Kapitel 1

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Während der Autofahrt strich ich mit meinen Fingerspitzen über die glatte Oberfläche des Autositzes. In der Luft lag ein intensiver Ledergeruch. Ich war mir sicher, dass es sich bei diesem schicken Cabrio um einen Neuwagen handelte.
Das Auto war kein Vergleich zu unserer alten Schrottkiste.
Unseren alten Käfer nannten wir liebevoll Herbert, er wurde vor einigen Monaten auf dem Schrottplatz zu einem Würfel zusammengepresst, der Gedanke daran versetzte mir noch immer einen Stich.
Auch wenn Herbert eine Schrottkiste war, liebte ich ihn, er gehörte einfach zu uns. Ich seufzte.
»Was ist los Süße?«, fragte Mum.
»Ach, ich musste nur gerade an Herbert denken«
»Herbert ist jetzt im Autohimmel und da bin ich sehr froh drüber!«, sagte sie sichtlich erleichtert.
»Hast dafür ja jetzt auch einen schicken Bentley«, entgegnete ich und stieß ihr neckend den Arm in die Seite.
»Ja, mir gefällt mein Bob«, verkündete sie stolz.
Dass Mum ihrem neuen Auto wieder einen Spitznamen verpasst hatte, brachte mich zum Grinsen. Es war eine von Mums vielen Macken, Autos, Küchengeräten und Pflanzen verrückte Namen zu geben.
Ich sah rüber zu ihr und mir wurde zum ersten Mal richtig bewusst, wie sehr sie sich verändert hatte. Wie verdammt glücklich sie aussah. Das Glück stand ihr unglaublich gut, es ließ sie so viel jünger wirken.
»Du siehst sehr glücklich aus, Mum«, sprach ich das offensichtliche aus.
»Das bin ich auch, sehr sogar.«, antwortete sie mit einem verträumten Gesichtsausdruck. Ihrem Blick nach zu urteilen, war sie gedanklich schon wieder bei ihrem Freund Mark.
Die beiden hatten sich vor einem halben Jahr auf einer Party kennengelernt, auf der meine Mutter kellnerte. Nach nur drei Monaten haben sie sich verlobt. Immer wieder sagte sie mir, dass es Liebe auf den ersten Blick war.
Auch wenn sie aus komplett verschiedenen Gesellschaftsschichten kamen, hinderte das die Beiden nicht daran, sich ineinander zu verlieben.
Mark Williams war der CEO eines Millionen Unternehmens und gehörte zu den reichsten Menschen Londons. Meine Mum war im Gegensatz zu ihm arm wie eine Kirchenmaus. Nachdem mein Vater an Krebs gestorben war, als ich sechs Jahre alt gewesen bin, musste sie allein für unseren Lebensunterhalt aufkommen. Wir lebten in einer kleinen Wohnung in einem ärmlichen Stadtteil von London und Mum konnte uns nur mit mehreren Jobs über Wasser halten. Manchmal gab es Tage, an denen wir nicht einmal Strom hatten.
Das ist einer der vielen Gründe, warum ich es ihr von ganzem Herzen gönnte, dass sie jetzt keinen Finger mehr rühren musste und einen Mann hatte, der für sie sorgte und der sie liebte. Sie musste in ihrem Leben genug schuften und hatte es sich verdient, nur Hausfrau und Mutter sein zu können.
Selbst wenn sie wieder arbeiten gehen wollte, Mark würde das niemals zulassen. Er behandelte sie wie eine Königin und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Das behauptete zumindest meine Mum.
Ich selbst hatte bisher noch nicht die Möglichkeit Mark kennenzulernen, ich hatte ihn bisher nur auf Fotos gesehen. Der Grund dafür war, dass ich das letzte Jahr an einem Musikinternat in Paris verbracht hatte. Das Stipendium dafür hatte ich bei einem Musikwettbewerb gewonnen und ich war heilfroh darüber, da wir das Schulgeld niemals hätten aufbringen können. Mum zögerte daher nicht lange und meldete mich dort sofort an.
Auch wenn ich das Internat liebte, hatte ich mich dazu entschieden, mein letztes Jahr bevor ich aufs College ging, bei ihr in London zu verbringen.
»Wir sind Zuhause!« rief sie, und fuhr durch ein riesiges Tor, welches uns auf ein weitläufiges Grundstück führte.
Meine Augen weiteten sich, als ich die Umgebung um mich herum betrachtete.
