KAPITEL 01 | CHARLIE

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Es gibt nichts, was ich mehr verabscheue als Regen. Egal, ob es nieselt oder strömt, ob draußen Temperaturen von fünf oder dreißig Grad herrschen, ich kann ihn einfach nicht leiden. Sommerregen ist meiner Meinung nach am schlimmsten.

Und genau den gibt es hier in Texas.

Genauer gesagt in New Falcon, einem Dorf, in das sich niemand absichtlich verirren würde, was auch erklärt, warum hier nicht mehr als zweihundert Menschen leben. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto langsamer fährt meine Mom Dads alten Jeep, den er uns vor sechs Jahren hinterlassen hat. Ungeduldig kaue ich an meinen Fingernägeln herum, was eine dumme Angewohnheit von mir ist, die ich einfach nicht ablegen kann. Meine Ungeduld kommt jedoch nicht daher, dass ich mich auf den Urlaub auf der Westwood Farm freue. Im Gegenteil. Ich kann es eigentlich kaum erwarten, in drei Monaten wieder nach Hause zu fahren und jedem hier den Mittelfinger zu zeigen.

Ursprünglich sollte ich nämlich mit meinem Freund Owen und meiner besten Freundin Brenna am Strand in Italien liegen, mich von der Sonne küssen lassen und tonnenweise Eis, Pizza und Pasta in mich hineinstopfen. Stattdessen wurden all meine Urlaubspläne gecancelt, damit wir mitten im nirgendwo auf einer uralten Farm den ganzen Sommer lang mithelfen können.

Womit ich natürlich überhaupt nicht einverstanden bin.

»Griffin und Addison können jede erdenkliche Hilfe gebrauchen, Charlotte«, hat Mom gesagt, als sie vor zwei Tagen meinen Urlaub in Italien kaltblütig niedergetrampelt hat. »Die Westwoods sind nämlich kurz davor, die Farm zu verkaufen.«

»Wer zur Hölle sind die Westwoods und was habe ich mit ihren Problemen zu tun?«, war das Einzige, was ich erwiderte, obwohl ich die erste Frage selbst beantworten konnte.

Daraufhin hat Mom aufgegeben, nett zu erklären, dass meine Urlaubspläne ins Wasser fallen. Sie hat einen Koffer geholt und gesagt, ich solle anfangen zu packen.

Und weil ich ihn aus dem Fenster geschmissen habe, nachdem sie das Zimmer verließ, musste ich als Strafe den Koffer mit meinem kleinen Bruder Artie teilen. In den passten nicht einmal die Hälfte der Klamotten, die ich ursprünglich mitnehmen wollte, hinein. Der Platz reichte geradeso für meine Fotokamera, die ich mit Leib und Seele hüten würde, wenn jemand nur versucht, sie mir wegzunehmen.

Seit vielen Jahren fotografiere ich. Meiner Meinung nach gibt es nichts Schöneres, als in einem flüchtigen Moment ein Bild vor Augen zu haben und es in einem Schnappschuss festzuhalten. Am liebsten drucke ich es als Polaroidbild aus und hänge es irgendwo in meinem Zimmer auf – auch wenn meine Wände mittlerweile schon vollkommen zugeklebt sind. Manche Fotos teile ich auf meinem Blog, um Verbesserungsvorschläge und reichlich Komplimente anzunehmen, die mich jedes Mal aufs Neue motivieren. Nur die schönsten Bilder teile ich nicht mit meiner Community – die teile ich nur mit mir selbst.

Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich drei Monate lang an Mom und Artie gebunden bin, die neuerdings einem Selbstaufopferungsprogramm beigetreten sind. Anders kann ich mir nämlich nicht erklären, warum sie den Westwoods helfen wollen.

Plötzlich stupst mich mein kleiner Bruder an, weshalb ich genervt meine Kopfhörer abnehme. »Was willst du?«

Normalerweise ist er die einzige Person auf dieser Welt, an der ich meine Launen nicht auslasse, aber heute bin ich besonders gereizt.

»Denkst du, da sind auch Kinder wie ich?«, fragt er und reißt mich damit endgültig aus meinen Gedanken. Seine ohnehin schon großen Augen weiten sich noch ein wenig mehr. Artie hat die grünen Augen von Dad und die blonden Haare von Mom geerbt. Ich hingegen habe die hellbraunen Augen von Mom und die schwarzen Wellen von Dad abbekommen.

Trotzdem sehen wir uns extrem ähnlich, auch wenn er das nicht gerne hört.

Ich seufze. »Mom hat doch erzählt, dass die Westwoods einen Sohn haben. Vielleicht ist er ja in deinem Alter?«

Zwischen Sonne und Regen (Leseprobe)Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz