Angekommen

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Thomas Reifent erwachte schweißgebadet. Er wusste nicht mehr, ob er oder der Mann aus seinem Traum geschrien hatte. Noch nie hatte er einen Traum erlebt, der sich nicht um ihn drehte oder er wenigsten als Beobachter auftrat. Er schaute auf den Wecker. Es war erst 5:30 Uhr. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Also stand er auf und ging in das Bad. Mit kaltem Wasser das Gesicht waschend, versuchte er dem Traum zu entfliehen. Es half jedoch nicht viel. Als er in den Spiegel schaute, fiel sein Blick auf das Medaillon. Ohne jeden Zweifel, es war das gleiche messingfarbene Amulett wie im Traum. Nicht so abgewetzt, die Symbole mit schwarzer Farbe unterlegt aber ohne Frage das gleiche Medaillon! Ihm wurde schwindlig. Der Trauminhalt wurde wieder mit aller Macht gegenwärtig. Er klammerte sich an das Waschbecken, um den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Nach einer Weile ließ das Gefühl nach. Mit noch weichen Knien ging er in Küche um einen Kaffee zu trinken. Während das Kaffeewasser noch durchlief, überlegte er, wie er der Unwirklichkeit des Traumes entfliehen konnte.

Gleichmäßig verrichtete die Maschine ihre Arbeit. Der Motor war nach den gut 20 Kilometer warm und konnte jetzt einiges vertragen, dachte er. Er hatte die Auffahrt zur Autobahn erreicht und legte sich in die Kurve um auf den Beschleunigungsstreifen zu schwenken. Ein Blick zur Seite verriet ihm dass etwa auf gleicher Höhe ein Lkw fuhr. Unter seinem Helm lächelte er. Nichts war besser um dem Alltag oder unliebsamen Gedanken zu entfliehen als eine kurze Motorradtour. Mit dem Aufrichten aus der Kurve schaltete er einen Gang zurück und drehte den Beschleunigungsgriff nach hinten. Brachial erwachte der Motor aus seinem Dämmerzustand. Für einige Sekunden, als die plötzlichen Beschleunigungskräfte das Hinterrad nach vorne trieben, verlor das Vorderrad den Bodenkontakt. Er hatte das Gas genau dosiert. Das Vorderrad setzte sanft wieder auf den Asphalt auf. Der Lkw war verschwunden, irgendwo weit hinter ihm. Der Drehzahlmesser verriet ihm, dass er sich den 10000 Umdrehungen pro Minute näherte. Zeit zu schalten. Auch den nächsten Gang zog er voll aus. Die Landschaft flog an ihm vorbei. Als er in den letzten Gang schalteten wollte, näherte er sich der 180 km/h. Er zog den Kupplungshebel. Wieder durchfuhr ihn ein stechender Schmerz in dem linken Unterarm. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, doch dabei verschaltete er sich und verlor die Kontrolle über die Maschine. Das Hinterrad blockierte und die Maschine stellte sich quer.
Bremsen hatte keinen Sinn mehr, die Beschleunigung trieb das Motorrad weiter quer zur Fahrbahn. Er versuchte verzweifelt die Maschine auf die Seite zu drücken. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß er sich von der Maschine weg. Das Motorrad fing an sich zu überschlagen. Er selbst drehte und rutschte über den Asphalt. Er streckte seine Arme und Beine aus, um ein wenig Kontrolle über seine Richtung zu erlangen. Das letzte was er sah, war die Leitplanke, die mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam. Er schloss die Augen.

*

Ein gleichmäßiges Piepsen sickerte in sein Bewusstsein. Wie einem lästigen Insekt das auf ihm zu kroch.
Piep!
'Geh weg!'
Piep!
Piep!
Piep!
'Nein, geh weg!'
Piep!
Lauter, es wurde immer lauter! Er versuchte zu schreien und riss die Augen auf. Nur ein Krächzen kam über seine Lippen, zugleich strömte weiches Licht auf ihn ein. Er war orientierungslos und versuchte sich zu erinnern. Jemand beugte sich über ihn. Er versuchte etwas zu sagen. Erneut kamen nur unverständliche Laute dabei heraus.
"Versuchen sie nicht zu reden und bleiben sie ruhig liegen. Sie hatten einen Unfall aber es kommt alles wieder in Ordnung."
Er entspannte sich ein wenig und schloss erneut die Augen.
"Eine zeitlang stand es nicht gut um sie, aber nun sind sie über den Berg und bald auch wieder auf den Beinen."
Immer noch wollte die Erinnerung nicht einsetzten. Auf seinem Brustkorb fühlte er die Kühle des Medaillons. Sonst war es warm. Dann, mit aller Macht, drängte das Erlebte in das Bewusstsein!
Das Amulett, der Traum, die Maschine und der Unfall!
'Mein Gott, wie bin ich an der Leitplanke vorbei gekommen? Leitplanken bedeuten immer Verstümmelung!'
Hastig versuchte er seine Finger und Zehen zu bewegen. Links, Rechts, wie immer. Er wurde wieder ruhiger und schloss für einen Moment die Augen.
"Guten Tag, ich bin Professor Demeer. Sie hatten großes Glück."
Er öffnete wieder die Augen.
"Unser Med-Team hatte seine liebe Mühe sie wieder zurück zu den Lebenden zu holen. Sie hatten schwerste Verbrennungen, ihr linker Arm war ehr abgetrennt als dran, ihr Brustkorb eingedrückt und beide Beine mehrfach mit komplizierten Splitterbrüchen gebrochen.
Ich verstehe einfach nicht, wer die Genehmigung zum Wiedereintritt des Orbiters erteilt hatte. Wahrscheinlich hat ein wichtiges Vorstandsmitglied eine hübsche Summe springen lassen.
Übrigens, ihr Firmenkonsortium hat sich mehrfach nach ihrem Zustand erkundigt. Alle erforderlichen Behandlungen wurden genehmigt und die entstanden Kosten anstandslos beglichen. Wir hatten sie vier Wochen in der Hiebernation. Gratuliere, soviel Glück hat nicht jeder, Herr Reifent."
Er schloss die Augen. Für einen Augenblick war alles verwirrend. Dann folgte Klarheit!
'Natürlich, bezahlen sie alles, die finden kaum Leute, die diese verfluchte Route fliegen.'


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