Dariel nickte. Sie hatte recht. Es würde den heimlichen Verehrer hellhörig machen, wenn Raphaels Fährtensucher, den Erzengel von Zentraleuropa begleitete. „Ich halte mich im Hintergrund. Niemand wird wissen, dass ich anwesend bin", versprach er. Niemand außer dir, fügte er in seinem Kopf hinzu, achtete jedoch darauf, dass dieser Gedanke nicht zu ihr durchdrang.











Alle Engel auf der Liste zu besuchen nahm einen ganzen Tag in Anspruch und erwies sich als unergiebig. Keiner hatte sich verraten. Selbst mit seiner besonderen Gabe als Fährtensucher war es Dariel nicht gelungen, eine Spur aufzunehmen. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen, denn die Ungeduld des weiblichen Erzengels war beinahe mit Händen greifbar.

Der Himmel färbte sich langsam rot, als Dariel über Michaela durch die Luft zurück in Richtung Turm glitt. Sie hatte an diesem Tag kein einziges Mal versucht, seine Flügel zu sehen. Von der Frau hinter der Mauer war nichts mehr zu erkennen. Das frustriert den Fährtensucher zutiefst. Am liebsten hätte er sich sofort auf sie gestürzt, um eine Reaktion zu provozieren.

Warum eigentlich nicht? Er klappte seine Gewitterwolken-Flügel zusammen und rauschte auf sie zu. Grinsend streckte er die Hand aus. Seine Finger schlossen sich zielsicher um die Spange, die ihre Locken den ganzen Tag gefangen gehalten hatte und befreiten diese. Er hörte Michaela nach Luft schnappen, fuhr sanft durch ihre Federn und raste davon.

Ohne zu zögern, beschleunigte der weibliche Erzengel das Flugtempo und hetzte hinter dem Fährtensucher her. Wieder einmal lachte Dariel. Michaelas Haare flatterten im Wind, während sie sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Höhe katapultierte. Kurz bevor sie ihn erreichte, rollte er sich zur Seite und verschwand hinter einem Hochhaus.

Gewitterwolken grollten in ihrem Kopf. Er war wieder da und hatte ihre geistige Abwehr erneut unterwandert. Gekonnt flog sie eine Kurve, stieg höher und ließ sich fallen, doch Dariel war verschwunden. Keine Sekunde später glitten seine Finger über einen ihrer Flügel und jagten einen Schauer ihre Wirbelsäule entlang. Michaela drehte sich um, doch er tat es ihr gleich. Diesmal streichelte er den anderen Flügel: „Zu langsam, Mika."

Da war er wieder! Dieser lächerliche amerikanische Spitzname! Noch nie hatte es jemand gewagt, sie nicht mit ihrem vollen Namen oder einem ihrer Titel anzusprechen. Dariel bewies damit einmal mehr, dass er nicht mit dem Erzengel spielte, sondern mit der Frau hinter der Maske. In all den Jahren war er der erste Mann, der sie entdeckt hatte.

Wieder drehte sie sich und wieder glitt er gerade rechtzeitig an ihr vorbei. Die Flügel zusammengefaltet schoss Dariel dem Boden entgegen. Sein Lachen in ihrem Kopf folgte sie ihm. Er war schnell, doch sie war ein Erzengel. Ihre Finger glitten durch das Grau seiner Federn: „Gefangen!"

Im gleichen Moment öffnete Michaela ihre Schwingen zur Gänze. Der Fall bremste abrupt ab. Andere, schwächere Engel hätten sich vielleicht die Sehnen und Muskeln gezerrt oder sogar gerissen, doch sie rollte sich elegant ab und stieg wieder dem Himmel entgegen.

Eine größere und beeindruckendere Machtdemonstration hätte sie in seinen Augen nicht geben können. Dariel hatte sich im Flug gedreht und ihr Manöver genau beobachtet. Dabei war ihm auch das verspielte Lächeln auf ihren vollen Lippen nicht entgangen. Elena hatte recht. Michaela war gefährlich. Mächtig, wunderschön und so voller Geheimnisse, dass er ihr nicht widerstehen konnte.

Eilig flog er eine Kurve. Die Luftströmungen zwischen den Hochhäusern nutzend näherte sich der Fährtensucher seiner Beute an. Gibst du auf? Der Geruch von Rosen und Honig schob sich vor seine Sinne. Niemals! Ohne zu zögern, machte er eine Kurve, schoss in die Höhe und versperrte ihr den Weg.

Beinahe wären sie in der Luft kollidiert, wenn Michaela nicht augenblicklich reagiert hätte. Mit weit ausgebreiteten Flügeln bremste sie ab und hielt wenige Zentimeter vor ihm an. „Ich hätte dich verletzen können!", fauchte sie, das Lächeln war vollends von ihrem Gesicht verschwunden. Das schiefe Grinsen auf seinen Lippen löste in ihr das Bedürfnis aus, ihm einen kräftigen Stoß gegen die Brust zu verpassen.

Obwohl Dariel stark war, wusste er, dass es ihn deutlich mehr Kraft kostete, in der Luft zu schweben, als es bei ihr jemals der Fall sein würde. Die Tatsache, dass sie ein Erzengel war, sollte ihm zu denken geben, doch das tat sie nicht. Grinsend streckte er die Hand aus und schlang sich eine ihrer Locken um die Finger. Schwarz, Braun und Kupfer konnte er in dieser einen Strähne erkennen. Sie faszinierte ihn. „Du würdest mich niemals absichtlich verletzen. Ich vertraue dir, Mika."

Für einen Moment sah sie ihn völlig entgeistert an. Er hatte ihr nicht nur einen Spitznamen verpasst, sondern auch die angemessene Höflichkeitsform fallen gelassen. Als Erzengel sollte sie ihn sofort zurechtweisen, doch die Frau in ihr hielt sie zurück. „Zu viel Vertrauen kann gefährlich sein", stellte Michaela mit rauer Stimme fest. Seine türkisblauen Augen zuckten von ihren Haaren zu ihrem Gesicht. Wieder schien er mehr zu sehen, als gut für ihn war.

Würde sie sich wieder verschließen? Der weibliche Erzengel blieb ihm ein Rätsel, doch Dariel war nicht zum Fährtensucher geworden, weil er leicht aufgab. Vorsichtig kam er einen Flügelschlag näher. Immer noch spielten seine Finger mit ihrer Haarsträhne. „Du würdest mein Vertrauen nicht missbrauchen", warf er grinsend ein, „aber ich das deine." Stille, die nur von den kaum hörbaren Geräuschen ihrer Flügel durchbrochen wurde. Mit dem Zeigefinger tippte Dariel auf Michaelas Nasenspitze: „Hab dich!"

EngelsfährteWhere stories live. Discover now