Justin braucht dich."
Er drückt mich nocheinmal und steht dann auf.
"Du solltest jetzt lieber auf dein Zimmer gehen, damit du nocheinmal in Ruhe über alles nachdenken kannst."
Ich nicke, stehe auf und verlasse sein Zimmer. Aus der Küche strömen Essensgerüche. Carly hat Fleisch mit Kartoffeln gegessen. Ich nehme ein Stück mit auf mein Zimmer. Dort sitzt sie auf ihrem Bett und blättert mit ihren pink lakierten Nägeln durch eine Modezeitschrift. Als sie mich erblickt grinst sie, denn sie hat das Fleisch auf dem Teller entdeckt.
"Bisschen Blut aufbauen oder was?" kickert sie. Ich verdrehe meine Augen und setze mich an den Schreibtisch um das Essen zu verspeisen. Das Fleisch ist trocken und ziehmlich zäh. Kauend stelle ich ihr einige Fragen.
"Wie hast du reagiert, als du das alles erfahren hast?"
"Nicht besonders überrascht. Meine Familie hat viel Blut versprochen, meine Mum war auch Spenderin, so nennen sie uns also dich und mich. Sie hat mir erzählt, dass ich das auch bald machen müsse. Ich war also gut vorbereitet. Mein Vater hat mir auch alles genauer erzählt, warum sie das Blut brauchen usw."
"Dein Vater?"
"Jep, sie haben sich ineinander verliebt, geheiratet und mich gezeugt. Ich weiß was für ne Lovestory." Sie rollt die Augen als sie das sagt.
"Du hast wohl Probleme mit deinen Eltern?"
"Ja, es ist einfach nervig, dass sie mich alle zwei, drei Tage anrufen- ich mein ich kann auf mich aufpassen!"
"Du solltest sie schätzen, denn ehe man es denkt, sind sie nicht mehr da."
"Manchmal wünsche ich das...Ich mein ich habe sie lieb, aber sie schränken mich zu sehr ein."
"Glaub mir das willst du nicht." Ich habe plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Erinnerungen an meine Eltern tauchen auf... Unser Urlaub in Schweden, die Feiertage, die wir als Familie verbrachten. Ich kann mich nicht länger zurückhalten und lasse meinen Tränen freien Lauf.
Carly kommt auf mich zu, und umarmt mich, während sie ein leises "es tur mir leid" in mein Ohr flüstert. Ich sehne mich nach mehr. Ich brauche Zuneigung, Liebe eine vertraute Person, jemanden bei dem ich wohl fühle. Ich vermisse mein altes Leben. Ich vermisse die einfachen Tage, an denen ich mich über die Schule beschwert habe. Plötzlich fange ich an über mich selbst zu lachen - aus Wut. Ich war so dumm. Ich fand mein Leben immer langweilig, dabei war es das schönste was ich je hatte. Eine Familie. Ein einfaches Leben. Nun bin ich hier und bin überhäuft mit neuen Überraschungen. Carly fragt, ob ich etwas brauche. Nachdem ich ihr versichert habe, dass es mir gut geht, verlässt sie das Zimmer. Aber mir geht es gar nicht gut. Mir wird schwindlig. Es fühlt sich so an, als ob die Wände auf mich zukommen. Ich kneife die Augen zu. Aufhören! Alles soll aufhören! Plötzlich überfällt mich eine starke Müdigkeit und ich lasse mich in das große schwarze Loch fallen.

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