Kapitel 8

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Ungeduldig ging Michaela auf ihrem Balkon auf und ab. Ihre Federn knisterten unter ihrer überschüssigen Energie. Der Stoff der figurbetonenden Bluse rieb über die Stelle, an der ihre Flügel aus dem Körper wuchsen. Natürlich tat das jedes Kleidungsstück, das nicht ihren Rücken freiließ, doch für gewöhnlich störte es sie nicht.

Die Absätze ihrer hohen Schuhe machten bei jedem Schritt ein leises Geräusch. An diesem Tag war sie wieder ganz Michaela, der Erzengel von Zentraleuropa. Zumindest äußerlich war sie ruhig und gelassen, denn in ihrem Inneren rang sie mit dem Verlangen, ihre Macht einzusetzen, um auf der Stelle mit Dariel zu sprechen. Mit ihr will ich spielen, Mika. Beinahe wäre ihr ein frustriertes Stöhnen entwichen.

Warum wollte ein Teil von ihr wissen, wie es wäre mit dem Fährtensucher zu spielen? Warum war er am vergangenen Abend einfach verschwunden? Warum war die Verbindung zwischen ihren Gedanken abgerissen? Warum gelang es diesem Engel, sie derart aus der Fassung zu bringen? Warum ...

„Lady Michaela", seine raue Stimme strich über ihre Haut, wie seine Finger am vergangenen Abend über ihre Federn gefahren waren. Wieder zuckten Blitze über ihre Flügel. Betont langsam drehte sich der weibliche Erzengel zu dem Fährtensucher um: „Du hast mich warten lassen." Ihre Stimme war kalt und distanziert, nichts daran erinnerte an den verspielten Umgang der letzten Nacht.

Türkisblaue Augen musterten den weiblichen Erzengel. Michaela hatte ihre Mauern wieder hochgezogen. Vielleicht war es besser so, dachte Dariel. „Verzeiht mir. Ich habe mit Elena trainiert und die Zeit aus den Augen verloren." Mit einem Mal stand sie direkt vor ihm und bohrte ihren Zeigefinger in seine Brust: „Du hast mir deine volle Aufmerksamkeit zugesichert. Ich erwarte, dass du dich an deine Seite der Vereinbarung hältst, sonst könnte ich vergessen, dass ich Raphael mein Wort gegeben habe, dich nicht zu töten."

Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung brannte es, als bronzefarbene Funken von ihrer Hand auf seine Brust übersprangen. Michaela demonstrierte ihm ihre Überlegenheit, jedoch ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Wenn sie darauf hoffte, dass er nun einen Rückzug machen würde, hatte sie sich jedoch getäuscht. Stattdessen schloss Dariel die Finger um ihr Handgelenk. Sofort kribbelte seine Handfläche unter ihrer Energie, doch er ließ sich nicht beirren. Er hob ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf: „Ihr habt meine volle Aufmerksamkeit, Lady Michaela."

In letzter Sekunde fing sich der weibliche Erzengel, bevor ihr der Mund aufklappen konnte. Ihre Haut brannte an der geküssten Stelle. „Es ...", Michaela räusperte sich, „es freut mich, dass wir uns in diesem Punkt einig sind." Obwohl sie es hätte tun sollen, zog sie ihre Hand nicht weg. „Ich habe die Liste fertig", murmelte sie, ohne den Blick von seinen Augen zu lösen.

Schließlich war es Dariel, der den Kontakt abbrach. Er nahm wieder die Haltung eines Kriegers ein: „Zeigt sie mir." Ein Befehl, doch zu seiner großen Überraschung folgte ihm Michaela. Sie trat rückwärts in ihre Suite und wandte sich ab, um zu dem niedrigen Tisch vor dem Sofa zu gehen. Der Fährtensucher folgte ihr, ganz fokussiert darauf, einen Blick hinter die schützende Mauer zu werfen.

Michaela ließ sich auf dem bequemen Sofa nieder und griff nach einem Papier. „Alle Namen meiner Engel, die sich zu den Tatzeitpunkten sowohl in Budapest als auch in New York befunden haben", sie reichte das Dokument weiter an Dariel, der augenblicklich die Informationen durchsah.

Keiner der Namen sprang dem Fährtensucher ins Auge. Alle Engel auf dieser Liste waren Mittelmaß und hatten sich bisher nichts zu Schulden kommen lassen. Dennoch speicherte er jeden einzelnen Namen in seinem Kopf ab. „Wir werden mit jedem von dieser Liste sprechen müssen", warf er ein, ohne dabei aufzusehen, „gibt es einen Grund, den Ihr für ein Treffen nennen könntet?"

Das Rascheln ihrer Flügel zog seine Aufmerksamkeit magisch an. Michaela hatte sie für einen Moment gestreckt und nun bogen sich die Spitzen auf dem Sofa in eine Richtung. Ein solcher Haltungsfehler würde einem Engel ihres Alters niemals unbeabsichtigt unterlaufen. „Ich werde bei jedem einen Grund finden, aber sie dürfen dich nicht sehen", stellte der weibliche Erzengel klar.

EngelsfährteWhere stories live. Discover now