Vor uns ragte eine riesige Villa auf, die durch ihren altmodischen Baustil eher an ein Schloss erinnerte.
»Mum, du hast nicht gesagt, dass wir jetzt in einem verdammten Schloss leben!« rief ich aufgeregt und deutete auf das beeindruckende Anwesen.
Sie lachte.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich bei Mark wie eine Königin fühle.«
»Ich dachte, das war metaphorisch gemeint«, piepste ich atemlos.
»Wart's nur ab, bis du das Haus von Innen siehst... Und dein Zimmer erst«, schwärmte Mum.
Als wir vor der großen Treppe, die zum Eingang führte, mit dem Auto zum Stehen kamen, eilte auch schon ein Mann, komplett in Schwarz gekleidet, die Treppen hinunter. Mir klappte die Kinnlade herunter und ich drehte meinen Kopf ruckartig in Mums Richtung.
»Ist das ein Butler?« quietschte ich.
Wieder musste sie lachen.
»Ja, das ist unser Butler, James«
»Das ist ja wie im Fernsehen!«, rief ich begeistert und musste bei einem Butler namens James direkt an Dinner for one denken
Ich stieg aus dem Wagen, während der Butler mir die Tür aufhielt.
James sah aus wie ein freundlicher Gentleman in den Fünfzigern, ich hatte im Gefühl, dass ich mich mit ihm wirklich gut verstehen würde.
Ich hielt James meine Hand hin, welche er sofort höflich ergriff.
»Freut mich Sie kennenzulernen James, ich heiße Melody.«, Ich lächelte.
»Freut mich ebenfalls, Miss Melody«, antwortete er höflich und erwiderte mein Lächeln.
"Miss" Melody, Wow, ich fühlte mich so, als wäre ich die Hauptdarstellerin in Plötzlich Prinzessin.
»James, seien Sie bitte so gut, und bringen Sie das Gepäck von meiner Tochter in ihr Zimmer«, bat meine Mutter.
»Natürlich Miss Davies, ich werde mich sofort persönlich darum kümmern«, Mit einer angedeuteten Verbeugung wandte er sich von uns ab und ging zum Kofferraum, um mein Gepäck zu holen.
»Wow... Mum, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, du hast im wahrsten Sinne des Wortes, den Sechser im Lotto gezogen.«, Das hatte sie wirklich, das alles fühlte sich noch immer ziemlich surreal für mich an.
»Ich weiß«, sie kicherte wie ein Schulmädchen. »Komm Schätzchen, ich führe dich ein bisschen rum und stelle dir Mark und Bryce vor, Mark freut sich schon so sehr dich endlich kennenzulernen«
Bryce. Den hatte ich schon fast vergessen. Mein Stiefbruder. Auf den war ich schon besonders gespannt. Ich wusste nicht viel über ihn, selbst sein Aussehen war ein Rätsel für mich, auf den gängigen social Media Kanälen habe ich ihn nicht gefunden und es kam mir komisch vor, Mum nach Fotos von ihm zu fragen. Das Einzige, was ich wusste, war, dass er 18 Jahre alt war und football spielte. Das war zugegebenermaßen nicht viel.
Meine Mum stieg die Treppen hinauf und öffnete die Haustür, ich folgte ihr.
Im Hausinneren angekommen, ließ ich meinen Blick durch den Eingangsbereich schweifen und mir stockte der Atem zum gefühlt hundertsten Mal. Dieses Haus glich einem Palast.
Ein weißer Marmorfußboden, hohe Decken und überall wo man hinsah, bekam man hochmoderne Kunst zu sehen, die Gemälde waren unglaublich. Ich blickte hinunter auf meine abgewetzten Chucks, die vor langer Zeit mal weiß gewesen waren. In dieser luxuriösen Umgebung wirkten sie genauso fehl am Platz, wie ich.
»Was ist denn los, Schätzchen?«, fragte Mum besorgt und riss mich damit aus meinen Gedanken.
»Nichts, ich muss mich nur erst an all das hier noch gewöhnen«, Mit einer Handbewegung deutete ich auf unsere Umgebung.
»Ich musste mich auch erstmal an den ganzen Platz und Luxus gewöhnen, aber das geht schneller, als man denkt«, Sie schenkte mir ihr liebevolles Lächeln und ich fühlte mich gleich ein bisschen besser.
»Karen?«, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme rufen.
»Na komm, ich stelle dir Mark vor«, Mum nahm meine Hand und führte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nach einigen Sekunden erkannte ich, dass es sich um die Küche handelte, zu der wir gingen.
Kaum hatten wir uns in Bewegung gesetzt, kam uns Mark entgegen.
Er hatte dunkelblondes, volles Haar, das teilweise schon ergraut war. Seine Augen waren strahlend blau und seine Wangen überdeckte ein leichter Bartschatten. Wäre er in meinem Alter, würde sein Aussehen definitiv auch meinem "Beuteschema" entsprechen. Für sein Alter war er ein wirklich attraktiver Mann. Er trug einen dunkelblauen Designeranzug mit braunen Lederschuhen. Sein Outfit sah teurer aus, als der gesamte Inhalt meines Kleiderschrankes.
»Da seid ihr ja schon, ich wusste doch, dass ich mich nicht getäuscht und Stimmen gehört habe«, begrüßte er uns herzlich und kam direkt auf uns zu.
Er ergriff meine Hand und ehe ich wusste, was mir geschieht, zog er mich an der Hand zu sich und gab mir links und rechts ein Küsschen auf die Wange.
»Es freut mich, dich endlich kennenzulernen. Karen hat mir schon so viel von dir erzählt«, Die Worte klangen ehrlich, weshalb ich ihn freundlich anlächelte.
»Freut mich ebenfalls, Sir«
»Nenn mich bitte Mark«
»Okay, dann freut es mich ebenfalls dich kennenzulernen, Mark«, Noch bevor ich den Satz zuende gesprochen hatte, vernahm ich ein lautes Schnauben. Ich erschrak und drehte mich ruckartig um.
Zum wiederholten Male fiel mir heute die Kinnlade herunter.
Vor mir stand der attraktivste Junge, den ich je gesehen hatte. Dunkelblondes, volles Haar, wie sein Vater. Sommersprossen, die sich über seine Nase und seine Wangenknochen verteilten. Und ich hatte eben gesagt, dass Mark strahlend blaue Augen hatte, aber die Augen des Jungen strahlten heller als die Sterne am Himmel. Sein stählerner Blick durchbohrte mich förmlich, weshalb ich den Blick von seinen eisblauen Augen abwandte. Stattdessen schaute ich an ihm herab und musste feststellen, dass er oberkörperfrei war und lediglich eine hellgraue Jogginghose trug. Ich schluckte schwer, als ich sein definiertes Sixpack betrachtete.
»Genug geglotzt, Schwesterchen?«, hörte ich plötzlich seine samtweiche Stimme im verächtlichen Ton fragen.
Ich riss meinen Blick von seinem muskulösen Oberkörper los und sah ihm zurück in die Augen. Sein Blick verriet mir, dass meine Anwesenheit ihm überhaupt nicht gefiel.
Er zog eine Augenbraue hoch und sah mich abwartend an. Es dauerte einige Sekunden, bis ich schließlich meine Stimme wiederfand.
»Ich habe doch gar nicht... Ich meine, ich wollte doch...«, stotterte ich vor mich hin.
Bryce sinnliche Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.
»Das reicht jetzt, Bryce!«, sagte Mark schließlich in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Bryce schnaubte bloß und lief an mir vorbei Richtung Kühlschrank. Als er an mir vorbeiging, stieg mir sein frischer Duft in die Nase. Ich hätte fast die Augen geschlossen und geseufzt, wenn ich nicht so fuchsteufelswild gewesen wäre. Was bildete sich dieser arrogante Schnösel eigentlich ein?
Ich wollte gerade etwas zu ihm sagen, als Mum mir eine Hand auf die Schulter legte.
»Komm Schätzchen, ich zeig dir dein Zimmer«, Sie lächelte mich entschuldigend an und auch auf Marks Gesicht war ein bedauernder Ausdruck zu sehen. Scheinbar war Bryces mies gelauntes Verhalten keine Seltenheit.
»Wir unterhalten uns beim Abendessen weiter«, sagte Mark.
Ich seufzte, nickte aber und folgte Mum aus der Küche.
Als ich noch mal einen Blick zurück in die Küche warf, lag Bryce Blick auf mir und er sah mich mit so viel Verachtung an, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Ich wandte schnell den Blick ab und schloss wieder zu Mum auf. Außerdem fragte ich mich, was ich getan hatte, dass er mich jetzt schon nicht leiden konnte, ohne mich überhaupt zu kennen.

»Hier ist dein Zimmer«, Mum deutete auf die Tür zu meiner Linken.
»Direkt gegenüber von Bryces Zimmer«
»WAS?«, rief ich eine Spur zu schrill. Sie musterte mich sichtlich verwirrt.
»Ich dachte, so würdet ihr euch vielleicht schneller besser kennenlernen«, sagte sie, als würde das irgendeinen Sinn ergeben.
»Mum, dieses Haus ist riesengroß und du steckst mich ausgerechnet in das Zimmer, das direkt gegenüber von seinem liegt??«, fragte ich und warf ihr einen ungläubigen Blick zu.
»Bryce kann mich doch jetzt schon nicht leiden, obwohl er mich noch gar nicht kennt«, fügte ich noch verzweifelter hinzu, als beabsichtigt.
»Ach Schätzchen, Bryce hat den Tod seiner Mutter noch immer nicht ganz verarbeitet, er kann aktuell niemanden leiden, das ist nicht gegen dich persönlich gerichtet.«
Bryce Mutter hatte vor drei Jahren Selbstmord begangen, daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen und bekam Mitleid mit Bryce, ich hatte wahrscheinlich nicht Mal die geringste Ahnung davon, was er alles durchmachen musste. Ich seufzte.
»Dann wird es dir wahrscheinlich auch nicht gefallen, dass du dir mit ihm ein Badezimmer teilen musst, oder?«, Mum Kniff gequält die Augen zusammen, als hätte sie ein wenig Angst vor meiner Reaktion.
»MUM, das ist doch nicht dein Ernst!«, rief ich völlig außer mir. »Ich kann mir doch kein Badezimmer mit einem Wildfremden teilen!«, nach diesem Worten prustete meine Mutter lauthals los.
»Was ist daran denn lustig??«, fragte ich ungläubig.
»Das war nur ein Scherz, natürlich hast du dein eigenes Badezimmer.« Ich verengte meine Augen zu schmalen Schlitzen.
»Ganz schlechter Zeitpunkt zum Witze machen, Mum«
»Entschuldige Schätzchen, ich konnte es mir einfach nicht verkneifen... Bist du jetzt bereit, dein neues Reich zu sehen?«, Ohne auf meine Antwort zu warten, zog sie die Tür auf und damit die Tore zu meinem persönlichen Paradies.
Ich konnte kaum glauben, was ich dort zu sehen bekam.
»Wow! Das ist... Das Zimmer ist wunderschön«, Das Zimmer sah aus, als stamme es geradewegs aus einem Katalog.
An der großen Wand gegenüber von der Tür, stand ein riesiges Kingsize Bett, welches mit gefühlt tausenden von Kissen und einer wunderschönen Tagesdecke dekoriert worden war.
Links und rechts davon stand jeweils ein verspiegelter Nachtschrank mit großer Lampe darauf. Alle Möbel im Raum waren verspiegelt: der Schminktisch, die Kommoden, die Bücherregale. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
»Du hast mir immer wieder erzählt, wie gerne du diese verspiegelten Möbel magst, deswegen habe ich direkt nach dem Einzug eine Innenarchitektin damit beauftragt«, erklärte Mum und beobachtete meine Reaktion.
Ich wusste gar nicht, was ich mir zuerst ansehen sollte. Meine Augen sprangen förmlich von links nach rechts durch den Raum.
»Danke, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, es ist schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können«, ich schlang meine Arme um sie und drückte sie fest an mich.
»Freut mich, dass es dir gefällt«, sie lächelte. »Was hältst du davon, wenn ich jetzt runter gehe und mich ums Abendessen kümmere? In der Zeit kannst du in Ruhe deinen Koffer auspacken und dich umsehen«
»Klingt gut.«
»Nach dem Essen setzen wir die Haustour fort, ja?«
Ich nickte. »In Ordnung«
Nachdem sie mein Zimmer verlassen hatte, ließ ich mich rückwärts auf das Bett fallen. Sofort versank ich in der weichen Matratze und seufzte zufrieden.
Ich hoffte, ich würde nicht gleich aufwachen und das alles war nur ein Traum. Vor allem aber hoffte ich, dass Bryce kein Traum war. Oh mein Gott. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Ich stöhnte frustriert und schlug mir die Hände vors Gesicht. Dennoch hatte ich die stille Hoffnung, dass ich irgendwann noch aus ihm schlau werden würde. Ebenso aber hatte ich die Befürchtung, dass Bryce es mir alles andere als leicht machen würde.

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⏰ Last updated: Jun 28, 2020 ⏰

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The Melody of Bryce Where stories live. Discover now